Von Abgeschiedenheit 1

vab
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von abegescheidenheit
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Fragmenttexte der Hss. Ba2 und B4

s. 2010
Edition
Filiation
Beschreibung
Echtheit


f. 195r

f. 211r

Papierhandschrift, 1465,
Prag, Nationalbibliothek
Cheb MS. 45/330 (9)

© Miloš Dostál, Nationalbibliothek Prag

Überschriften

Von abegescheidenheit (Do2, P2)
Von der abgescheidenheit (Dau)
Von warer Abgescheidenheitt (B18)
Von der Abgeschaidenhait ain schons püchel (Bu)
Von abgeschaidenhait wie sy sey/(sey] ist M25, M26) v(e)ber ander (ander] all a. M26) tugent daz vindest/
du hye her nach geschriben (daz bis geschriben] etc. M25 fehlt M26) M23, M25, M26
Von dem lob der Abgeschaidenhait fúr annder tugend vnd vber (Mai7)
Eyne/gu(e)te predige von der abegescheidenheit (Kn3)
Dis nach geschriben (nach g. fehlt St5) ist ein/gu°te lere (bredige St5) von eime abge-/
scheiden (von abgescheidenem St5) vnd vol lomen (vnd v. k. fehlt St5) leben (Mai9, St5)
ain gute ler/von abgeschaidenhait (Gö1)
Welches die hochste vnd/die peste tugent sie/Emvlamini carismata meliora Ir sult minnen die aller besten gaben gottes (N4)
[DW 5, S. 401 - außer Bu]

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Ich hân der geschrift vil gelesen
Die lêrære lobent die minne grœzlîche
Die meister lobent ouch dêmüeticheit vür vil ander tugende
Nû möhte ein mensche sprechen
Ich lobe ouch abegescheidenheit vür alle barmherzicheit
Ein meister heizet Avicenna
Nû maht dû vrâgen
Nû solt dû wizzen
Nû möhte ein mensche sprechen (der Türangelvergleich)
Nû vrâge ich hie
Nû vrâge ich aber
Wer nû volkomener abegescheidenheit adel und nutz merken welle
Nû merket, alle vernünftigen liute!
Nû merket, alle vernünftigen menschen!
- 1

von abegescheidenheit 1

  Ich hân der geschrift vil gelesen, beidiu von den heidenischen meistern und von den wîssagen und von der alten und niuwen ê, und hân mit ernste und mit ganzem vlîze gesuochet, welhiu diu hœhste und diu beste tugent sî, dâ mite der mensche sich ze got allermeist und aller næhest gevüegen müge und mit der der mensche von gnâden werden müge, daz got ist von natûre, und dâ mite der mensche aller glîchest stande dem bilde, als er in gote was, in dem zwischen im und gote kein underscheit was, ê daz got die crêatûre geschuof. Und sô ich alle die geschrift durchgründe, als verre mîn vernunft erziugen und bekennen mac, sô envinde ich niht anders, wan daz lûteriu abegescheidenheit ob allen dingen sî, wan alle tugende hânt etwaz ûfsehennes ûf die crêatûre, sô stât abegescheidenheit ledic aller crêatûren. Dar umbe sprach unser herre ze Marthâ: 'unum est necessarium', daz ist als vil gesprochen: Marthâ, wer unbetrüebet und lûter welle sîn, der muoz haben einez, daz ist abegescheidenheit.

  Ich habe viele Schriften gelesen sowohl der heidnischen Meister wie der Propheten, des Alten und des Neuen Testaments, und habe mit Ernst und mit ganzem Eifer danach gesucht, welches die höchste und die beste Tugend sei, mit der sich der Mensch am meisten und am allernächsten Gott verbinden und mit der der Mensch von Gnaden werden könne, was Gott von Natur ist, und durch die der Mensch in der größten Übereinstimmung mit dem Bilde stände, das er in Gott war, in dem zwischen ihm und Gott kein Unterschied war, ehe Gott die Kreaturen erschuf. Und wenn ich alle Schriften durchgründe, soweit meine Vernunft es zu leisten und soweit sie zu erkennen vermag, so finde ich nichts anderes, als daß lautere Abgeschiedenheit alles übertreffe, denn alle Tugenden haben irgendein Absehen auf die Kreatur, während Abgeschiedenheit losgelöst von allen Kreaturen ist. Darum sprach unser Herr zu Martha: 'Unum est necessarium' (Luk. 10,42), das besagt so viel wie: Martha, wer unbetrübt und lauter sein will, der muß Eines haben, das ist Abgeschiedenheit. - 2

  Die lêrære lobent die minne grœzlîche, als sant Paulus tuot, der sprichet: 'in waz üebunge ich mac gestân, enhân ich niht minne, sô enbin ich nihtes niht'. Sô lobe ich abegescheidenheit vür alle minne. Von êrste dar umbe, wan daz beste, daz an der minne ist, daz ist, daz si mich twinget, daz ich got minne, sô twinget abegescheidenheit got, daz er mich minne. Nû ist vil edellîcher daz ich twinge got ze mir, dan daz ich mich twinge ze gote. Und ist daz dâ von, wan got kan sich învüeclîcher vüegen ze mir und baz vereinigen mit mir, dan ich mich künde vereinigen mit got. Daz abegescheidenheit twinge got ze mir, daz bewære ich dâ mite: wan ein ieglich dinc ist gerne an sîner natiurlîchen eigen stat. Nû ist gotes natiurlîchiu eigen stat einicheit und lûterkeit, daz kumet von abegescheidenheit. Dâ von muoz got von nôt sich selber geben einem abegescheidenen herzen. Ze dem andern mâle lobe ich abegescheidenheit vür minne, wan minne twinget mich dar zuo, daz ich alliu dinc lîde durch got, sô bringet mich abgescheidenheit dar zuo, daz ich nihtes enpfenclich bin wan gotes. Nû ist vil edeler nihtes niht enpfenclich sîn wan gotes, dan alliu dinc lîden durch got, wan in dem lîdenne hât der mensche etwaz ûfsehennes ûf die crêatûre, von der der mensche daz lîden hât, sô stât abegescheidenheit genzlîche ledic aller crêatûre.

  Die Lehrer loben die Liebe in hohem Maße, wie es Sankt Paulus tut, der sagt: 'Welches Tun auch immer ich betreiben mag, habe ich die Liebe nicht, so bin ich nichts' (vgl. 1 Kor. 13,1 f.). Ich hingegen lobe die Abgeschiedenheit vor aller Liebe. Zum ersten deshalb, weil das Beste, das an der Liebe ist, dies ist, daß sie mich zwingt, daß ich Gott liebe, wohingegen die Abgeschiedenheit Gott zwingt, daß er mich liebe. Nun ist es um vieles vorzüglicher, daß ich Gott zu mir zwinge, als daß ich mich zu Gott zwinge. Und das liegt daran, weil Gott sich eindringlicher zu mir fügen und besser mit mir vereinigen kann, als ich mich mit Gott vereinigen könnte. Daß Abgeschiedenheit (aber) Gott zu mir zwinge, das beweise ich damit, daß ein jeglich Ding gern an seiner naturgemäßen eigenen Stätte ist. Gottes naturgemäße eigene Stätte ist nun Einheit und Lauterkeit: das aber kommt von Abgeschiedenheit. Deshalb muß Gott notwendig sich selbst einem abgeschiedenen Herzen geben. Zum zweiten lobe ich die Abgeschiedenheit vor der Liebe, weil die Liebe mich dazu zwingt, daß ich alle Dinge um Gottes willen ertrage, während Abgeschiedenheit mich dazu bringt, daß ich für nichts empfänglich bin als für Gott. Nun ist es viel wertvoller, für nichts empfänglich zu sein denn für Gott, als alle Dinge zu ertragen um Gottes willen. Denn im Leiden hat der Mensch (noch) ein gewisses Hinsehen auf die Kreatur, von der dem Menschen das Leiden kommt, wohingegen Abgeschiedenheit gänzlich losgelöst ist von aller Kreatur. Daß aber Abgeschiedenheit für nichts empfänglich ist als für Gott das beweise ich wie folgt: Was immer aufgenommen werden soll, das muß in etwas hinein aufgenommen werden. Nun (aber) ist die Abgeschiedenheit dem Nichts so nahe, daß nichts so fein (subtil) ist, daß es sich in der Abgeschiedenheit halten könnte, als Gott allein. (Nur) der ist so einfaltig und so feinfügig, daß er sich in dem abgeschiedenen Herzen wohl halten kann. Daher ist Abgeschiedenheit für nichts empfänglich als für Gott. - 3

  Die meister lobent ouch dêmüeticheit vür vil ander tugende. Aber ich lobe abegescheidenheit vür alle dêmüeticheit, und ist daz dar umbe, wan dêmüeticheit mac gestân âne abegescheidenheit, sô enmac volkomeniu abegescheidenheit niht gestân âne volkomene dêmüeticheit, wan volkomeniu dêmüeticheit gât ûf ein vernihten sîn selbes. Nû rüeret abegescheidenheit alsô nâhe dem nihte, daz zwischen volkomener abegescheidenheit und dem nihte kein dinc gesîn enmac. Dâ von enmac volkomeniu abegescheidenheit niht gesîn âne dêmüeticheit. Nû ist alle zît zwô tugende bezzer dan einiu. Diu ander sache ist, war umbe ich lobe abegescheidenheit vür dêmüeticheit, wan volkomeniu dêmüeticheit ist sich selber neigende under alle crêatûre, und in dúr neigunge sô gât der mensche ûz im selber ûf die crêatûre, sô blîbet abegescheidenheit in ir selber. Nû enmac kein ûzganc niemer sô edel werden, daz inneblîben ensî vil edeler in im selber. Dâ von sprach der wîssage Dâvît: 'omnis gloria eius filiae regis ab intus', daz ist gesprochen: 'des küniges tohter hât alle ir êre von ir inwendicheit'. Volkomeniu abegescheidenheit enhât kein ûfsehen ûf keine neigunge under keine crêatûre noch über keine crêatûre; si enwil weder under noch obe sîn, si wil alsô stân von ir selber, niemanne ze liebe noch ze leide, und enwil weder glîcheit noch unglîcheit mit keiner crêatûre haben noch diz noch daz: si enwil niht anders wan sîn. Daz si aber welle diz oder daz sîn, des enwil si niht. Wan swer wil diz oder daz sîn, der wil etwaz sîn, sô enwil abegescheidenheit nihtes niht sîn. Dâ von stânt alliu dinc von ir unbeswæret.

  Die Meister loben auch die Demut vor vielen anderen Tugenden. Ich aber lobe die Abgeschiedenheit vor aller Demut, und zwar deshalb, weil Demut ohne Abgeschiedenheit, vollkommene Abgeschiedenheit aber nicht ohne vollkommene Demut bestehen kann, denn vollkommene Demut geht auf ein Vernichten des eigenen Selbst aus. Nun rührt (aber) Abgeschiedenheit so nahe an das Nichts, daß zwischen vollkommener Abgeschiedenheit und dem Nichts nichts sein kann. Daher kann vollkommene Abgeschiedenheit nicht ohne Demut sein. Nun sind allzeit zwei Tugenden besser als (nur) eine. Der zweite Grund. weshalb ich die Abgeschiedenheit vor der Demut lobe, ist der, daß vollkommene Demut sich selbst unter alle Kreaturen neigt, und in dieser Neigung geht der Mensch aus sich selbst heraus auf die Kreaturen (hin), wohingegen die Abgeschiedenheit in sich selbst bleibt. Nun kann kein Ausgehen je so edel werden, daß nicht das Innebleiben in sich selbst viel edler sei. Deshalb sprach der Prophet David: 'Omnis gloria eius filiae regis ab intus', das heißt: 'Des Königs Tochter hat alle ihre Ehre von innen' (Ps. 44,14). Vollkommene Abgeschiedenheit hat kein Absehen auf irgendwelche Neigung unter irgendeine Kreatur noch über irgendeine Kreartur: sie will weder drunter noch drüber sein, sie will aus sich selbst dastehen, niemand zu Liebe noch zu Leide, und will weder Gleichheit noch Ungleichheit mit irgendeiner Kreatur haben noch dies und das: sie will nichts anderes als sein. Daß sie aber dies oder das sein möchte, das will sie nicht; denn wer dies oder das sein will, der will etwas sein, Abgeschiedenheit hingegen will nichts sein. Daher bleiben alle Dinge von ihr unbeschwert. - 4

  Nû möhte ein mensche sprechen: nû wâren doch alle tugende volkomenlîche in unser vrouwen, und alsô muoste ouch volkomeniu abegescheidenheit in ir sîn. Ist nû abegescheidenheit hœher dan dêmüeticheit, war umbe ruomte sich danne unser vrouwe ir dêmüeticheit und niht ir abegescheidenheit, dô si sprach: 'quia respexit dominus humilitatem ancillae suae', daz ist: 'er sach ane die dêmüeticheit sîner diernen', - war umbe ensprach si niht: er sach ane die abegescheidenheit sîner diernen? Des antwürte ich alsô und spriche, daz in gote ist abegescheidenheit und dêmüeticheit, als verre wir tugende von gote gesprechen mügen. Nû solt dû wizzen, daz diu minnebære dêmüeticheit got dâ zuo brâhte, daz er sich neigete in menschlîche natûre, und stuont abegescheidenheit unbewegelich in ir selber, dô er mensche wart, als si tete, dô er himelrîche und ertrîche beschuof, als ich dir her nâch sagen wil. Und wan unser herre, dô er mensche werden wolte, unbewegelich stuont an sîner abegescheidenheit, dô weste unser vrouwe wol, daz er des selben ouch von ir begerte und daz er in der sache anesach ir dêmüeticheit und niht ir abegescheidenheit. Dâ von stuont si unbewegelich in ir abegescheidenheit und ruomte sich ir dêmüeticheit und niht ir abegescheidenheit. Und hæte si niuwan gedâht mit einem worte ir abegescheidenheit, daz si gesprochen hæte: er sach ane mîne abegescheidenheit, dâ mite wære diu abegescheidenheit betrüebet worden und wære niht ganz noch volkomen gewesen, wan dâ wære ein ûzganc geschehen. Sô enmac kein ûzganc sô kleine gesîn, in dem diu abegescheidenheit müge âne mâsen blîben. Und alsô hâst dû die sache, war umbe sich unser vrouwe ruomte ir dêmüeticheit und niht ir abegescheidenheit. Dâ von sprach der wîssage: 'audiam, quid loquatur in me dominus deus', daz ist gesprochen: 'ich wil' swîgen und wil 'hœren, waz mîn got und mîn herre in mich rede', als ob er spræche: wil got ze mir reden, sô kome her in mich, ich enwil niht hin ûz.

  Nun könnte jemand sagen: Es waren aber doch alle Tugenden auf vollkommene Weise in Unserer Frau, und also mußte auch vollkommene Abgeschiedenheit in ihr sein. Ist nun (aber) Abgeschiedenheit höher als Demut, weshalb rühmte sich dann Unsere Frau ihrer Demut und nicht ihrer Abgeschiedenheit, als sie sprach: 'Quia respexit dominus humilitatem ancillae suae', das heißt: 'Er sah an die Demut seiner Magd' (Luk. 1,48), - warum also sprach sie nicht: "Er sah an die Abgeschiedenheit seiner Magd"? Darauf antworte ich wie folgt und sage, daß in Gott Abgeschiedenheit und Demut sind, sofern wir von Gott Tugenden aussagen können. Nun sollst du wissen, daß die liebeträchtige Demut Gott dazu brachte, daß er sich in menschliche Natur herabneigte, während (seine) Abgeschiedenheit unbeweglich in sich selbst verharrte, als er Mensch ward, wie sie es tat, als er Himmel und Erde erschuf, wie ich dir hernach (noch) darlegen will. Und weil unser Herr, als er Mensch werden sollte, unbeweglich in seiner Abgeschiedenheit verharrte, wußte Unsere Frau sehr wohl, daß er dasselbe auch von ihr begehrte und daß er in dieser Sache auf ihre Demut und nicht auf ihre Abgeschiedenheit sah. Daher stand sie unbeweglich in ihrer Abgeschiedenheit und rühmte sich ihrer Demut und nicht ihrer Abgeschiedenheit. Und hätte sie auch nur mit einem Wort ihrer Abgeschiedenheit gedacht, so daß sie gesagt hätte: "Er sah an meine Abgeschiedenheit", so wäre damit die Abgeschiedenheit getrübt worden und nicht (mehr) vollständig noch vollkommen gewesen, weil dabei ein Aus-sich-Heraustreten geschehen wäre. Kein Herausgehen aber kann so geringfügig sein, daß die Abgeschiedenheit dabei ohne Makel bleiben könnte. Und damit hast du den Grund, warum Unsere Frau sich ihrer Demut rühmte und nicht ihrer Abgeschiedenheit. Daher sprach der Prophet: 'Audiam quid loquatur in me dominus deus' (Ps. 84,9), das heißt: 'Ich' will schweigen und 'will hören, was mein Gott und mein Herr in mich rede' (2), als ob er habe sagen wollen: "Will Gott zu mir reden, so komme er herein in mich, ich will nicht hinaus". - 5

  Ich lobe ouch abegescheidenheit vür alle barmherzicheit, wan barmherzicheit enist niht anders, wan daz der mensche ûz im selber gât ûf sînes ebenmenschen gebresten und dâ von sîn herze betrüebet wirt. Des stât abegescheidenheit ledic und blîbet in ir selber und lât sich kein dinc betrüeben; wan alle die wîle dehein dinc den menschen mac betrüeben, sô enist dem menschen niht reht. Kürzlîchen geredet: wenne ich alle tugende anesihe, sô envinde ich keine sô gar âne gebresten und ze gote zuovüegic, als abegescheidenheit ist.

  Ich lobe die Abgeschiedenheit auch vor aller Barmherzigkeit, denn Barmherzigkeit ist nichts anderes, als daß der Mensch aus sich selbst herausgeht hin zu den Gebrechen seines Mitmenschen und dadurch sein Herz betrübt wird. Davon bleibt die Abgeschiedenheit frei und verharrt in sich selbst und läßt sich von nichts betrüben; denn solange irgend etwas den Menschen betrüben kann, steht es nicht recht um ihn. Kurz gesagt: Wenn ich alle Tugenden ansehe, so finde ich keine so ohne Makel und so Gott verbindend, wie es die Abgeschiedenheit ist. - 6

  Ein meister heizet Avicenna, der sprichet: des geistes, der abegescheiden stât, des adel ist alsô grôz, swaz er schouwet, daz ist wâr, und swes er begert, des ist er gewert, und swaz er gebiutet, des muoz man im gehôrsam sîn. Und solt daz wizzen vür wâr: swenne der vrîe geist stât in rehter abegescheidenheit, sô twinget er got ze sînem wesene; und möhte er gestân formelôsiclich und âne alle zuovelle, sô næme er gotes eigenschaft an sich. Daz enmac aber got niemanne geben dan im selber; dâ von enmac got niht mêr getuon dem abegescheidenen geiste, wan daz er sich selben im gibet. Und der mensche, der alsô stât in ganzer abegescheidenheit, der wirt alsô gezücket in die êwicheit, daz in kein zergenclich dinc bewegen enmac, daz er nihtes niht enpfindet, daz lîplich ist, und heizet der werlte tôt, wan im smacket niht, daz irdisch ist. Daz meinet sant Paulus, dô er sprach: 'ich lebe und lebe doch niht; Kristus lebet in mir'.

  Ein Meister heißt Avicenna, der spricht: Der Geist, der abgeschieden ist, dessen Adel ist so groß, daß, was immer er schaut, wahr ist und, was immer er begehrt, ihm gewährt ist und man in allem, was er gebietet, ihm gehorsam sein muß. Und das sollst du für wahr wissen: Wann immer der freie Geist in rechter Abgeschiedenheit steht, so zwingt er Gott zu seinem Sein; und könnte er ohne jede Form und ohne alle Akzidentien dastehen, so nähme er Gottes eigenes Sein an. Das aber kann Gott niemand geben als sich selbst; daher kann Gott dem abgeschiedenen Geist nicht mehr tun, als daß er ihm sich selbst gibt. Und der Mensch, der so in voller Abgeschiedenheit steht, der wird so in die Ewigkeit entrückt, daß ihn nichts Vergängliches (mehr) bewegen kann, daß er nichts (mehr) empfindet, was leiblich ist, und er heißt tot für die Welt, denn ihm schmeckt nichts, das irdisch ist. Das meinte Sankt Paulus, da er sprach: 'Ich lebe und lebe doch nicht; Christus lebt in mir' (Gal. 2,20). - 7

  Nû maht dû vrâgen, waz abegescheidenheit sî, wan si als gar edel an ir selber ist? Hie solt dû wizzen, daz rehtiu abegescheidenheit niht anders enist, wan daz der geist alsô unbewegelich stande gegen allen zuovellen liebes und leides, êren, schanden und lasters als ein blîgîn berc unbewegelich ist gegen einem kleinen winde. Disiu unbewegelîchiu abegescheidenheit bringet den menschen in die grœste glîcheit mit gote. Wan daz got ist got, daz hât er von sîner unbewegelîchen abegescheidenheit, und von der abegescheidenheit hât er sîne lûterkeit und sîne einvalticheit und sîne unwandelbærkeit. Und dâ von, sol der mensche gote glîch werden, als verre als ein crêatûre glîcheit mit gote gehaben mac, daz muoz geschehen mit abegescheidenheit. Diu ziuhet danne den menschen in lûterkeit und von der lûterkeit in einvalticheit und von der einvalticheit in unwandelbærkeit, und diu dinc bringent eine glîcheit zwischen gote und dem menschen; und diu glîcheit muoz beschehen in gnâden, wan diu gnâde ziuhet den menschen von allen zîtlîchen dingen und liutert in von allen zergenclîchen dingen. Und dû solt wizzen: lære sîn aller crêatûre ist gotes vol sîn, und vol sîn aller crêatûre ist gotes lære sîn.

  Nun magst du fragen, was Abgeschiedenheit sei, da sie so gar edel ist in sich selbst? Hierzu sollst du wissen, daß rechte Abgeschiedenheit nichts anderes ist, als daß der Geist so unbeweglich stehe gegenüber allem anfallenden Lieb und Leid, Ehren, Schanden und Schmähung, wie ein bleierner Berg unbeweglich ist gegenüber einem schwachen Winde. Diese unbewegliche Abgeschiedenheit bringt den Mensdhen in die größte Gleichheit mit Gott. Denn daß Gott Gott ist, das hat er von seiner unbeweglichen Abgeschiedenheit, und von der Abgeschiedenheit hat er seine Lauterkeit und seine Einfaltigkeit und seine Unwandelbarkeit. Und daher, soll der Mensch Gott gleich werden, soweit eine Kreatur Gleichheit mit Gott haben kann, so muß das geschehen durch Abgeschiedenheit. Die zieht dann den Menschen in Lauterkeit und von der Lauterkeit in Einfaltigkeit und von der Einfaltigkeit in Unwandelbarkeit, und die bringen eine Gleichheit zwischen Gott und dem Menschen hervor: diese Gleichheit aber muß in Gnade erstehen, denn die Gnade zieht den Menschen von allen zeitlichen Dingen weg und läutert ihn von allen vergänglichen Dingen. Und du sollst wissen: Leer sein aller Kreatur ist Gottes voll sein und voll sein aller Kreatur ist Gottes leer sein. - 8

  Nû solt dû wizzen, daz got in dirre unbewegelîchen abegescheidenheit ist êwelten gestanden und noch stât, und solt wizzen: dô got himelrîche und ertrîche beschuof und alle crêatûre, daz gienc sîne unbewegelîche abegescheidenheit als wênic ane, als ob nie crêatûre geschaffen wære. Ich spriche ouch mêr: allez daz gebet und guotiu werk, diu der mensche in der zît mac gewürken, daz gotes abegescheidenheit alsô wênic dâ von beweget wirt, als ob niendert gebet noch guotez werk in der zît beschæhe, und enwirt got niemer deste milter noch deste geneigeter gegen dem menschen, dan ob er daz gebet oder diu guoten werk niemer gewürhte. Ich spriche ouch mêr: dô der sun in der gotheit mensche werden wolte und wart und die marter leit, daz gienc die unbewegelîche abegescheidenheit gotes alsô wênic ane, als ob er nie mensche worden wære. Nû möhtest dû sprechen: sô hœre ich wol, allez gebet und alliu guotiu werk sint verlorn, wan sich got ir niht anenimet, daz in ieman dâ mite bewegen müge, und sprichet man doch: got wil umbe alliu dinc gebeten werden. Hie solt dû mich wol merken und rehte verstân, ob dû maht, daz got in sînem êrsten êwigen anblicke - ob wir einen êrsten anblik dâ nemen solten -, alliu dinc anesach, als sie beschehen solten, und sach in dem selben anblicke, wanne und wie er die crêatûre schepfen wolte und wanne der sun mensche werden wolte und lîden solte; er sach ouch daz minste gebet und guote werk, daz ieman solte tuon, und sach ane, welhez gebet und andâht er erhœren wolte oder solte; er sach, daz dû in morgen wilt mit ernste aneruofen und biten, und daz aneruofen und gebet enwil got niht morgen erhœren, wan er hât ez erhœret in sîner êwicheit, ê dû ie mensche würde. Enist aber dîn gebet niht endelich und âne ernst, sô enwil dir got niht nû versagen, wan er hât dir in sîner êwicheit versaget. Und alsô hât got in sînem êrsten êwigen anblicke alliu dinc anegesehen, und got würket nihtes niht von niuwem, wan ez ist allez ein vorgewürket dinc [1]. Und alsô stât got alle zît in sîner unbewegelîchen abegescheidenheit, und enist doch dar umbe der liute gebet und guotiu werk niht verlorn; wan der wol tuot, dem wirt ouch wol gelônet, der übel tuot, dem wirt ouch dar nâch gelônet. Disen sin redet sant Augustînus in dem fünften buoche von der drîvalticheit in dem jüngesten capitel und sprichet alsô: »Deus autem« etc., daz ist als vil gesprochen: »nû enwelle got, daz ieman spreche, daz got ieman zîtlîche minne, wan bî im enist nihtes niht verloufen und ouch nihtes niht künftic und hât alle heiligen geminnet, ê diu werlt ie wart geschaffen, als er sie versehen hât. Und swenne ez kumet in die zît, daz er öuget in der zît, daz er in der êwicheit hât anegesehen, sô wænent die liute, got habe eine niuwe minne an sie geleget; und alsô, sô er zürnet oder etwaz guotes tuot, sô werden wir gewandelt und blîbet er unwandelbære, als der sunnen schîn tuot den siechen ougen wê und den gesunden wol, und blîbet doch der sunnen schîn unwandelbære an im selber«. Den selben sin rüeret Augustînus in dem zwelften buoche von der drîvalticheit in dem vierden capitel und sprichet alsô: »Nam deus non ad tempus videt, nec aliquid fit novi in eius visione«, »got ensihet niht nâch zîtlîcher wîse und enstât ouch kein niuwe gesiht in im ûf«. Ûf disen sin redet ouch Isidôrus in dem buoche von dem obersten guote und sprichet alsô: »ez vrâgent vil liute: waz tete got, ê daz er himelrîche und ertrîche beschuof, oder wannen kam der niuwe wille in got, daz er die crêatûre beschuof?« und antwürtet alsô: »kein niuwer wille gestuont nie ûf in gote, wan swie daz sî, daz diu crêatûre niht enwas in ir selber«, als si nû ist, »dâ was si doch êwelten in gote und in sîner vernunft«. Got geschuof niht himelrîche und ertrîche, als wir zergenclîche sprechen: 'daz werde!', wan alle crêatûre sint in dem êwigen worte gesprochen. Dar zuo mügen wir ouch nemen, als unser herre sprach ze Moyses, dô Moyses sprach ze unserm herren: 'herre, ob Pharâô ze mir sprichet, wer dû sîst, wie sol ich im antwürten?', dô sprach unser herre: 'sô sprich: der dâ ist, der hât mich gesant'. Daz ist alsil gesprochen: der dâ unwandelbære ist an im selber, der hât mich gesant.

  Nun sollst du wissen, daß Gott in dieser unbeweglidhen Abgeschiedenheit von Ewigkeit her gestanden hat und noch steht, und sollst wissen, daß, als Gott Himmel und Erde erschuf, das seine unbewegliche Abgeschiedenheit so wenig anging, als ob nie eine Kreatur geschaffen worden wäre. Ich sage auch weiterhin: Alle Gebete und guten Werke, die der Mensch im Zeitlichen verrichten kann, davon wird Gottes Abgeschiedenheit so wenig bewegt, als ob niemals ein Gebet oder gutes Werk in der Zeit verrichtet würde, und Gott wird deshalb nimmer gnädiger noch geneigter gegenüber dem Menschen, als wenn er das Gebet oder die guten Werke niemals verrichtete. Ich sage zudem weiter: Als der Sohn in der Gottheit Mensch werden wollte und ward und die Marter erlitt, ging das die unbewegliche Abgeschiedenheit Gottes so wenig an, wie wenn er nie Mensch geworden wäre. Nun könntest du sagen: So höre ich wohl, daß alles Gebet und alle guten Werke verloren sind, weil sich Gott ihrer nicht (so) annimmt, daß ihn jemand dadurch bewegen könnte, und doch sagt man: Gott will um alles gebeten werden. Hier sollst du mich wohl anhören und recht verstehen, wenn du kannst, daß Gott in seinem ersten ewigen Anblick - wenn wir einen ersten Anblick da annehmen sollten - alle Dinge ansah, so wie sie geschehen würden, und (er) sah in diesem selben Anblick, wann und wie er die Kreaturen erschaffen und wann der Sohn Mensch werden wollte und leiden sollte. Er sah auch das geringste Gebet und gute Werk, das jemand verrichten würde, und sah an, welches Gebet und (welche) andächtige Hingabe er erhören wollte oder sollte: er sah, daß du ihn morgen mit Ernst anrufen und bitten willst, und dieses Anrufen und Gebet wird Gott nicht (erst) morgen erhören, denn er hat es (bereits) in seiner Ewigkeit erhört, ehe du je Mensch wurdest. Ist aber dein Gebet nicht eindringlich und ohne Ernst, so wird dich Gott nicht (erst) jetzt abweisen, denn er hat dich (ja schon) in seiner Ewigkeit abgewiesen. Und so denn hat Gott in seinem ersten ewigen Anblick alles angesehen, und Gott wirkt nichts neu, denn alles ist vorausgewirkt [1]. Und so steht Gott allzeit in seiner unbeweglichen Abgeschiedenheit, und doch sind darum der Leute Gebet und gute Werke nicht verloren; denn wer wohl tut, dem wird auch wohl gelohnt, wer übel tut, dem wird auch darnach gelohnt (3). Diesen Gedanken äußert auch Sankt Augustinus im fünften Buch 'Von der Dreifaltigkeit' im letzten Kapitel und sagt: "Deus autem" etc., das will besagen: "Behüte Gott, daß jemand spreche, Gott liebe jemand auf zeitliche Weise, denn bei ihm ist nichts vergangen und auch nichts zukünftig, und er hat alle Heiligen geliebt, ehe die Welt geschaffen ward, so wie er sie vorhergesehen hat. Und wenn die Zeit kommt, daß er in der Zeit sichtbar macht, was er (schon) in der Ewigkeit geschaut hat, so wähnen die Leute, Gott habe ihnen eine neue Liebe zugewendet; so also, wenn er zürnt oder etwas Gutes tut, so werden wir gewandelt, während er unwandelbar bleibt, so wie der Sonnenschein den siechen Augen weh tut und den gesunden wohl, und doch bleibt (dabei) der Sonnenschein in sich selbst unwandelbar." Denselben Gedanken berührt Augustinus auch im zwölften Buch 'Von der Dreifaltigkeit' im vierten Kapitel und sagt: "Nam deus non ad tempus videt, nec aliquid fit novi in eius visione" - "Gott sieht nicht auf zeitliche Weise, und es ersteht auch in ihm kein neues Sehen." Zu diesem Gedanken äußert sich auch Isidorus in dem Buch "Vom höchsten Gute" und sagt wie folgt: "Es fragen viele Leute: Was tat Gott, ehe er Himmel und Erde erschuf [vgl. zum 1. Art. der Bulle], oder woher kam der neue Wille in Gott, daß er die Kreaturen erschuf?" und er antwortet so: "Kein neuer Wille erstand jemals in Gott, denn obwohl es so ist, daß die Kreatur (als solche) in sich selbst (noch) nicht bestand", wie sie es jetzt tut, "so war sie doch von Ewigkeit her in Gott und in seiner Vernunft." Gott erschuf nicht Himmel und Erde, so wie wenn wir im Zeitablauf sagen: "Dies (oder das) werde!", denn alle Kreaturen sind (schon) im ewigen Worte (mit) ausgesprochen. Dazu können wir auch heranziehen, was unser Herr zu Moses sprach, als Moses unsern Herrn fragte: 'Herr, wenn Pharao mich darauf anspricht, wer du seist, wie soll ich ihm antworten?', da sprach unser Herr: 'So sprich: Der da ist, der hat mich gesandt' (Exod. 3,13 f.). Das heißt so viel wie: Der da unwandelbar ist an sich selber, der hat mich gesandt. - 9

  Nû möhte ein mensche sprechen: hâte Kristus ouch unbewegelîche abegescheidenheit, dô er sprach: 'mîn sêle ist betrüebet biz in den tôt' und Marîâ, dô si stuont under dem kriuze, und saget man doch vil von ir klage, - wie mac diz allez bestân mit unbewegelîcher abegescheidenheit? Hie solt dû wizzen, daz die meister sprechent, daz an einem ieglîchen menschen zweierhande menschen sint: der eine heizet der ûzer mensche, daz ist diu sinnelicheit; dúm menschen dienent die fünf sinne und würket doch der ûzer mensche von kraft der sêle. Der ander mensche heizet der inner mensche, daz ist des menschen innerkeit. Nû solt dû wizzen, daz ein geistlîcher mensche, der got minnet, gebrûchet der sêle krefte in dem ûzern menschen niht vürbaz, wan als die fünf sinne ze nôt bedürfen; und diu inwendicheit enkêret sich niht ze den fünf sinnen, wan als verre als si ein wîser und ein leiter ist der fünf sinne und ir hüetet, daz sie niht gebrûchent irs gegenwurfes nâch vihelicheit, als etlîche liute tuont, die lebent nâch ir lîplîcher wollust, als diu vihe tuont, diu âne vernunft sint; und solhe liute heizent eigenlîcher vihe dan liute. Und swaz diu sêle krefte hât über daz si den fünf sinnen gibet, die krefte gibet diu sêle alle dem innern menschen, und sô dúr mensche etwaz hôhes edeles gegenwurfes hât, sô ziuhet si an sich alle die krefte, die si den fünf sinnen gelihen hât, und heizet der mensche sinnelôs und verzücket, wan sîn gegenwurf ist ein vernünftic bilde oder etwaz vernünftiges âne bilde. Doch wizze, daz got von einem ieclîchen geistlîchen menschen muotet, daz er in minne mit allen kreften der sêle. Dâ von sprach er: 'minne dînen got von ganzem herzen'. Nû sint etlîche liute, die verzernt der sêle krefte alzemâle in dem ûzern menschen. Daz sint die liute, die alle ir sinne und vernunft kêrent ûf zergenclich guot, die enwizzen nihtes niht von dem innern menschen. Nû solt dû wizzen, daz der ûzer mensche mac in üebunge sîn, daz doch der inner mensche des genzlîche ledic stât und unbewegelich. Nû was in Kristô ouch ein ûzwendiger mensche und ein inwendiger mensche, und ouch in unser vrouwen; und swaz Kristus und unser vrouwe ie geredeten von ûzern sachen, daz tâten sie nâch dem ûzern menschen, und stuont der inner mensche in einer unbewegelîchen abegescheidenheit. Und alsô redete Kristus, dô er sprach: 'mîn sêle ist betrüebet biz in den tôt', und swaz unser vrouwe klagete, und ander rede, die si tete, sô stuont doch alzît ir inwendicheit in einer unbewegelîchen abegescheidenheit. Und nim des ein ebenbilde: ein tür gât in einem angel ûf und zuo. Nû glîche ich daz ûzer bret an der tür dem ûzern menschen, sô glîche ich den angel dem innern menschen. Sô nû diu tür ûf und zuo gât:, sô wandelt sich daz ûzer bret hin und her, und blîbet doch der angel an einer stat unbewegelich und enwirt dar umbe niemer verwandelt. Ze glîcher wîse ist ez ouch hie, ob dû im kanst rehte tuon.

  Nun könnte einer sagen: Hatte Christus auch unbewegliche Abgeschiedenheit, als er sprach: 'Meine Seele ist betrübt bis in den Tod' (Matth. 26,38: Mark. 14.34), und Maria, als sie hinter dem Kreuze stand, wo man doch viel von ihrer Klage berichtet, - wie kann dies alles bestehen mit unbeweglicher Abgeschiedenheit? Hier sollst du wissen, daß die Meister sagen, daß in einem jeglichen Menschen zweierlei Menschen vorhanden sind: der eine heißt der äußere Mensch, das ist die Sinnlichkeit; diesem Menschen dienen die fünf Sinne, und doch wirkt der äußere Mensch kraft der Seele. Der andere Mensch heißt der innere Mensch, das ist des Menschen Innerlichkeit. Nun sollst du wissen, daß ein geistiger Mensch, der Gott liebt, die Kräfte der Seele im äußeren Menschen nicht mehr in Anspruch nimmt, als die fünf Sinne notwendig bedürfen; und das Innere kehrt sich den fünf Sinnen nur soweit zu, wie es ein Führer und ein Leiter der fünf Sinne ist und sie behütet, damit sie sich nicht wie die Tiere ihrem Sinnesgegenstand hingeben, wie etliche Leute es tun, die nach ihrer leiblichen Wollust leben, wie's die Tiere tun, die ohne Vernunft sind: und solche Leute heißen eigentlicher Vieh als Menschen! Und was die Seele über das hinaus, was sie den fünf Sinnen zuwendet, an Kräften besitzt, diese Kräfte gibt die Seele alle dem innern Menschen. Und wenn dieser Mensch sich etwas Hohem und Edlem zuwendet, dann zieht die Seele alle die Kräfte an sich, die sie den fünf Sinnen geliehen hat, und dieser Mensch gilt (dann) als von Sinnen und verzückt; denn sein Vorwurf ist eine erkenntnismäßige Bildvorstellunig oder etwas bildlos Erkenntnismäßiges. Doch wisse, daß Gott von einem jeden geistigen Menschen erwartet, daß er ihn mit allen Kräften der Seele liebe. Deshalb sprach er: 'Liebe deinen Gott aus ganzem Herzen!' (Mark. 12.30; Luk. 10,27). Nun gibt es etliche Menschen, die verbrauchen die Kräfte der Seele ganz und gar im äußern Menschen. Das sind jene Leute, die alle ihre Sinne und ihre Vernunft vergänglichem Gut zukehren; die wissen nichts von dem innern Menschen. Nun sollst du wissen, daß der äußere Mensch sich in Betätigung befinden kann und doch der innere Mensch davon gänzlich frei und unbewegt bleibt. Nun war in Christus auch ein äußerer und ein innerer Mensch und ebenso in Unserer Frau; und was Christus und Unsere Frau je über äußere Angelegenheiten redeten, das taten sie nach ihrem äußeren Menschen, und (dabei) stand der innere Mensch in einer unbeweglichen Abgeschiedenheit. Und so auch redete Christus, als er sprach: 'Meine Seele ist betrübt bis in den Tod' (Matth. 26,38; Mark. 14.34); und bei allem, was immer Unsere Frau klagte und sonstwie redete, stand doch ihr inneres allzeit in einer unbeweglichen Abgeschiedenheit. Und dazu nimm einen Vergleich: Eine Tür geht in einer Angel auf und zu. Nun vergleiche ich das äußere Brett der Tür dem äußeren Menschen, die Angel aber setze ich dem inneren Menschen gleich. Wenn nun die Tür auf- und zugeht, so bewegt sich das äußere Brett hin und her, und doch bleibt die Angel unbeweglich an ihrer Stelle und wird deshalb niemals verändert. Ebenso ist es auch hier, wenn du's recht verstehst. - 10

  Nû vrâge ich hie, waz der lûtern abegescheidenheit gegenwurf sî? Dar zuo antwürte ich alsô und spriche, daz weder diz noch daz ist der lûtern abegescheidenheit gegenwurf. Si stât ûf einem blôzen nihte, und sage dir, war umbe daz ist: diu lûteriu abegescheidenheit stât ûf dem hœhsten. Nû stât der ûf dem hœhsten, in dem got nâch allem sînem willen gewürken mac. Nû enmac got niht in allen herzen gewürken nâch allem sînem willen, wan swie daz sî, daz got almehtic ist, sô enmac er doch niht gewürken, wan als er bereitschaft vindet oder machet. Und spriche ich dar umbe 'oder machet' von sant Paulus wegen, wan dâ envant er niht bereitschaft, aber er bereite in mit dem îngiezenne der gnâden. Dâ von spriche ich: got würket dar nâch, als er bereitschaft vindet. Sîn würken ist anders in dem menschen dan in dem steine. Des vinden wir ein glîchnisse in der natûre: sô man einen bakoven heizet und dar în leget einen teic von habern und einen von gersten und einen von roggen und einen von weizen, nû enist niht dan úin hitze in dem ovene und enwürket doch niht glîch in den teigen, wan der ein wirt schœne brôt, der ander wirt rûcher, der dritte noch rûcher. Und daz enist niht der hitze schult, ez ist der materien schult, diu dâ unglîch ist. Ze glîcher wîse sô enwürket got niht glîch in allen herzen; er würket dar nâch, als er bereitschaft und enpfenclicheit vindet. in welhem herzen ist nû diz oder daz, in dem 'diz oder daz' mac etwaz sîn, daz got ûf daz hœhste niht gewürken enmac. Dâ von, sol daz herze bereitschaft haben ûf daz aller hœhste, sô muoz ez stân ûf einem blôzen nihte, und dar inne ist ouch diu grœste mügelicheit, diu gesîn mac. Wan nû daz abegescheiden herze stât ûf dem hœhsten, daz muoz sîn ûf dem nihte, wan dâ ist diu grœste enpfenclicheit inne. Des nim ein glîchnisse in der natûre. Wil ich schrîben an eine wehsîn taveln, sô enmac kein dinc sô edel gesîn, daz an der taveln geschriben stât, ez enirre mich, daz ich niht dar ane geschrîben enmac; und wil ich wol schrîben, sô muoz ich allez daz tilgen und tœten, daz an der taveln stât, und vüeget mir diu tavel niemer als wol ze schrîbenne, als sô nihtes niht an der tavel stât. Ze glîcher wîse: sol got in mîn herze schrîben ûf daz aller hœhste, sô muoz ûz dem herzen komen allez, daz diz und daz geheizen mac, und alsô stât daz abegescheiden herze. Dâ von sô mac got dâ gewürken ûf daz aller hœhste und nâch sînem obersten willen. Dâ von ist des abegescheidenen herzen gegenwurf weder diz noch daz.

  Hier frage ich nun, was der lauteren Abgeschiedenheit Gegenstand sei. Darauf antworte ich wie folgt und sage, daß weder dies noch das der lauteren Abgeschiedenheit Gegenstand ist. Sie steht auf einem reinen Nichts, und ich sage dir, warum das so ist: Die lautere Abgeschiedenheit steht auf dem Höchsten. Nun aber steht der auf dem Höchsten, in dem Gott nach seinem ganzen Willen wirken kann. Nun kann Gott nicht in allen Herzen nach seinem ganzen Willen wirken, denn obgleich Gott allmächtig ist, so kann er doch nur soweit wirken, wie er Bereitschaft findet oder schafft. Und ich sage "oder schafft" Sankt Paulus' wegen, denn bei ihm fand er keine Bereitschaft, doch bereitete er ihn durch das Eingießen der Gnade. Deshalb sage ich: Gott wirkt danach, wie er Bereitschaft findet. Sein Wirken ist anders im Menschen als im Steine. Dafür finden wir ein Gleichnis in der Natur: Wenn man einen Backofen heizt und darein einen Teig von Hafer und einen von Gerste und einen von Roggen und einen von Weizen legt, so ist da nun nur eine Hitze in dem Ofen, und doch wirkt sie nicht gleich in den Teigen; denn der eine wird zu schönem Brot, der andere wird gröber, der dritte noch gröber. Und das ist nicht der Hitze Schuld, es ist die Schuld der Materie, die da ungleich ist. Ebenso wirkt Gott nicht gleich in allen Herzen; er wirkt danach, wie er Bereitschaft und Empfänglichkeit findet. In welchem Herzen nun dies oder das ist, da kann in dem "dies oder das" etwas sein, wodurch Gott nicht auf das höchste zu wirken vermag. Soll daher das Herz Bereitschaft haben zum Allerhöchsten, so muß es auf einem reinen Nichts stehen, und darin liegt auch die größte Möglichkeit, die sein kann. Da nun das abgeschiedene Herz auf dem Höchsten steht, so muß dies auf dem Nichts (der Fall) sein, denn in dem liegt die größte Empfänglichkeit. Dafür nimm ein Gleichnis in der Natur: Will ich auf eine Wachstafel schreiben, dann kann nichts (noch) so edel sein, was auf der Tafel geschrieben steht, daß es mich nicht behindert, so daß ich nicht darauf schreiben kann: will ich aber doch schreiben, so muß ich alles das tilgen und auslöschen, was auf der Tafel steht. Und die Tafel schickt sich mir nimmer so wohl zum Schreiben, wie wenn gar nichts auf der Tafel steht. Ganz ebenso muß, soll Gott auf das allerhöchste in mein Herz schreiben, alles aus dem Herzen herauskommen, was dies und das heißen kann, und ganz so steht es mit dem abgeschiedenen Herzen. Deshalb kann Gott darin auf das allerhöchste und nach seinem höchsten Willen wirken. Drum ist des abgeschiedenen Herzens Gegenstand weder dies noch das. - 11

  Nû vrâge ich aber: waz ist des abegescheidenen herzen gebet? Des antwürte ich alsô und spriche, daz abegescheideniu lûterkeit enkan niht beten, wan swer betet, der begert etwaz von gote, daz im werde, oder begert aber, daz im got etwaz abeneme. Nû enbegert daz abegescheiden herze nihtes niht, ez enhât ouch nihtes niht, des ez gerne ledic wære. Dar umbe sô stât ez ledic alles gebetes und enist sîn gebet niht anders dan einförmic sîn mit gote. Dar ûf stât allez sîn gebet. Von disem sinne mügen wir nemen daz wort, daz sant Dionysius sprichet über daz wort sant Pauls, dâ er sprichet: 'ir sint vil, die alle loufent nâch der krône und enwirt doch niht dan einem' - alle krefte der sêle loufent nâch der krône und enwirt doch aleine dem wesene - hie sprichet Dionysius: der louf enist niht anders dan ein abekêren von allen crêatûren und sich vereinigen in die ungeschaffenheit. Und sô diu sêle dâ zuo kumet, sô verliuset si irn namen und ziuhet sie got in sich, daz si an ir selber ze nihte wirt, als diu sunne daz morgenrôt an sich ziuhet, daz ez ze nihte wirt. Dâ zuo enbringet den menschen kein dinc dan lûteriu abegescheidenheit. Dâ zuo mügen wir ouch nemen daz wort, daz Augustînus sprichet: diu sêle hât einen heimlîchen înganc in götlîche natûre, dâ ir alliu dinc ze nihte werdent. Dirre înganc enist ûf ertrîche niht anders dan lûteriu abegescheidenheit. Und sô diu abegescheidenheit kumet ûf daz hœhste, sô wirt si von bekennenne kennelôs und von minne minnelôs und von liehte vinster. Dâ von mügen wir ouch nemen, daz ein meister sprichet: die armen des geistes sint die, die gote alliu dinc gelâzen hânt, als er sie hâte, dô wir niht enwâren. Diz enmac nieman getuon wan ein lûter abegescheiden herze. Daz got in einem abegescheidenen herzen lieber sî dan in allen herzen, daz merken wir dar ane, wan vrâgest dû mich: waz suochet got in allen dingen?, sô antwürte ich dir ûz dem buoche der wîsheit; dâ sprichet er: 'in allen dingen suoche ich ruowe!' Sô enist niendert ganziu ruowe dan aleine in dem abegescheidenen herzen. Dâ von ist got lieber dâ dan in andern tugenden oder in deheinen dingen. Ouch solt dû wizzen: ie mê sich der mensche dar ûf setzet, daz er enpfenclich sî des götlîchen învluzzes, ie sæliger er ist; und wer sich gesetzen mac dâ inne in die obersten bereitschaft, der stât ouch in der obersten sælicheit. Nû enmac kein mensche sich enpfenclich gemachen des götlîchen învluzzes dan mit einförmicheit mit gote, wan dâ nâch als ein ieclich mensche einförmic ist mit gote, dâ nâch ist er enpfenclich des götlîchen învluzzes. Nû kumet einförmicheit dâ von, daz sich der mensche wirfet under got; und als vil sich der mensche wirfet under die crêatûre, alsô vil ist er minner einförmic mit gote. Nû stât daz lûter abegescheiden herze ledic aller crêatûren. Dâ von ist ez alzemâle geworfen under got, und dâ von stât ez in der obersten einförmicheit mit gote und ist ouch aller enpfenclîchest des götlîchen învluzzes. Daz meinet sant Paulus, dô er sprach: 'leget an iuch Jêsum Kristum', und meinet: mit einförmicheit mit Kristô, und daz anelegen enmac niht beschehen dan mit einförmicheit mit Kristô. Und wizze: dô Kristus mensche wart, dô ennam er niht an sich einen menschen, er nam an sich menschlîche natûre. Dâ von sô ganc ûz aller dinge, sô blîbet aleine, daz Kristus an sich nam, und alsô hâst dû Kristum an dich geleget.

  Nun frage ich wiederum: Was ist des abgeschiedenen Herzens Gebet? Darauf antworte ich wie folgt und sage: Abgeschiedene Lauterkeit kann nicht beten, denn wer betet, der begehrt etwas von Gott, das ihm zuteil werden solle, oder aber begehrt, daß ihm Gott etwas abnehme. Nun begehrt das abgeschiedene Herz gar nichts, es hat auch gar nichts, dessen es gerne ledig wäre. Deshalb steht es ledig allen Gebets, und sein Gebet ist nichts anderes als einförmig zu sein mit Gott. Das macht sein ganzes Gebet aus. Hierzu können wir das Wort anführen, das Sankt Dionysius äußert zum Wort Sankt Paulus', wo der sagt: 'Ihrer sind viele, die alle nach der Krone laufen, und doch wird sie nur einem zuteil' (vgl. 1 Kor. 9,24) - alle Kräfte der Seele laufen nach der Krone, und doch wird sie nur dem Wesen zuteil - Dionysius also sagt: Der Lauf ist nichts anderes als eine Abkehr von allen Kreaturen und ein Sich-Vereinigen in die Ungeschaffenheit. Und wenn die Seele dazu kommt, so verliert sie ihren Namen, und Gott zieht sie in sich, so daß sie an sich selbst zunichte wird, so wie die Sonne das Morgenrot an sich zieht, so daß es zunichte wird. Dahin bringt dem Menschen nichts als lautere Abgeschiedenheit. Hierzu können wir auch das Wort heranziehen, das Augustinus spricht: "Die Seele hat einen heimlichen Eingang in die göttliche Natur, wo ihr alle Dinge zunichte werden". Dieser Eingang ist auf Erden nichts anderes als lautere Abgeschiedenheit. Wenn die Abgeschiedenheit zum Höchsten gelangt, so wird sie von Erkennen erkenntnislos und von Liebe liebelos und von Licht finster. Dazu können wir auch anführen, was ein Meister spricht: Die Armen des Geistes sind diejenigen, die Gott alle Dinge so überlassen haben, wie er sie hatte, als wir (noch) nicht waren. Dies vermag niemand zu tun als ein lauteres, abgeschiedenes Herz. Daß Gott in einem abgeschiedenen Herzen lieber sei als in allen (anderen) Herzen, das erkennen wir an folgendem: Fragst du mich: "Was sucht Gott in allen Dingen?", so antworte ich dir aus dem Buche der Weisheit; dort spricht er (= Gott): 'In allen Dingen suche ich Ruhe!' (Eccli. 24,11). Nirgends aber ist vollständige Ruhe als einzig im abgeschiedenen Herzen. Deshalb ist Gott dort lieber als in anderen Tugenden oder in irgendwelchen (sonstigen) Dingen. Auch sollst du wissen: Je mehr der Mensch danach strebt, des göttlichen Einflusses empfänglich zu werden, um so seliger ist er; und wer sich dabei in die höchste Bereitschaft zu versetzen vermag, der steht auch in der höchsten Seligkeit. Nun vermag sich kein Mensch des göttlichen Einflusses empfänglich zu machen als durch Einförmigkeit mit Gott; denn so weit wie ein jeglicher Mensch einförmig mit Gott ist, so weit ist er empfänglich des göttlichen Einflusses. Nun kommt Einförmigkeit daher, daß sich der Mensch Gott unterwirft; so weit sich aber der Mensch der Kreatur unterwirft, so weit ist er minder einförmig mit Gott. Nun steht das lautere, abgeschiedene Herz ledig aller Kreaturen. Daher ist es völlig Gott unterworfen, und dadurch steht es in der höchsten Einförmigkeit mit Gott und ist zugleich des göttlichen Einflusses am allerempfänglichsten. Das meinte Sankt Paulus, als er sprach: 'Legt an euch Jesus Christus!', und er meinte: durch Einförmigkeit mit Christus; das Anlegen nämlich kann nur durch Einförmigkeit mit Christus geschehen. Und wisse: Als Christus Mensch ward, da nahm er nicht an sich einen Menschen, er nahm an die menschliche Natur. Entäußere dich deshalb aller Dinge, so bleibt allein, was Christus an sich nahm, und so denn hast du dir Christus angelegt. - 12

  Wer nû volkomener abegescheidenheit adel und nutz merken welle, der neme Kristî wort war, diu er von sîner menscheit sprach, dô er sprach ze sînen jüngern: 'ez ist iu nütze, daz ich von iu var, und gân ich niht von iu, sô enmac iu der heilige geist niht werden'. Rehte als ob er spræche: ir hât ze vil lustes ûf mîn gegenwürtigez bilde geleget, dâ von enmac iu der volkomene lust des heiligen geistes niht werden. Dâ von scheidet abe diu bilde und einiget iuch mit formelôsem wesene, wan gotes geistlîcher trôst ist zart; dar umbe wil er sich niemanne erbieten dan dem, der lîplîchen trôst versmæhet.

  Wer nun den Adel und Nutzen vollkommener Abgeschiedenheit erkennen will, der beachte Christi Worte, die er über seine Menschheit sprach, als er zu seinen Jüngern sagte: 'Es ist euch nütze, daß ich von euch gehe, und gehe ich nicht von euch, so kann euch der Heilige Geist nicht zuteil werden' (Joh. 16,7), gleichsam, als ob er spräche: Ihr habt zuviel Wohlgefallen an meiner gegenwärtigen Erscheinung gefunden, deshalb kann euch die vollkommene Freude des Heiligen Geistes nicht zuteil werden. Darum scheidet ab die bildhafte Erscheinung, und vereinigt euch mit dem formlosen Sein, denn Gottes geistiger Trost ist feingeartet; darum will er sich niemand darbieten als dem, der leiblichen Trost verschmäht. - 13

  Nû merket, alle vernünftigen liute! Ez enist nieman baz gemeit dan der dâ stât in der grœsten abegescheidenheit. Ez enmac kein vleischlîcher und lîplîcher trôst niemer gesîn âne geistlîchen schaden, 'wan daz vleisch begert wider den geist und der geist wider daz vleisch'. Dar umbe, swer in dem vleische sæjet ungeordente minne, der snîdet abe den êwigen tôt; und swer in dem geiste sæjet ordenlîche minne, der snîdet von dem geiste daz êwige leben. Dâ von, ie belder der mensche vliuhet von der geschepfede, ie belder im zuoloufet der schepfer. Hie merket, alle vernünftigen menschen! Sît der lust, den wir gehaben möhten an dem lîplîchen bilde Kristî, uns sûmet an der enpfenclicheit des heiligen geistes, wie vil mê sûmet denne gegen gote der ungeordente lust, den wir hân ûf zergenclîchen trôst! Dâ von ist abegescheidenheit daz aller beste, wan si reiniget die sêle und liutert die gewizzene und enzündet daz herze und wecket den geist und machet snel die begirde und tuot got erkennen und scheidet abe die crêatûre und vereiniget sich mit gote.

  Nun merkt auf, alle Verständigen! Niemand ist frohgemuter, als der da steht in der größten Abgeschiedenheit. Kein fleischlicher und leiblicher Trost kann je ohne geistigen Schaden sein, 'denn das Fleisch begehrt wider den Geist und der Geist wider das Fleisch' (Gal. 5,17). Wer immer daher im Fleische zuchtlose Liebe aussät, der erntet den ewigen Tod; und wer immer im Geiste rechte Liebe aussät, der erntet vom Geist das ewige Leben. Daher: je schneller der Mensch von der Schöpfung flieht, desto schneller läuft ihm der Schöpfer zu. Hier merkt auf, alle Verständigen! Da (schon) das Wohlgefallen, das wir an der leiblichen Erscheinung Christi empfinden könnten, uns an der Empfänglichkeit für den Heiligen Geist behindert, um wie viel mehr behindert uns denn Gott gegenüber die ungezügelte Lust, die wir nach vergänglichem Trost empfinden! Deshalb ist Abgeschiedenheit das Allerbeste, denn sie reinigt die Seele und läutert das Gewissen und entzündet das Herz und weckt den Geist und beschleunigt das Verlangen und läßt Gott erkennen und scheidet ab die Kreatur und vereinigt sich mit Gott. - 14

  Nû merket, alle vernünftigen menschen! Daz snelleste tier, daz iuch treget ze dirre volkomenheit, daz ist lîden, wan ez niuzet nieman mê êwiger süezicheit, dan die mit Kristô stânt in der grœsten bitterkeit. Ez enist niht gelligers dan lîden und enist niht honicsamers dan geliten-hân; ez entstellet den lîp nihtes mêr vor den liuten dan lîden und enzieret aber die sêle vor gote nihtes mêr dan geliten-hân. Daz vesteste fundament, dar ûf disiu volkomenheit gestân mac, daz ist dêmüeticheit, wan swelhes natûre hie kriuchet in der tiefsten niderkeit, des geist vliuget ûf in daz hœhste der gotheit, wan liebe bringet leit, und leit bringet liebe. Und dâ von, swer begert ze komenne ze volkomener abegescheidenheit, der stelle nâch volkomener dêmüeticheit, sô kumet er in die næhede der gotheit. Daz uns daz allen widervar, des helfe uns diu oberste abegescheidenheit, daz ist got selber. Âmen.

  Nun gebt acht, alle Verständigen! Das schnellste Tier, das euch zu dieser Vollkommenheit trägt, ist das Leiden; denn es genießt niemand mehr ewige Süßigkeit als die, die mit Christus in der größten Bitterkeit stehen. Es ist nichts galliger als Leiden, und es gibt nichts Honigsüßeres als Gelitten-Haben; es entstellt nichts mehr den Leib vor den Leuten als Leiden, hingegen ziert nichts mehr die Seele vor Gott als Gelitten-Haben. Das festeste Fundament, worauf diese Vollkommenheit stehen kann, das ist Demut; denn wessen Natur hier in der tiefsten Niedrigkeit kriecht, dessen Geist fliegt empor in das Höchste der Gottheit, denn Liebe bringt Leid, und Leid bringt Liebe. Wer daher zu vollkommener Abgeschiedenheit zu kommen begehrt, der trachte nach vollkommener Demut, dann kommt er in die Nähe der Gottheit. Daß uns das allen widerfahre, dazu verhelfe uns die höchste Abgeschiedenheit, das ist Gott selber. Amen.

Anmerkungen Quint
1 Der Ausdruck abegescheidenheit kommt nach Aussage der mittelhochdeutschen, der mittelniederdeutschen und mittelniederländischen Wörterbücher in vormystischer Zeit nicht vor. Es sieht so aus, als wenn er, jedenfalls in der spezifisch mystischen Bedeutung, erst durch Eckhart geprägt und in seiner "Schule" verwendet worden sei [S. 438, Anm. 1].
2 Die gleiche Psalmstelle zitiert Eckhart Pf. S. 107,25 ff. [Q 45]; In Ioh. n. 488; In Gen. II n. 148. An keiner dieser Stellen ist der Psalmtext so wie hier in dem Sinne gedeutet, daß Gott in den Menschen herein- und nicht der Mensch aus sich heraus (in Gott) kommen müsse, auf daß des Menschen abegescheidenheit nicht gestört werde. Wohl scheint mir dieser Gedanke jedoch an der Stelle ZfdA 8 S. 254,12 ff. (auf die Schaefer Anm. 23 hinweist) bei Joh. v. Sterngassen vorzuliegen ... [S. 444, Anm. 32].
3 Schaefer verweist in Anm. 40 auf folgende Stellen: RS II Art. 27 (Théry S. 229): Deus nichil habet facere cum tempore, sed ipse solum dat et operatur ex eternitate [s. Proc. col. II n. 59] ... [S. 447, Anm. 54].

Eigene
1 Was hier (von Eckhart ?) gesagt wird, ist eindeutig: Du hast keine Chance. Alles ist vorherbestimmt und du kannst nichts mehr daran ändern. Was ist denn dann mit dem verlorenen Sohn, der heimfindet und was mit den Sünden, die Gott umso lieber vergibt, je größer sie sind (s. Reden) und was ist mit der Reue? Was sollen dann alle Ermahnungen, zu Gott zu finden, wenn Gott schon längst beschlossen hat, wer ihn findet und wer nicht? Was macht es noch für einen Sinn, in vollkommener Abgeschiedenheit Gott erfahren zu wollen, wenn der im Anfang in sein ewiges Buch geschrieben hat, dass ich ein Kind des Teufels bin? Es mag sein, dass sich Entsprechungen zu dieser Aussage finden lassen, aber bisher hatte ich Eckhart eigentlich so verstanden, dass jeder eine Chance hat.

Zum HTML-Text

1 Der mittelhochdeutsche Text stammt von der Website "Middle High German Interlinked ", einer Gemeinschaftsarbeit des 'Electronic Text Center ' der University of Virginia Library in Zusammenarbeit mit 'Digitales Mittelhochdeutsches Textarchiv ' der Universität Trier, der aus der kritischen Edition der deutschen und lateinischen Werke (hier DW 5, S. 400-434) digitalisiert wurde (s. Links).
  Die Übersetzung entspricht dem Abdruck im gleichen Band, S. 539-547, wobei die Zeilenzählung dort nicht erscheint. Die Zusätze Quints, ob kursiv oder in (), sind ebenfalls wiedergegeben (kursiv hier nicht als 'italic', sondern als Farbe [s. Hilfe], die Worte in runden Klammern eingerückt).
  Die Nummerierung der Absätze finden sich nicht in den Handschriften oder den Editionen, sondern sind zur Online-Referenzierung des Textes gedacht. Diesmal habe ich als Lesezeichen keine eigenen Formulierungen verwendet, sondern den jeweiligen Beginn eines Abschnittes. [4.12.09]

Edition (2 Dr., 32 Hss.)
  DW 5, Nachträge: (7)
  Nicht in DW 5 enthalten: (11)

  Pfeiffer, Traktat Nr. IX, S. 483,30-493,11.
  Schaefer, [Schaefer].
  Quint, DW 5, S. 400-437.
Übersetzungen: Büttner I S. 9 ff. (u.a.), Landauer, S. 165-181.
Link: Meister Eckharts Mystische Schriften

Filiation
  "Die gesamte hsl. Überlieferung der Volltexte zerfällt sehr deutlich in zwei Hauptgruppen, die Schaefer mit α () und β () bezeichnete" (DW 5, S. 387).
  Bei den Fragment-Texten zählen zur α-Gruppe, während Do2, Mai7 (S. 387) und D1 (S. 390) sowie Me5, Me7 und die Volltext-Hs. Me8 der β-Gruppe zugeordnet werden (S. 465).
  Die Fragmenttext-Hss. lassen sich wegen ihrer Kürze keiner der beiden Gruppen zuweisen (S. 387) und die von Schaefer angeführten Hss. B3 und Mai6 mit dem sehr kurzen Auszug aus Pf. 490,35-491,2 sind von Quint nicht in die Edition aufgenommen worden, da er sie mit Spamer als Auszug aus Pf. 513,15-23 identifizierte (S. 383). Ein Ein-Satz-Fragment in der Hs. M21 wird nicht berücksichtigt.
  "Die Hauptunterschiede [der beiden Gruppen] bestehen darin, daß:
1) die β-Gruppe (abgesehen von Ko, dessen Text bereits bei .. S. 431,7 abbricht [s. n. 12]) einen anderen, u. zw. mit Sicherheit unursprünglichen Schluß des Traktats überliefert ... (S. 387).
2) die α-Gruppe eine Reihe von längeren und kürzeren Plusstücken gegenüber dem Text der β-Gruppe aufweist ..." (S. 388). Die α-Gruppe unterteilt sich weiter in Dau-Mai2-Gra (α1) und Mai9-St5 (α2), was vor allem die Behandlung von Zitaten auf Latein und der deutschen Übersetzung betrifft. Die Hs. Ko nimmt eine Mittlerstelle zwischen den beiden Gruppen ein, da sie sowohl über α- als auch β-Elemente verfügt (S. 389).
  B4 und Ba2-St4 bilden eine Sondergruppe, "die keiner der beiden Hauptgruppen unterzuordnen ist" (Schaefer, S. 70; DW 5, S. 389). St2 wurde nicht berücksichtigt, paßt aber zu dieser Gruppe, da das Fragment direkt an Ba2-St4 anschließt. [15.12.09]

Handschriften und Drucke (chronologisch)

0  wg. der Kürze weder α noch β zuzuordnen
1  Nachträge S. 624
2  bei Schaefer; von Quint nicht aufgenommen
3  Quint noch nicht bekannt

Hs.Fil.DatumMundartHerkunftTextauch in der Hs.
0
0
0
3
Mitte 14.
14./15.
Ende 14. (1391)
14.
südalem.

alem.
alem., elsäss.
Kartause Basel

Straßburg Dominikanerinnen
Elsaß
fragm.
fragm.
fragm.
fragm.
BgT, VeM, viele DW und Pf.
VeM, Q 4, Pf. Spr., LP
S. 101-105, Pf. Spr., LP
S. 101-105, MEW, Katrei
αβ
α2
β
α3
3
β
β
β
0
β
α
α
β
β
A. 15.
um 1420
1423-24
1429
2. V. 15.
1435
um 1440
1440
1441
1444
1445
15.
1447
1. H. 15.
nd.alem.-ostrh.fränk.
elsäss.
mittelbair.
westmitteldt.
elsäss.
ostalem.
bair.

elsäss., niederalem.
(bair.)
schwäb.
ostfränk.-nordbair.
nürnb., alem.
nürnb., bair.
Schönensteinbach Dominikanerinnen ?
Straßburg
Indersdorf Augustiner (Tegernsee)
Margarete von Rodemachern

Kartause Buxheim
Melk

Lahr / Basel
(Melk)
(Augsburg)
Frauenkloster
Nürnberg Dominikanerinnen
Nürnberg Dominikanerinnen
Voll
Voll
Voll
Voll
fragm.
Voll
fragm.
fragm.
fragm.
fragm.
fragm.
fragm.
Voll
Voll
Q 2, Q 52, S 103-105, MEW
Q 1, S 103, Pf. Prr., Tr.
allein
Q 45
7 Prr. DW, Pf. 37 [S 113], LP
+ 15 Prr. DW
diverse
allein
viele
allein
Q 23, S 101, 104, MET, Pf. LP
S 101, 104, Q 52, RdU fr.
Q 33, S 104, 105, S 115, RdU fr.
Q 54a, Pf. 50
α
3
β
α2
2
3
3
1
β
β
α2
α
1
1
Mitte 15.
2. H. 15.
3. V. 15.
3. V. 15.
14. u. n. M. 15.
um 1450
1440-55
1450-54
1454
1455
1458
1458
15. (1458)
1457-60
alem.
nordbair.
schwäb.
elsäss., alem.
oberdt. (alem.)
bair.
bair., alem.
mittelbair.
mittelbair.
bair.
nordbair.
schwäb.
schwäb.

Rebdorf
Kartause Buxheim
Kirchheim Zisterzienserinnen
Straßburg Dominikanerinnen
Melk
Melk
Straßburg ?
Tegernsee
Melk

Rebdorf
Kartause Buxheim
fragm.
fragm.
Voll
Voll
fragm.
fragm.
fragm.
fragm.
Voll
Voll
Voll
fragm.
fragm.
fragm.
S 105
Q 52
allein
Q 21, Pf. Spr., LP
Q 16b, Q 76, Jo
viele DW, ., Katrei
DW, Lö., Pf. Tr., LP
RdU fr., Pf. Spr. 66
allein
Schwester Katrei
Zitate, Q 45 fr.
u.a. S 101, 104, Pf. Tr., Spr., LP
viele DW
viele Prr. fragm.
0
α
1
α
1456; nach 1482
3. D. 15.
1465
1468
bair.-österr.
bair.
bair.
mittelbair.
 
Landshut
Eger Franziskanerkloster
Tegernsee
fragm.
fragm.
Voll
fragm.
div. Fragmente
allein
S. 101-104, RdU fr.
u.a. S 101, 104, Pf. Tr., Spr., LP
α1
2
β
3
α1
β
α1
1
β
4. V. 15.
4. V. 15.
1474
1475/77
1477-78 (1411)
1478
1484 / 87
1488
15. (vor 1497)
ostschwäb.
schwäb.
ostschwäb.
alem., schwäb.
md.
mittelbair.

(rheinhess.)
alem., schwäb.
Kl. Kirchheim / Ries


Indersdorf

Tegernsee
Kartause Seiz
Kloster in Alzey
Konstanz (?)
Voll
fragm.
fragm.
fragm.
Voll
Voll
Voll
Voll
fragm.
S 101, 102, 104, MEB
Q 71, Jo., Pf. 76,1, Kat., RdU fr.
S 116, Pf. Tr., Spr., LP
MEW
S 101-104, MEW
allein
allein
allein
Pf. Tr. 10 fr.
α 1509-13 alem. (Oberrhein ?) fragm. allein
β
α
1516
1670
Straßburg
Frankfurt
fragm.
Voll
allein
allein
α 17. mnl. fragm. allein

Anmerkung:
Diese Chronologie ist ein erster Versuch. Hier kann und muss wahrscheinlich noch einiges umgestellt werden. [12.4.10]

Fragmenttexte der Hss. Ba2 und B4


Analyse
Übersetzung
B4
Analyse
Übersetzung

Ba2
DW 5, S. 377 f., Schaefer, S. 36 f.

S. 432,3-10 gote. + Plusstück + 433,1-2 lîden, + Plusstück + 2-4 hân; + Plusstück + 433,6 Daz - 8 gotheit, + Plusstück + 430,13-432,2 leben. + Plusstück + 2-3 schepfer. + 1 Satz:

Text

Ein lerer spricht nement / war alle uernúnftigen creature / sit der lust den wir hatten an liep/lichen bilde xpi vns sumet dc wir / des heiligen geistes nit mochten / enpfahn wie vil sumet vns / denn me gegen got alle creaturen / der vngeordenoter lust den wir / nement vf disen citlichen din/gen vnt hie von ist abgescheiden/heit dc beste wan es reiniget / die sele vnt lútert die conciencie / vnt entzúndet dc herce vnt erweket / den geiste vnt scheidet abe die creaturen vnt vereinet (280va) sich mit got wan dú geteilte / minne ist als ein wasser indem / vor gotte vnt ein vereiniget minne / ist gotte als der wabe inde honig / Nement war allú menschen / dc snelle tiere dc úch do / treit zuo dirre volkomenheit dc ist / lidenne wan es enwart nie / creature geliche xpo an bitterlicherm / lidenne vnd enwirt ime ouch nie / mer kein creature geliche an su(e)ssikeit / vmb dc er gelitten het vnd hervmbe / nússet in himelriche nieman mer / ewiger su(e)ssikeit denn die in erent / vf ertriche mit lidenne vnd die / do stant mit xpo inder ho(e)chsten / bitterkeit die bruchent vnd niessent / mit ime die groesten froede / Es enist nit bitters denne lidenne / vnt ist nút su(e)ssers denn gelitten / han es ist in dirre cit nit truri/geres denn lidenn vnd ist in ewekeit / nit froedenrichers denn gelitten / han Liden ist ein ustriberin der creaturen vnt ein herbergerin gottes vnd / darvmb begerte s. bern<hart> niemer / ce sinne ane liden (liden auf den Rand nachgetragen) durch got / Dauid sprichet gerechter / lúten betru(e)pnús (280 vb) der ist vil aber fon allen disen / erloeset si got si saten trehern / inder citlicher bitterkeit vnt findent / froede in ewiger su(e)ssikeit dar / vmb sprichet sant paulus bru(e)der wenn úch / etwc von núwen beschicht so / froewent úch dc ir gemi worden / sint der pine x(i) wer do buwet / der nature bitterkeit des herberg stat / in ewiger seligkeit vnt der do hie / vfricht der nature su(e)ssikeit des hus / stat in ewiger bitterkeit Das veste fundamente dar / vf disú volkomenheit stat / dc ist demu°t wann welhú menschli/chú nature hie buwet inder tieffi der / demu°t dez geiste flúget indaz / ho(e)chste der gotheit es ist vor den / lúten nit uerworfeneres denn lidenn / vnt vor got nit wirdigers denne / gelitten han es entstellet den / lip vor den luten vnt cieret aber / den geist vor got nút me denn / gelitten han / Es sprichet xpc es ist úch sere / nútze dc ich von úch / gange vnt gan ich von úch nit / so mag úch der heiliggeist / nit werden recht als ob er (281ra) spreche ir hant ce fil lustes zuo /minem gegenwúrtigen bilde / hervmb mag úch der volkomen / lust des heiligen geiste nicht / werden hervmb scheident abe / dú bilde vnt uereinent úch dem / goetlichen wesenne wann min / geistlicher troste ist zart vnt dar / vmb wil ich mich nieman erbieten / denne dem der allen fleischlichen / trost uersmahet es ist nieman / bas gemeinet denn der do stat / in der hoechsten abgescheidenheit / Es mag enkein fleischlicher / troste beschehen niemer nicht / der an geistlichen schaden múgi / cergan wame dc fleische begeret / wider den geiste vnt der geist wider / dc fleische vnt sú sint wider einander / Hervmb wer indc fleische / seyet vngeordenot min/ne der schnidet von dem fleisch / den ewigen tot vnt wer indem / geist seyet goetliche minne / die snident von dem geist das / ewig leben vnt wer indc flei / (sche fehlt) zwyet der nature su(e)ssikeit / der liset abe dc ops der bitterkeit / vnt wer indc fleische denne (281rb) pflantzet der nature bitterkeit der / snidett abe den truben der / ewigen su(e)ssikeit Hervmb so / scheident abe dc do fleischlich / ist vnt einigent úch zu° dem / dc do geistlichen ist wann ie / balder ir louffent vnd fliehent / von der geschoepft ie balder / vnt snelleclicher úch zu°loffet / der schoepfer sterben der citte / ist leben in got.

Anmerkung
Es gibt für mittelhochdeutsche Zeichen noch keine digitalen Entsprechungen, weshalb ich hier einige Zeichen anders darstellen muss (andere sind nicht darstellbar - wie z.B. i mit einem Querstrich statt eines Punktes, d.h. für den Originaltext ist nach wie vor die Edition heranzuziehen):
- ein ° auf einem u ersetzt durch ,
- ein e auf einem Vokal durch Vokal und angehängtes (e) und
- ein ' auf einem u durch ú.
Abkürzungen in der Hs.: xpc für Christus und dc für daz.

Analyse

Ein lerer spricht {nement / war
Pf. 492,13-24
  alle uernúnftigen creature / sit der lust den wir hatten an liep/lichen bilde xpi vns sumet dc wir / des heiligen geistes nit mochten / enpfahn wie vil sumet vns / denn me gegen got alle creaturen / der vngeordenoter lust den wir / nement vf disen citlichen din/gen vnt hie von ist abgescheiden/heit dc beste wan es reiniget / die sele vnt lútert die conciencie / vnt entzúndet dc herce vnt erweket / den geiste vnt scheidet abe die creaturen vnt vereinet (280va) sich mit got [432,3-10]} wan dú geteilte / minne ist als ein wasser indem / vor gotte vnt ein vereiniget minne / ist gotte als der wabe inde honig / {Nement war allú menschen / dc snelle tiere dc úch do / treit zuo dirre volkomenheit dc ist / lidenne [433,1-2]}
433,2
  wan es
Plusstück 1 (s. Ps 1 B4)
  enwart nie / creature geliche xpo an bitterlicherm / lidenne vnd enwirt ime ouch nie / mer kein creature geliche an su(e)ssikeit / vmb dc er gelitten het vnd hervmbe / nússet in himelriche
433,2-3
  nieman
{Pf. 492,25:
  mer / ewiger su(e)ssikeit denn}
Plusstück 2
  die in erent / vf ertriche mit lidenne vnd
433,3:
  die / do stant mit xpo inder ho(e)chsten / bitterkeit
Plusstück 3
  die bruchent vnd niessent / mit ime die groesten froede /
433,3-4 (Pf. 492,26-27)
  Es enist nit bitters denne lidenne / vnt ist nút su(e)ssers denn gelitten / han
Plusstück 4
  es ist in dirre cit nit truri/geres denn lidenn vnd ist in ewekeit / nit froedenrichers denn gelitten / han Liden ist ein ustriberin der creaturen vnt ein herbergerin gottes vnd / darvmb begerte s. bern<hart> niemer / ce sinne ane liden (liden auf den Rand nachgetragen) durch got / Dauid sprichet gerechter / lúten betru(e)pnús (280 vb) der ist vil aber fon allen disen / erloeset si got si saten trehern / inder citlicher bitterkeit vnt findent / froede in ewiger su(e)ssikeit dar / vmb sprichet sant paulus bru(e)der wenn úch / etwc von núwen beschicht so / froewent úch dc ir gemi worden / sint der pine x(i) wer do buwet / der nature bitterkeit des herberg stat / in ewiger seligkeit vnt der do hie / vfricht der nature su(e)ssikeit des hus / stat in ewiger bitterkeit
433,6-8 (Pf. 492,27-29)
  Das veste fundamente dar / vf disú volkomenheit stat / dc ist demu°t wann welhú menschli/chú nature hie buwet inder tieffi der / demu°t dez geiste flúget indaz / ho(e)chste der gotheit
Plusstück 5
  es ist vor den / lúten nit uerworfeneres denn lidenn / vnt vor got nit wirdigers denne / gelitten han
433,4-6
  es entstellet den / lip vor den luten vnt cieret aber / den geist vor got nút me denn / gelitten han /
430,13-432,2 (Pf. 491,37-492,11)
  Es sprichet xpc es ist úch sere / nútze dc ich von úch / gange vnt gan ich von úch nit / so mag úch der heiliggeist / nit werden recht als ob er (281ra) spreche ir hant ce fil lustes zuo /minem gegenwúrtigen bilde / hervmb mag úch der volkomen / lust des heiligen geiste nicht / werden hervmb scheident abe / dú bilde vnt uereinent úch dem / goetlichen wesenne wann min / geistlicher troste ist zart vnt dar / vmb wil ich mich nieman erbieten / denne dem der allen fleischlichen / trost uersmahet es ist nieman / bas gemeinet denn der do stat / in der hoechsten abgescheidenheit / Es mag enkein fleischlicher / troste beschehen niemer nicht / der an geistlichen schaden múgi / cergan wame dc fleische begeret / wider den geiste vnt der geist wider / dc fleische vnt sú sint wider einander / Hervmb wer indc fleische / seyet vngeordenot min/ne der schnidet von dem fleisch / den ewigen tot vnt wer indem / geist seyet goetliche minne / die snident von dem geist das / ewig leben
Plusstück 6
  vnt wer indc flei / [sche fehlt] zwyet der nature su(e)ssikeit / der liset abe dc ops der bitterkeit / vnt wer indc fleische denne (281rb) pflantzet der nature bitterkeit der / snidett abe den truben der / ewigen su(e)ssikeit Hervmb so / scheident abe dc do fleischlich / ist vnt einigent úch zu° dem / dc do geistlichen ist wann ie / balder ir louffent vnd
432,2-3 (Pf. 492,12-13)
  fliehent / von der geschoepft ie balder / vnt snelleclicher úch zu°loffet / der schoepfer
Plusstück 7
  sterben der citte / ist leben in got.

Übersetzung

  Hier merkt auf, alle Verständigen! Da (schon) das Wohlgefallen, das wir an der leiblichen Erscheinung Christi empfinden könnten, uns an der Empfänglichkeit für den Heiligen Geist behindert, um wie viel mehr behindert uns denn Gott gegenüber die ungezügelte Lust, die wir nach vergänglichem Trost empfinden! Deshalb ist Abgeschiedenheit das Allerbeste, denn sie reinigt die Seele und läutert das Gewissen und entzündet das Herz und weckt den Geist und beschleunigt das Verlangen und läßt Gott erkennen und scheidet ab die Kreatur und vereinigt sich mit Gott. (432,3-10)
  Nun gebt acht, alle Verständigen! Das schnellste Tier, das euch zu dieser Vollkommenheit trägt, ist das Leiden; denn es genießt [+ Ps 1 +] niemand mehr ewige Süßigkeit als die, [+ Ps 2 +] die mit Christus in der größten Bitterkeit stehen [+ Ps 3 +]. Es ist nichts galliger als Leiden, und es gibt nichts Honigsüßeres als Gelitten-Haben; (433,1-4) [+ Ps 4 +]
  Das festeste Fundament, worauf diese Vollkommenheit stehen kann, das ist Demut; denn wessen Natur hier in der tiefsten Niedrigkeit kriecht, dessen Geist fliegt empor in das Höchste der Gottheit (433,6-8) [+ Ps 5 +]
  es entstellt nichts mehr den Leib vor den Leuten als Leiden, hingegen ziert nichts mehr die Seele vor Gott als Gelitten-Haben (433,4-6)
  der beachte Christi Worte [- , die er über seine Menschheit sprach, als er zu seinen Jüngern sagte: -] 'Es ist euch nütze, daß ich von euch gehe, und gehe ich nicht von euch, so kann euch der Heilige Geist nicht zuteil werden', gleichsam, als ob er spräche: Ihr habt zuviel Wohlgefallen an meiner gegenwärtigen Erscheinung gefunden, deshalb kann euch die vollkommene Freude des Heiligen Geistes nicht zuteil werden. Darum scheidet ab die bildhafte Erscheinung, und vereinigt euch mit dem formlosen Sein, denn Gottes geistiger Trost ist feingeartet; darum will er sich niemand darbieten als dem, der leiblichen Trost verschmäht. [- Nun merkt auf, alle Verständigen! -] Niemand ist frohgemuter, als der da steht in der größten Abgeschiedenheit. Kein fleischlicher und leiblicher Trost kann je ohne geistigen Schaden sein, 'denn das Fleisch begehrt wider den Geist und der Geist wider das Fleisch'. Wer immer daher im Fleische zuchtlose Liebe aussät, der erntet den ewigen Tod; und wer immer im Geiste rechte Liebe aussät, der erntet vom Geist das ewige Leben. [+ Ps 6 +]
  je schneller der Mensch von der Schöpfung flieht, desto schneller läuft ihm der Schöpfer zu. (432,2-3) [+ Ps 7 +] [15.12.09]

B4
(DW 5, S. 377, Schaefer, S. 35 f.)

S. 433,1 Daz - 2 lîden, + Plusstück + 2-4 hân; + Plusstück + 4 ez - 6 hân. + Plusstück + 432,7 reiniget - 8 herze + 9 und³ - 10 gote.:

Text

Das snelleste tier / Das úch treit zu° aller vollekomenheit / Das ist liden wan es enwart nie / creature glicher xpo an bitterlichem / lidende vnd wurt niemer creature glicher / an su(e)sser su(e)ssekeit vmb Das ich gelitten / han Hie von nússet in himelriche nieman / me ewiger su(e)ssekeit Dan Die vf erden / stant mit xpo in Der ho(e)hesten bitterkeit / Es ist nút glichers Dan liden vnd ist / nút honig seimers Dan gelitten han / Es ist in Der zit nút trurigers Danne / liden vnd ist in ewekeit nút fro(e)lichers / Dan gelitten han. Es ist vor den lúten / nút hinewúrffigers Dan liden vnd / ist vor gotte vnd vor sinen engeln nút / Erbietegers Dan gelitten han Es / enwart nie so vaste geru(e)met (356 v) Ein wol stritender Ritter also got vnd / alles himelsches her Ru(e)ment / einen wollidenden mo(e)nschen Es / entstellet Den lip vor den lúten nút / me dan liden vnd zieret aber die / sele vor gotte nút me Denne gelitten / han Liden ist eine vsztriberin Der / mo(e)nschen vnd ist eine herbergeryn / gottes Har vber sprichet sant / Bernhart Herre Du hest gesprochen / Du wellest by allen betru(e)beten / hertzen sin so bitte ich Dich Das Du / mich one hertzecliche betru(e)bede niemer / gelossest so das du allewegent by mir / sist Liden Reiniget die sele vnd lútert / Die conciencie vnd entzúndet dz hertze / vnd vereiniget sich mit gotte.

Anmerkung
Es gibt für mittelhochdeutsche Zeichen noch keine digitalen Entsprechungen, weshalb ich hier einige Zeichen anders darstellen muss (andere sind nicht darstellbar - wie z.B. i mit einem Querstrich statt eines Punktes, d.h. für den Originaltext ist nach wie vor die Edition heranzuziehen):
- ein ° auf einem u ersetzt durch ,
- ein e auf einem Vokal durch Vokal und angehängtes (e) und
- ein ' auf einem u durch ú.

Analyse

433,1-2 (Pf. 492,23-24)
  Das snelleste tier / Das úch treit zu° aller vollekomenheit / Das ist liden
Plusstück 1 (s. Ps 1 Ba2)
  wan es enwart nie / creature glicher xpo an bitterlichem / lidende vnd wurt niemer creature glicher / an su(e)sser su(e)ssekeit vmb Das ich gelitten / han Hie von nússet in himelriche
433,2-4 (Pf. 492,24-27)
  nieman / me ewiger su(e)ssekeit Dan Die vf erden / stant mit xpo in Der ho(e)hesten bitterkeit / Es ist nút glichers Dan liden vnd ist / nút honig seimers Dan gelitten han /
Plusstück 2
  Es ist in Der zit nút trurigers Danne / liden vnd ist in ewekeit nút fro(e)lichers / Dan gelitten han. Es ist vor den lúten / nút hinewúrffigers Dan liden vnd / ist vor gotte vnd vor sinen engeln nút / Erbietegers Dan gelitten han Es / enwart nie so vaste geru(e)met (356 v) Ein wol stritender Ritter also got vnd / alles himelsches her Ru(e)ment / einen wollidenden mo(e)nschen
433,4-6
  Es / entstellet Den lip vor den lúten nút / me dan liden vnd zieret aber die / sele vor gotte nút me Denne gelitten / han
Plusstück 3
  Liden ist eine vsztriberin Der / mo(e)nschen vnd ist eine herbergeryn / gottes Har vber sprichet sant / Bernhart Herre Du hest gesprochen / Du wellest by allen betru(e)beten / hertzen sin so bitte ich Dich Das Du / mich one hertzecliche betru(e)bede niemer / gelossest so das du allewegent by mir / sist Liden
432,7-8 + 9-10 (vgl. Pf. 492,17-21)
  Reiniget die sele vnd lútert / Die conciencie vnd entzúndet dz hertze / vnd vereiniget sich mit gotte.

Übersetzung

  Das schnellste Tier, das euch zu dieser Vollkommenheit trägt, ist das Leiden (433,1-2) [+ Ps 1 +]
  denn es genießt niemand mehr ewige Süßigkeit als die, die mit Christus in der größten Bitterkeit stehen. Es ist nichts galliger als Leiden, und es gibt nichts Honigsüßeres als Gelitten-Haben (433,2-4) [+ Ps 2 +]
  es entstellt nichts mehr den Leib vor den Leuten als Leiden, hingegen ziert nichts mehr die Seele vor Gott als Gelitten-Haben. (433,4-6) [+ Ps 3 +]
  reinigt die Seele und läutert das Gewissen und entzündet das Herz [- und weckt den Geist und beschleunigt das Verlangen und läßt Gott erkennen und scheidet ab die Kreatur -] und vereinigt sich mit Gott. (432,7-8 + 9-10) [15.12.09]

Beschreibung
  Der Text des Traktats ist in 18 Hss. vollständig (oder fast vollständig) und in 28 (bzw. 26 Hss. - B3 und Mai6 nicht mitgezählt) fragmentarisch überliefert, sowie in min. einem Druck (SG) fragmentarisch und min. einem Druck (FT) vollständig. In einigen Hss. sind nur einzelne Sätze enthalten. Die von Quint im "Var.-App. nicht" berücksichtigten Hss. B4, Ba2 und St4 stehen am Anfang der Überlieferung. Der Ursprung des Textes verweist auf den alemannischen Sprachraum, was sowohl aus den Mundarten als auch dem Verbreitungsgebiet ersichtlich wird.
  Als Pfeiffer den Text 1857 als Traktat Nr. 9 veröffentlichte, gab er an, er habe auf die Hss. Ko und St4 zurückgegriffen. Da die beiden aber nicht den vollständigen von Pfeiffer gebotenen Text abdecken, lag die Vermutung nahe, dass er auf eine dritte Hs. zurückgegriffen haben mußte, die Quint in der Edition als die Volltext-Hs. M23 identifizierte (S. 390). Die vermutlich ältesten Hss. B4, Ba2, St4 und St2 enthalten Fragmente aus den letzten beiden Abschnitten des Traktats, die Ko nicht überliefert, aber in M23 vorliegen. Ba2 und St4 bieten den gleichen Text Pf. 491,37-492,29 (s. Ba2) in unterschiedlicher Reihenfolge, B4 ist ein Auszug daraus (Pf. 492,17-27; s. B4) und St2 schließt direkt daran an (Pf. 492,30-493,10).
  Der Traktat fand seine größte Verbreitung im 15. Jh., wobei etwa die Hälfte aller Hss. in den Zeitraum 1440-1460 fällt. Abgesehen von zwei Volltext-Hss. in mitteldeutscher Mundart (Kn3 1458 und Dau 1477/78) und einer fragm. Überlieferung in mittelniederländisch aus dem 17. Jh. () sind die Schriftsprachen alemannisch, elsässisch, schwäbisch, fränkisch und bairisch, d.h. die Verbreitung des Traktats beschränkt sich auf den süddeutschen (Vor)alpenraum oder, anders ausgedrückt, der Traktat ist ein Text der Berge.
  Quint wählte wie schon Schaefer M23 als Leittext für die Textkonstituierung und zog Ko "als zwischen den beiden Gruppen [α und β]" vermittelndem Text "in besonderem Maße" heran (DW 5, S. 391). [18.12.09]

Echtheit
  Adolf Spamer, der Pfeiffers Texte einer Untersuchung unterzog, stellte 1909 fest: "Pfeiffer gibt als quellen für diesen tractat die hss. Koblenz 43 (Ko) und Stuttgart 8º.13 (St4) an. Aber keine von beiden kann seinem text zu grunde gelegen haben. Die hs., nach der Pf. druckte, ist mir leider nicht bekannt" (S. 381). Er stellte dann weitere Handschriften vor (B4, B18, Ba2, M21, M27, M28, St7 und Seuses 'Büchlein der ewigen Weisheit') und schloß: "Keine hs. gibt einen verfasser des tractates von der abgeschiedenheit an. Ein grund, ihn meister Eckehart zuschreiben zu können, ist mir nicht bekannt." [Spamer, Überl., S. 382]
  1956 veröffentlichte Eduard Schaefer, ein Schüler Quints, eine Untersuchung über "Meister Eckeharts Traktat von Abegescheidenheit", worin er der Frage der Echtheit 50 Seiten widmete (S. 97-147) und zu dem Ergebnis kommt: "Deshalb sehe ich (...) keine 'innere Nötigung', den Traktat Von abegescheidenheit Meister Eckehart abzusprechen, ja er kann vielmehr als für Meister Eckehart gesichert angesehen werden" (S. 147). Dies war für Quint "überzeugend dargetan. Die Einwendungen, die (...) insbesondere in den Besprechungen (...) von Fischer, Weiß und Ruh vorgetragen wurden, sind m.E. nicht stichhaltig, bzw. auf Irrtum und Mißverständnis beruhend" [DW 5, S. 392]. Trotzdem sieht sich auch Quint genötigt, den Abdruck des Traktates in den deutschen Werken in zahlreichen Anmerkungen und zur Echtheit auf acht Seiten zu verteidigen.
  In allen 46 (oder 44 Hss., wenn man von B3 und Mai6 absieht) gibt es genau drei Zuschreibungen an Eckhart, wobei zwei von Sudermann stammen, die in Bezug auf die Echtheit nicht wirklich relevant sind. Somit bleibt noch die Zuweisung in St5, wo es f. 33r am Rand heißt: "Meister eckehartz bredigen von der / ynnerlichen geburt xpi" (DW 5, S. 393, 400). Es folgen die Predigt Q 1 und der Traktat. Da hier von 'bredigen' im Plural gesprochen wird und dem Traktat f. 38v die Notiz vorangestellt wird: "Dis ist eine gu°te bredige von abe/gescheidenem leben", geht Quint davon aus, dass der Traktat ebenfalls gemeint ist.
  Einen Überblick über die Diskussion (bis 1995) gibt Kurt Ruh in seiner Geschichte der abendländischen Mystik 3 auf den Seiten 347-351 und 355-358 (mit einer Übersicht der sonstigen Verwendung der Begriffe abegescheiden / abegescheidenheit S. 347-349) und resümiert: "Ich (...) halte den Traktat schlichtweg für unauthentisch (S. 349). Er ist weder als seine Schrift bezeugt, noch von Zeitgenossen und Nachfahren ihm zugeschrieben worden; einzig die Überlieferung hat ihn in Eckharts deutsches Werk integriert. (...) Die Analysen des Traktats sind so zahlreich, daß es an dieser Stelle keiner mehr bedarf. Zu bedauern ist nur, daß durch sie dem Meister Aussagen zugeschrieben und festgeschrieben worden sind, die er nachweisbar nie getan hat (S. 356). Der (..) Traktat ist immer nur unter der Voraussetzung betrachtet worden, daß er Eckharts Schrift ist. Er müßte einmal in der Perspektive eines anonymen Traktats (der er ist), das heißt ohne vorgefaßte Meinung, analysiert werden. Das Resultat würde sich voraussichtlich stark von den vorliegenden Interpretationen unterscheiden (S. 350). Von allen Nachfolgetexten steht 'Von abegescheidenheit' Eckhart am nächsten. Er schreibt den Meister weiter (358)." [Ruh, Mystik]
  "Immerhin kann nach dem Stand der Forschung als gesichert gelten, daß der Text so nicht von Meister Eckhart stammt" [Löser, Melk, S. 7]. [16.12.09]