Liber "Benedictus" II

Vom edlen Menschen 1

edel
Beschreibung
Anmerkung
Edition
Datierung

Disposition der Predigt (s. u.)

Homo quidam
nobilis abiit in regionem longinquam
accipere sibi regnum
Homo
et reverti

[17.12.03]

Homo quidam

  Unser herre sprichet in dem êwangeliô: 'ein edel mensche vuor ûz in ein verrez lant enpfâhen im ein rîche und kam wider'. Unser herre lêret uns in disen worten, wie edel der mensche geschaffen ist in sîner natûre und wie götlich daz ist, dâ er zuo komen mac von gnâden und ouch, wie daz der mensche dar zuo komen sol. Ouch ist in disen worten gerüeret ein grôz teil der heiligen geschrift.

  Unser Herr spricht im Evangelium [1]: »Ein edler Mensch zog aus in ein fernes Land, sich ein Reich zu gewinnen, und kehrte zurück« (Luk. 19, 12). Unser Herr lehrt uns in diesen Worten, wie edel der Mensch geschaffen ist in seiner Natur und wie göttlich das ist, wozu er aus Gnade zu gelangen vermag, und überdies, wie der Mensch dahin kommen soll. Auch ist in diesen Worten ein großer Teil der Heiligen Schrift berührt. - 2

  Man sol ze dem êrsten wizzen und ist ouch wol offenbâr, daz der mensche hât in im zweierhande natûre: lîp und geist. Dar umbe sprichet ein geschrift: swer sich selben bekennet, der bekennet alle crêatûren, wan alle crêatûren sint eintweder lîp oder geist. Dar umbe sprichet diu geschrift von dem menschlîchen, daz in uns ist ein mensche ûzerlich und ein ander mensche innerlich.
  Ze dem ûzerlîchen menschen hœret allez, daz der sêle anehaftende ist, begriffen und vermischet mit dem vleische, und hât ein gemeine werk mit einem und in einem ieglîchen gelide lîphafticlîche als daz ouge, daz ôre, diu zunge, diu hant und des glîche. Und daz nemmet diu geschrift allez den alten menschen, den irdischen menschen, den ûzern menschen, den vîentlîchen menschen, einen dienstlîchen menschen.

  Man soll zum ersten wissen, und es ist auch deutlich offenbar, daß der Mensch in sich zweierlei Naturen hat: Leib und Geist. Darum sagt eine Schrift: Wer sich selbst erkennt, der erkennt alle Kreaturen, denn alle Kreaturen sind entweder Leib oder Geist. Darum sagt die Schrift vom Menschen, es gebe in uns einen äußeren und einen anderen, den inneren Menschen.
  Zu dem äußeren Menschen gehört alles, was der Seele anhaftet, jedoch umfangen ist von und vermischt mit dem Fleische, und mit und in einem jeglichen Gliede ein körperliches Zusammenwirken hat, wie etwa mit dem Auge, dem Ohr, der Zunge, der Hand und dergleichen. Und dies alles nennt die Schrift den alten Menschen, den irdischen Menschen, den äußeren Menschen, den feindlichen Menschen, einen knechtischen Menschen. - 3

  Der ander mensche, der in uns ist, daz ist der inner mensche, den heizet diu geschrift einen niuwen menschen, einen himelschen menschen, einen jungen menschen, einen vriunt und einen edeln menschen. Und daz ist, daz unser herre sprichet, daz ein 'edel mensche vuor ûz in ein verrez lant und enpfienc im ein rîche und kam wider'.

  Der andere Mensch, der in uns steckt, das ist der innere Mensch; den heißt die Schrift einen neuen Menschen, einen himmlischen Menschen, einen jungen Menschen, einen Freund und einen edlen Menschen. Und der ist gemeint, wenn unser Herr sagt, daß »ein edler Mensch auszog in ein fernes Land und sich ein Reich gewann und wiederkam.« - 4

  Noch sol man wizzen, daz sanctus Jeronimus sprichet und ouch die meister sprechent gemeinlîche, daz ein ieglich mensche von dem, daz er mensche ist, hât einen guoten geist, einen engel, und einen bœsen geist, einen tiuvel. Der guote engel rætet und âne underlâz neiget er <ûf> daz guot ist, daz götlich ist, daz tugent und himelschlich ist und êwic ist. Der bœse geist rætet und neiget alle zît den menschen ûf daz zîtlich und zergenclich ist und waz untugent ist, bœse und tiuvelisch. Der selbe bœse geist hât alle zît sîn kôsen mit dem ûzern menschen, und durch in lâget er heimlîche alle zît des innern menschen, rehte als der slange hâte sîn kôsen mit vrou êven und durch sie mit dem manne âdam kôsete. Der inner mensche daz ist âdam. Der man in der sêle daz ist der guote boum, der alles âne underlâz bringet guote vruht, von dem ouch unser herre sprichet. Ez ist ouch der acker, dar în got sîn bilde und sîn glîchnisse hât îngesæjet und sæjet den guoten sâmen, die wurzel aller wîsheit, aller künste, aller tugende, aller güete: sâmen götlîcher natûre. Götlîcher natûre sâme der ist gotes sun, gotes wort.

  Man soll fürderhin wissen, daß Sankt Hieronymus und auch die Meister gemeinhin sagen, ein jeglicher Mensch habe von Anbeginn seines menschlichen Daseins an einen guten Geist, einen Engel, und einen bösen Geist, einen Teufel. Der gute Engel rät und treibt beständig an zu dem, was gut ist, was göttlich ist, was Tugend und himmlisch und ewig ist. Der böse Geist rät und treibt den Menschen allzeit hin zu dem, was zeitlich und vergänglich ist und was Untugend, böse und teuflisch ist. Derselbe böse Geist hält beständig Zwiesprache mit dem äußeren Menschen, und durch ihn stellt er heimlich allzeit dem inneren Menschen nach, ganz so wie die Schlange mit Frau Eva plauderte und durch sie mit dem Manne Adam (vgl. 1 Mos. 3, 1 ff.). Der innere Mensch ist Adam. Der Mann in der Seele [s. Q 18, Q 20b, Q 37, Q 40, Q 43] ist der gute Baum, der immerfort ohne Unterlaß gute Frucht bringt, von dem auch unser Herr spricht (vgl. Matth. 7, 17). Er ist auch der Acker, in den Gott sein Bild und Gleichnis eingesät hat und darein er den guten Samen, die Wurzel aller Weisheit, aller Künste, aller Tugenden, aller Güte sät: den Samen göttlicher Natur (2 Petr. 1, 4). Göttlicher Natur Samen das ist Gottes Sohn, Gottes Wort (Luk. 8, II). - 5

  Der ûzer mensche der ist der vîentlich mensche und der bœse, der unkrût hât dar ûf gesæjet und geworfen. Von dem sprichet sant Paulus: ich vinde in mir, daz mich hindert und dem wider ist, daz got gebiutet und daz got rætet und daz got hât gesprochen und noch sprichet in dem hœhsten, in dem grunde mîner sêle. Und anderswâ sprichet er und klaget: 'owê mir unsæligen menschen! wer lœset mich von disem tœtlîchen vleische und lîbe?' Und er sprichet ouch anderswâ, daz des menschen geist und sîn vleisch alle zît wider einaner strîtent. Daz vleisch rætet untugent und bôsheit; der geist rætet minne gotes, vröude, vride und alle tugent. Der dâ volget und lebet nâch dem geiste, nâch sînem râte, der gehœret ze dem êwigen lebene. Der inner mensche ist der, von dem unser herre sprichet, 'daz ein edel mensche vuor ûz in ein verrez lant enpfâhen im ein rîche'. Daz ist der guote boum, von dem unser herre sprichet, daz er alle zît bringet guote vruht und niemer bœse, wan er wil güete und neiget in güete, in güete in ir selber swebende, unberüeret von diz und von daz. Der ûzer mensche ist der bœse boum, der niemer enmac guote vruht bringen.

  Der äußere Mensch, das ist der feindliche Mensch und der böse, der Unkraut darauf gesät und geworfen hat (vgl. Matth. 13, 24 ff.). Von dem sagt Sankt Paulus: Ich finde in mir etwas, was mich hindert und wider das ist, was Gott gebietet und was Gott rät und was Gott gesprochen hat und noch spricht im Höchsten, im Grunde meiner Seele (vgl. Röm. 7, 23). Und anderswo spricht er und klagt: »0 weh mir unseligem Menschen! Wer löst mich von diesem sterblichen Fleische und Leibe?« (Röm. 7, 24). Und er sagt wieder anderswo, daß des Menschen Geist und sein Fleisch allzeit widereinander streiten. Das Fleisch rät Untugend und Bosheit; der Geist rät Liebe Gottes, Freude, Frieden und jede Tugend (vgl. Gal. 5, 17 ff.). Wer dem Geiste folgt und nach ihm, nach seinem Rate lebt, dem gehört das ewige Leben (vgl. Gal. 6, 8). Der innere Mensch ist der, von dem unser Herr sagt, daß »ein edler Mensch auszog in ein fernes Land, sich ein Reich zu gewinnen«. Das ist der gute Baum, von dem unser Herr sagt, daß er allzeit gute Frucht bringt und nimmer böse, denn er will die Gutheit und neigt zur Gutheit, zur Gutheit, wie sie in sich selbst schwebt, unberührt vom Dies und Das. Der äußere Mensch ist der böse Baum, der nimmer gute Frucht zu bringen vermag (vgl. Matth. 7, 18). - 6

nobilis abiit in regionem longinquam

  Von adel des innern menschen, des geistes, und von untiuricheit des ûzern menschen, des vleisches, sprechent ouch heidenische meister, Tullius und Senecâ, daz enkein redelich sêle enist sunder got; sâme gotes ist in uns. Hæte er einen guoten, wîsen und vlîzigen werkman, sô betrüejete er dester baz und wüehse ûf ze gote, des sâme er ist, und würde diu vruht glîch ein natûre gotes. Birboumes sâme wehset ze birboume, nuzboumes sâme in nuzboum, sâme gotes in got. Ist aber, daz der guote sâme hât einen tumben und einen bœsen werkman, sô wehset unkrût und bedecket und verdringet den guoten sâmen, daz er niht ûzliuhtet noch ûzwahsen enmac. Doch sprichet Origenes, ein grôz meister: wan got selber disen sâmen îngesæjet und îngedrücket und îngeborn hât, sô enmac er wol bedecket werden und verborgen und doch niemer vertilget noch in im verleschet; er glüejet und glenzet, liuhtet und brinnet und neiget sich âne underlâz ze gote.

  Vom Adel des inneren Menschen, des Geistes, und vom Unwert des äußeren Menschen, des Fleisches, sagen auch die heidnischen Meister Tullius und Seneca: { Keine vernunftbegabte Seele ist ohne Gott; der Same Gottes ist in uns. Hätte er einen guten, weisen und fleißigen Ackerer, so würde er um so besser gedeihen und wüchse auf zu Gott, dessen Same er ist, und die Frucht würde gleich der Natur Gottes. Birnbaums Same erwächst zum Birnbaum, Nußbaums Same zum Nußbaum, Same Gottes zu Gott (vgl. 1 Joh. 3, 9) } [vgl. Proc. col. I n. 22]. Ist's aber so, daß der gute Same einen törichten und bösen Ackerer hat, so wächst Unkraut und bedeckt und verdrängt den guten Samen, so daß er nicht ans Licht kommt noch auswachsen kann. Doch spricht Origenes, ein großer Meister: Da Gott selbst diesen Samen eingesät und eingedrückt und eingeboren hat, so kann er wohl bedeckt und verborgen und doch niemals vertilgt noch in sich ausgelöscht werden; er glüht und glänzt, leuchtet und brennt und neigt sich ohne Unterlaß zu Gott hin. - 7

  Der êrste grât des innern und des niuwen menschen, sprichet sant Augustînus, ist, sô der mensche lebet nâch dem bilde guoter und heiliger liute und aber noch gât an den stüelen und heltet sich nâhe bî den wenden, labet sich noch mit milche.

  Die erste Stufe des inneren und des neuen Menschen, spricht Sankt Augustinus, ist es, wenn der Mensch nach dem Vorbilde guter und heiliger Leute lebt, dabei aber noch an den Stühlen geht und sich nahe bei den Wänden hält, sich noch mit Milch labt. - 8

  Der ander grât ist, sô er iezent anesihet niht aleine die ûzerlîchen bilde, ouch guote liute, sunder er löufet und îlet ze lêre und ze râte gotes und götlîcher wîsheit, kêret den rücke der menscheit und daz antlütze ze gote, kriuchet der muoter ûz der schôz und lachet den himelschen vater ane.

  Die zweite Stufe ist es, wenn er jetzt nicht nur auf die äußeren Vorbilder, (darunter) auch auf gute Menschen, schaut, sondern läuft und eilt zur Lehre und zum Rate Gottes und göttlicher Weisheit, kehrt den Rücken der Menschheit und das Antlitz Gott zu, kriecht der Mutter aus dem Schoß und lacht den himmlischen Vater an. - 9

  Der dritte grât ist, sô der mensche mê und mê sich der muoter enziuhet und er ir schôz verrer und verrer ist, entvliuhet der sorge, wirfet abe die vorhte, als, ob er möhte sunder ergerunge aller liute übel und unreht tuon, es enluste in doch niht; wan er ist mit minne gebunden alsô mit guotem vlîze mit gote, unz er in gesetzet und in gewîset in vröude und in süezicheit und sælicheit, dâ im unmære ist allez daz, daz dem unglîch ist und vremde.

  Die dritte Stufe ist es, wenn der Mensch mehr und mehr sich der Mutter entzieht und er ihrem Schoß ferner und ferner kommt, der Sorge entflieht, die Furcht abwirft, so daß, wenn er gleich ohne Ärgernis aller Leute (zu erregen) übel und unrecht tun könnte, es ihn doch nicht danach gelüsten würde; denn er ist in Liebe so mit Gott verbunden in eifriger Beflissenheit, bis der ihn setzt und führt in Freude und in Süßigkeit und Seligkeit, wo ihm alles das zuwider ist, was ihm (= Gott) ungleich und fremd ist. - 10

  Der vierde grât ist, sô er mê und mê zuonimet und gewurzelt wirt in der minne und in gote, alsô daz er bereit ist ze enpfâhenne alle anvehtunge, bekorunge, widermüete und leit lîden williclîche und gerne, begirlîche und vrœlîche.

  Die vierte Stufe ist es, wenn er mehr und mehr zunimmt und verwurzelt wird in der Liebe und in Gott, so daß er bereit ist, auf sich zu nehmen alle Anfechtung, Versuchung, Widerwärtigkeit und Leid-Erduldung willig und gern, begierig und freudig. - 11

  Der fünfte grât ist, sô er lebet allenthalben sîn selbes in vride, stille ruowende in rîcheit und in übernutze der obersten unsprechelîcher wîsheit.

  Die fünfte Stufe ist es, wenn er allenthalben in sich selbst befriedet lebt, still ruhend im Reichtum und Überfluß der höchsten unaussprechlichen Weisheit. - 12

  Der sehste grât ist, sô der mensche ist entbildet und überbildet von gotes êwicheit und komen ist in ganze volkomen vergezzenlicheit zerganclîches und zîtlîches lebens und gezogen ist und übergewandelt in ein götlich bilde, gotes kint worden ist. Vürbaz noch hœher enist enkein grât, und dâ ist êwigiu ruowe und sælicheit, wan daz ende des innern menschen und des niuwen menschen ist êwic leben.

  Die sechste Stufe ist es, wenn der Mensch entbildet ist und überbildet von Gottes Ewigkeit und gelangt ist zu gänzlich vollkommenem Vergessen vergänglichen und zeitlichen Lebens und gezogen und hinüberverwandelt ist in ein göttliches Bild, wenn er Gottes Kind geworden ist. Darüber hinaus noch höher gibt es keine Stufe, und dort ist ewige Ruhe und Seligkeit, denn das Endziel des inneren Menschen und des neuen Menschen ist: ewiges Leben. - 13

  Von disem innern edeln menschen, dâ gotes sâme und gotes bilde îngedrücket und îngesæjet ist, wie der sâme und daz bilde götlîcher natûre und götlîches wesens, gotes sun, erschîne und man sîn gewar werde und ouch etwenne verborgen werde, sprichet der grôze meister Origenes ein glîchnisse, daz gotes bilde, gotes sun, ist in der sêle grunde als ein lebender brunne. Der aber erde, daz ist irdische begerunge dar ûf wirfet, daz hindert und bedecket, daz man sîn niht erkennet noch gewar wirt; doch blîbet er in im selben lebende, und sô man die erde, diu von ûzwendic oben dar ûf geworfen ist, abenimet, sô erschînet er und wirt man sîn gewar. Und sprichet, daz disiu wârheit bezeichent ist in dem êrsten buoche Moysi, dâ geschriben ist, daz Abraham hâte gegraben in sînem acker lebende brunnen und übeltætige liute vulten sie mit erden; und dar nâch, dô diu erde wart ûzgeworfen, dô erschinen die brunnen lebende.

  Für diesen inneren, edlen Menschen, in den Gottes Same und Gottes Bild eingedrückt und eingesät ist, - wie nämlich dieser Same und dieses Bild göttlicher Natur und göttlichen Wesens, Gottes Sohn, zum Vorschein komme und man seiner gewahr werde, wie er aber auch dann und wann verborgen werde, - dafür trägt der große Meister Origenes ein Gleichnis vor: Gottes Bild, Gottes Sohn, sei in der Seele Grund wie ein lebendiger Brunnen. Wenn aber jemand Erde, das ist irdisches Begehren, darauf wirft, so hindert und verdeckt es (ihn), so daß man nichts von ihm erkennt oder gewahr wird; gleichviel bleibt er in sich selbst lebendig, und wenn man die Erde, die von außen oben darauf geworfen ist, wegnimmt, so kommt er (wieder) zum Vorschein und wird man ihn gewahr. Und er sagt, daß auf diese Wahrheit hingedeutet sei im ersten Buche Mosis, wo geschrieben steht, daß Abraham in seinem Acker lebendige Brunnen ergraben hatte, Ubeltäter aber füllten sie mit Erde; danach aber, als die Erde herausgeworfen worden war, kamen die Brunnen lebendig wieder zum Vorschein (1 Mos. 26, 14 ff.). - 14

  Noch ist des wol ein ander glîchnisse: diu sunne schînet âne underlâz; doch, sô ein wolke oder nebel zwischen uns und der sunne ist, sô enwerden wir des schînes niht gewar. Und ouch, sô daz ouge in im selber krank ist und siech oder bedecket ist, sô ist im der schîn unbekant. Ouch hân ich etwenne ein offenbâr glîchnisse gesprochen: sô ein meister bilde machet von einem holze oder von einem steine, er entreget daz bilde in daz holz niht, mêr er snîdet abe die spæne, die daz bilde verborgen und bedecket hâten; er engibet dem holze niht, sunder er benimet im und grebet ûz die decke und nimet abe den rost, und denne sô glenzet, daz dar under verborgen lac. Diz ist der schaz, der verborgen lac in dem acker, als unser herre sprichet in dem êwangeliô.

  Noch gibt's dafür wohl ein weiteres Gleichnis: Die Sonne scheint ohne Unterlaß; jedoch, wenn eine Wolke oder Nebel zwischen uns und der Sonne ist, so nehmen wir den Schein nicht wahr. Ebenso auch, wenn das Auge in sich selbst krank ist und siech oder verschleiert, so ist ihm der Schein nicht erkennbar. Überdies habe ich gelegentlich ein deutliches Gleichnis vorgetragen: Wenn ein Meister ein Bild macht aus Holz oder Stein, so trägt er das Bild nicht in das Holz hinein, sondern er schnitzt die Späne ab, die das Bild verborgen und verdeckt hatten; er gibt dem Holz nichts, sondern er benimmt und gräbt ihm die Decke ab und nimmt den Rost weg, und dann erglänzt, was darunter verborgen lag. Dies ist der Schatz, der verborgen lag im Acker, wie unser Herr im Evangelium spricht (Matth. 13, 44). - 15

  Sant Augustînus sprichet: sô des menschen sêle sich zemâle ûfkêret in die êwicheit in got aleine, sô schînet und liuhtet daz bilde gotes; swenne aber diu sêle sich kêret ûzwert, joch in die tugende ûzerlîcher üebunge, sô wirt alzemâle diz bilde bedecket. Und daz meinet, daz die vrouwen daz houbet bedecket hânt und die mannesnamen blôz nâch sant Paulus lêre. Und dar umbe: allez, daz sich der sêle niderkêret, daz nimet des selben, in daz ez sich kêret, ein decke, ein houbettuoch; daz sich aber ûftreget der sêle, daz ist blôz gotes bilde, gotes geburt, unbedecket blôz in blôzer sêle. Von dem edeln menschen, wie gotes bilde, gotes sun, sâme götlîcher natûre in uns niemer vertilget wirt, aleine er bedecket werde, sprichet künic Dâvît in dem salter: aleine valle in den menschen manigerleie îtelkeit, lîden und jâmerkeit, nochdenne blîbet er in dem bilde gotes und daz bilde in im. Daz gewære lieht liuhtet in der vinsternisse, aleine man des niht gewar enwerde.

  Sankt Augustinus sagt: Wenn des Menschen Seele sich vollends hinaufkehrt in die Ewigkeit, in Gott allein, so scheint auf und leuchtet das Bild Gottes; wenn aber die Seele sich nach außen kehrt, und sei's selbst zu äußerlicher Tugendübung, so wird dies Bild vollkommen verdeckt. Und dies soll es bedeuten, daß die Frauen das Haupt bedeckt tragen, die Männer aber entblößt, nach Sankt Paulus' Lehre (vgl. 1 Kor. 11,4 ff.). Und darum: Alles das von der Seele, was sich niederwärts wendet, das empfängt von dem, zu dem es sich kehrt, eine Decke, ein Kopftuch; dasjenige der Seele aber, was sich emporträgt, das ist bloßes Bild Gottes, Gottes Geburt, unverdeckt bloß in entblößter Seele. Von dem edlen Menschen, wie (nämlich) Gottes Bild, Gottes Sohn, der Same göttlicher Natur in uns nimmer vertilgt wird, wenngleich er verdeckt werden mag, sagt König David im Psalter: Obzwar den Menschen mancherlei Nichtigkeit, Leiden und Schmerzensjammer befällt, so bleibt er dennoch im Bilde Gottes und das Bild in ihm (vgl. Ps. 4, 2 ff.). Das wahre Licht leuchtet in der Finsternis, wenngleich man es nicht gewahr wird (vgl. Joh. 1,5). - 16

  'Niht enahtet', meinet daz buoch der minne, 'daz ich brûn bin, ich bin doch schœne und wol gestalt; aber diu sunne hât mich entverwet'. Diu sunne ist daz lieht dirre werlt und meinet, daz daz hœhste und daz beste, daz geschaffen und gemachet ist, decket und entverwet daz bilde gotes in uns. 'Nemet abe', sprichet Salomôn, 'den rost von dem silber, sô liuhtet und glenzet ûz daz aller lûterste vaz', daz bilde, gotes sun, in der sêle. Und daz ist, daz unser herre meinet an disen worten, dâ er sprichet, daz 'ein edel mensche vuor ûz', wan der mensche muoz aller bilde und sîn selbes ûzgân und dem allem gar verre und gar unglîch werden, jâ, ob er wil und sol den sun nemen und sun werden in des vaters schôz und herzen.

  »Nicht achtet darauf«, meint das Buch der Liebe, »daß ich braun bin, ich bin doch schön und wohlgestaltet; aber die Sonne hat mich entfärbt« (Hohel. 1, 5). »Die Sonne« ist das Licht dieser Welt und meint, daß (selbst) das Höchste und Beste, das geschaffen und gemacht ist, das Bild Gottes in uns verdeckt und entfärbt. »Nehmt weg«, spricht Salomon, »den Rost von dem Silber, so leuchtet und glänzt hervor das allerlauterste Gefäß« (Spr. 25, 4), das Bild, Gottes Sohn, in der Seele. Und das ist es, was unser Herr in jenen Worten sagen will, da er spricht, daß »ein edler Mensch auszog«, denn der Mensch muß aus allen Bildern und aus sich selbst ausgehen und allem dem gar fern und ungleich werden, wenn anders er (wirklich) den Sohn nehmen und Sohn werden will und soll in des Vaters Schoß und Herzen. - 17

accipere sibi regnum

  Allerleie mittel ist gote vremde. 'Ich bin', sprichet got, 'der êrste und der jungeste'. Underscheit enist noch in der natûre gotes noch in den persônen nâch der natûre einicheit. Diu götlîche natûre ist ein, und ieglîchiu persône ist ouch ein und ist daz selbe ein, daz diu natûre ist. Underscheit in wesene und in wesunge wirt genomen ein und ist ein. Dâ ez niht inne enist, dâ nimet ez und hât und gibet underscheit. Dar umbe: in dem einen vindet man got, und ein muoz er werden, der got vinden sol. 'Ein mensche', sprichet unser herre, 'gienc ûz'. In underscheide envindet man noch ein noch wesen noch got noch rast noch sælicheit noch genüegede. Bis ein, daz dû got mügest vinden! Und wærlîche, wærest dû rehte ein, sô blibest dû ouch ein in underscheide und underscheit würde dir ein und enmöhte dich iezent nihtes niht hindern. Ein blîbet glîche ein in tûsentwarbe tûsent steinen als in vier steinen, und tûsentwarbe tûsent ist als wærlîche ein simpel zal, als vieriu ein zal ist.

  Jederart Vermittlung ist Gott fremd. »Ich bin«, spricht Gott, »der Erste und der Letzte« (Geh. Offenb. 22, 13). Unterschiedenheit gibt es weder in der Natur Gottes noch in den Personen entsprechend der Einheit der Natur. Die göttliche Natur ist Eins, und jede Person ist auch Eins und ist dasselbe Eine, das die Natur ist [vgl. Proc. col. I n. 23; Bulle 24, Votum 25]. Der Unterschied zwischen Sein und Wesenheit wird als Eins gefaßt und ist Eins. (Erst) da, wo es (d. h. dieses Eine) nicht (mehr) in sich verhält, da empfängt, besitzt und ergibt es Unterschied. Darum: Im Einen findet man Gott, und Eins muß der werden, der Gott finden soll. »Ein Mensch«, spricht unser Herr, »zog aus«. Im Unterschied findet man weder das Eine noch das Sein noch Gott noch Rast noch Seligkeit noch Genügen. Sei Eins, auf daß du Gott finden könnest! Und wahrlich, wärest du recht Eins, so bliebest du auch Eins im Unterschiedlichen, und das Unterschiedliche würde dir Eins und vermöchte dich nun ganz und gar nicht zu hindern. Das Eine bleibt gleichmäßig Eins in tausendmal tausend Steinen wie in vier Steinen, und Tausendmaltausend ist ebenso gewiß eine einfache Zahl, wie (die) Vier eine Zahl ist. - 18

  Ez sprichet ein heidenischer meister, daz daz ein ist geborn ûz dem obersten gote. Sîn eigenschaft ist wesen ein mit einem. Swer ez suochet under gote, der triuget sich selber. Ouch sprichet der selbe meister ze dem vierden mâle, daz diz ein mit nihte eigenlîcher vriuntschaft enhât dan mit juncvrouwen oder megeden, als sant Paulus sprichet: ich hân iuch kiuschen juncvrouwen getriuwet und gelobet dem einen. Und alsô solte der mensche wesen, wan alsô sprichet unser herre: 'ein mensche gienc ûz'.

  Ein heidnischer Meister sagt, daß das Eine aus dem obersten Gott geboren sei. Seine Eigenart ist es, mit dem Einen eins zu sein. Wer es unterhalb Gottes sucht, der betrügt sich selbst. Und zum vierten, sagt der gleiche Meister, hat dieses Eine mit nichts eigentlichere Freundschaft als mit Jungfrauen oder Mägden, wie denn Sankt Paulus spricht: »Ich habe euch keusche Jungfrauen dem Einen angetraut und verlobt« (2 Kor. 11, 2). Und ganz so sollte der Mensch sein, denn so spricht unser Herr: »Ein Mensch zog aus«. - 19

Homo

  Mensche in der eigenschaft sînes namen in dem lâtine meinet in einer wîse den, der sich alzemâle under got neiget und vüeget, allez, daz er ist und daz sîn ist, und ûfwert got aneschouwet, niht daz sîn, daz er hinder im, nider im, bî im weiz. Daz ist volliu und eigeniu dêmüeticheit; den namen hât er von der erden. Dar abe ich nû niht mê sprechen wil. Ouch meinet daz wort, sô man sprichet mensche, etwaz, daz über natûre ist, über zît ist und über allez daz, daz ze der zît <ist> geneiget oder nâch zît smacket, und daz selbe spriche ich ouch von stat und von lîphafticheit. Noch vürbaz enhât der mensche in einer wîse mit niht niht gemeine, daz ist, daz er nâch disem noch nâch dem niht gebildet noch gelîchet sî und von nihte niht enwizze, daz man in im niergen des nihtes niht envinde noch gewar werde und daz im daz niht alsô gar benomen sî, daz man dâ aleine vinde blôz leben, wesen, wârheit und güete. Wer alsô getân ist, der ist 'ein edel mensche', jâ minner noch mê.

  »Mensch« in der eigenen Bedeutung des Wortes im Lateinischen bedeutet in einem Sinne den, der sich mit allem, was er ist und was sein ist, unter Gott beugt und fügt und aufwärts Gott anschaut, nicht das Seine, das er hinter, unter, neben sich weiß. Dies ist volle und eigentliche Demut; diesen Namen hat er von der Erde. Davon will ich nun nicht weiter sprechen. Wenn man »Mensch« sagt, so bedeutet dieses Wort auch etwas, was über die Natur, über die Zeit und über alles, was der Zeit zugekehrt ist oder nach Zeit schmeckt, erhaben ist, und das gleiche sage ich auch mit bezug auf Raum und Körperlichkeit. Überdies noch hat dieser »Mensch« in gewisser Weise mit nichts etwas gemein, das heißt, daß er weder nach diesem noch nach jenem gebildet oder verähnlicht sei und vom Nichts nichts wisse, so daß man in ihm nirgends vom Nichts etwas finde noch gewahr werde und daß ihm das Nichts so völlig benommen sei, daß man da einzig finde reines Leben, Sein, Wahrheit und Gutheit. Wer so geartet ist, der ist ein »edler Mensch«, fürwahr, nicht weniger und nicht mehr. - 20

  Noch ist ein ander wîse und lêre, waz unser herre heizet einen edeln menschen. Man sol ouch wizzen, daz, die got blôz bekennent, die bekennent ouch mit im die crêatûre; wan bekantnisse ist ein lieht der sêle, und alle menschen begernt von natûre bekantnisse, wan joch bœser dinge bekantnisse ist guot. Nû sprechent die meister, daz, sô man bekennet die crêatûre in ir selber, daz heizet ein âbentbekantnisse, und dâ sihet man die crêatûre in bilden etlîcher underscheide; sô man aber die crêatûre in gote bekennet, daz heizet und ist ein morgenbekantnisse, und alsô schouwet man die crêatûre âne alle underscheide und aller bilde entbildet und aller glîcheit entglîchet in dem einen, daz got selber ist. Diz ist ouch der edel mensche, von dem unser herre sprichet: 'ein edel mensche gienc ûz', dar umbe edel, daz er ist ein und daz er bekennet got und crêatûre in einem.

  Noch gibt es eine andere Erklärungsweise und Belehrung für das, was unser Herr einen »edlen Menschen« nennt. Man muß nämlich auch wissen, daß diejenigen, die Gott unverhüllt erkennen, mit ihm zugleich die Kreaturen erkennen; denn die Erkenntnis ist ein Licht der Seele, und alle Menschen begehren von Natur nach Erkenntnis, denn selbst böser Dinge Erkenntnis ist gut. Nun sagen die Meister: Wenn man die Kreatur in ihrem eigenen Wesen erkennt, so heißt das eine »Abenderkenntnis«, und da sieht man die Kreaturen in Bildern mannigfaltiger Unterschiedenheit; wenn man aber die Kreaturen in Gott erkennt, so heißt und ist das eine »Morgenerkenntnis«, und auf diese Weise schaut man die Kreaturen ohne alle Unterschiede und aller Bilder entbildet und aller Gleichheit entkleidet in dem Einen, das Gott selbst ist. Auch dies ist der »edle Mensch«, von dem unser Herr sagt: »Ein edler Mensch zog aus«, darum edel, weil er Eins ist und Gott und Kreatur im Einen erkennt. - 21

et reverti

  Noch wil ich sprechen und rüeren einen andern sin, waz der 'edel mensche' sî. Ich spriche: sô der mensche, diu sêle, der geist schouwet got, sô weiz er ouch und bekennet sich bekennende, daz ist: er bekennet, daz er schouwet und bekennet got. Nû hât gedunket etlîche liute und schînet gar gelouplich, daz bluome und kerne der sælicheit lige in bekantnisse, dâ der geist bekennet, daz er got bekennet; wan, daz ich alle wunne hæte und ich des niht enwiste, waz hülfe mich daz und waz wunne wære mir daz? Doch enspriche ich sicherlîche des niht. Aleine ist daz wâr, daz diu sêle âne daz doch niht sælic wære, doch enliget diu sælicheit dar ane niht; wan daz êrste, dâ sælicheit ane geliget, daz ist, sô diu sêle schouwet got blôz. Dâ nimet si allez ir wesen und ir leben und schepfet allez, daz si ist, von dem grunde gotes und enweiz von wizzenne niht noch von minne noch von nihte alzemâle. Si gestillet ganze und aleine in dem wesene gotes, si enweiz niht dan wesen dâ und got. Sô si aber weiz und bekennet, daz si got schouwet, bekennet und minnet, daz ist ein ûzslac und ein widerslac ûf daz êrste nâch natiurlîcher ordenunge; wan nieman bekennet sich wîzen wan der ouch wîz ist. Dar umbe, der sich bekennet wîzen, der bûwet und ist ûftragende ûf wîz-wesenne, und er nimet niht sîn bekennen sunder mittel und unwizzende noch von der varwe; sunder er nimet ir bekennen und ir wizzen von dem, daz iezent wîz ist, und enschepfet niht bekennen von der varwe aleine in ir selber, mê er schepfet bekennen und wizzen von geverwetem oder von wîzem und bekennet sich wîzen. Wîz ist vil minner und vil ûzerlîcher dan wîz-wesen. Ez ist vil anderz diu want und daz fundament, dar ûf diu want gebûwen ist.

  Noch auf einen andern Sinn dessen, was der »edle Mensch« sei, will ich zu sprechen kommen und eingehen. Ich sage: Wenn der Mensch, die Seele, der Geist Gott schaut, so weiß und erkennt er sich auch als erkennend, das heißt: er erkennt, daß er Gott schaut und erkennt. Nun hat es etliche Leute bedünkt, und es scheint auch ganz glaubhaft, daß Blume und Kern der Seligkeit in jener Erkenntnis liegen, bei der der Geist erkennt, daß er Gott erkennt; denn, wenn ich alle Wonne hätte und wüßte nicht darum, was hülfe mir das und was für eine Wonne wäre mir das? Doch sage ich mit Bestimmtheit, daß dem nicht so ist. Ist es gleich wahr, daß die Seele ohne dies wohl nicht selig wäre, so ist doch die Seligkeit nicht darin gelegen; denn das erste, worin die Seligkeit besteht, ist dies, daß die Seele Gott unverhüllt schaut. Darin empfängt sie ihr ganzes Sein und ihr Leben und schöpft alles, was sie ist, aus dem Grunde Gottes und weiß nichts von Wissen noch von Liebe noch von irgend etwas überhaupt. Sie wird still ganz und ausschließlich im Sein Gottes. Sie weiß dort nichts als das Sein und Gott. Wenn sie aber weiß und erkennt, daß sie Gott schaut, erkennt und liebt, so ist das der natürlichen Ordnung nach ein Ausschlag aus dem und ein Rückschlag in das Erste; denn niemand erkennt sich als weiß als der, der wirklich weiß ist. Darum, wer sich als weiß erkennt, der baut und trägt auf dem Weiß-Sein auf, und er nimmt sein Erkennen nicht unmittelbar und (noch) unwissend direkt von der Farbe, sondern er nimmt das Erkennen ihrer (d. h. der Farbe) und das Wissen um sie von dem ab, was da gerade weiß ist, und schöpft das Erkennen nicht ausschließlich von der Farbe an sich; vielmehr schöpft er das Erkennen und Wissen von Gefärbtem oder von Weißem und erkennt sich als weiß. Weißes ist etwas viel Geringeres und viel Äußerlicheres als das Weiß-Sein (oder: die Weiße). Etwas ganz anderes ist die Wand und das Fundament, darauf die Wand gebaut ist. - 22

  Die meister sprechent, daz ein ander kraft ist, dâ von daz ouge sihet, und ein ander kraft, dâ von ez bekennet, daz ez sihet. Daz êrste, daz ez sihet, daz nimet ez alzemâle von der varwe, niht von dem, daz geverwet ist. Her umbe ist daz al ein, ob daz, daz geverwet ist, ein stein sî oder ein holz, ein mensche oder ein engel: daz ez aleine varwe habe, dâ liget allez sîn wesen ane.

  Die Meister sagen, eine andere Kraft sei es, mit Hilfe deren das Auge sieht, und eine andere, durch die es erkennt, daß es sieht. Das erstere: daß es sieht, das nimmt es ausschließlich von der Farbe, nicht von dem, was gefärbt ist. Daher ist es ganz einerlei, ob das, was gefärbt ist, ein Stein sei oder (ein Stück) Holz, ein Mensch oder ein Engel: einzig darin, daß es Farbe habe, liegt das Wesentliche. - 23

  Alsô spriche ich, daz der edel mensche nimet und schepfet allez sîn wesen, leben und sælicheit von gote, an gote und in gote blôz aleine, niht von got bekennenne, schouwenne oder minnenne oder swaz dem glîch ist. Dar umbe sprichet unser herre herziclîche wol, daz daz êwic leben ist: bekennen got aleine einen wâren got, niht: bekennen, daz man got bekennet. Wie solte der mensche bekennen sich got bekennende, der sich selben niht enbekennet? Wan sicherlîche, der mensche der bekennet sich selben und anderiu dinc zemâle niht dan got aleine, jâ, in dem, dâ er sælic wirt und sælic ist: in der wurzeln und in dem grunde der sælicheit. Sô aber diu sêle bekennet, daz si got bekennet, sô bekennet si von gote und sich.

  So auch, sage ich, nimmt und schöpft der edle Mensch sein ganzes Sein, Leben und seine Seligkeit bloß nur von Gott bei Gott und in Gott, nicht vom Gott-Erkennen, -Schauen oder -Lieben oder dergleichen. Darum sagt unser Herr beherzigenswert treffend, ewiges Leben sei dies: Gott allein als den einen, wahren Gott zu erkennen (Joh. 17, 3), nicht (aber): zu erkennen, daß man Gott erkennt. Wie sollte (denn auch) der Mensch sich als Gott-erkennend erkennen, der sich selbst nicht erkennt? Denn sicherlich, der Mensch erkennt sich selbst und andere Dinge überhaupt nicht, vielmehr nur Gott allein, fürwahr, wenn er selig wird und selig ist in der Wurzel und im Grunde der Seligkeit. Wenn aber die Seele erkennt, daß sie Gott erkennt, so gewinnt sie zugleich Erkenntnis von Gott und von sich selbst. - 24

  Und nû ist ein ander kraft, alsô ich dâ von hân gesprochen, von der der mensche sihet, und ein ander kraft ist, von der er weiz und bekennet, daz er sihet. Wâr ist daz, daz nû hie in uns diu kraft edeler und hœher ist, von der wir wizzen und bekennen, daz wir sehen, dan diu kraft, von der wir sehen; wan diu natûre beginnet irs werkes an dem krenkesten, aber got der beginnet sîner werke an dem volkomensten. Natûre machet den man von dem kinde und daz huon von dem eie, aber got machet den man vor dem kinde und daz huon vor dem eie. Natûre machet daz holz ze dem êrsten warm und hitzic, und dar nâch sô machet si daz wesen des viures; aber got gibet ze dem êrsten daz wesen aller crêatûre und dar nâch in der zît und doch sunder zît und sunder allez daz, daz dar zuo gehœret. Ouch gibet got den heiligen geist ê dan die gâben des heiligen geistes.

  Nun ist aber eine andere Kraft - wie ich ausgeführt habe -, vermöge deren der Mensch sieht, und eine andere, durch die er weiß und erkennt, daß er sieht. Wahr ist es zwar, daß jetzt, hienieden, in uns jene Kraft, durch die wir wissen und erkennen, daß wir sehen, edler und höher ist als die Kraft, vermöge deren wir sehen; denn die Natur beginnt ihr Wirken mit dem Geringsten, Gott aber beginnt bei seinen Werken mit dem Vollkommensten. Die Natur macht den Mann aus dem Kinde und das Huhn aus dem Ei; Gott aber macht den Mann vor dem Kinde und das Huhn vor dem Ei. Die Natur macht das Holz zuerst warm und heiß, und danach erst läßt sie das Sein des Feuers entstehen; Gott aber gibt zuerst aller Kreatur das Sein, und danach in der Zeit und doch ohne Zeit und (jeweils) gesondert alles das, was dazu (d. h. zum Sein) hinzugehört. Auch gibt Gott den Heiligen Geist eher als die Gaben des Heiligen Geistes. - 25

  Alsô spriche ich, daz sælicheit enist âne daz niht, der mensche enbekenne und wizze wol, daz er got schouwet und bekennet, doch enwelle got des niht, daz mîn sælicheit dar ane lige! Dem anders genüeget, der habe ez im selber, doch erbarmet es mich. Hitze des viures und wesen des viures sint gar unglîch und wunderlîche verre von einander in der natûre, aleine sie gar nâhe sint nâch der zît und nâch der stat. Gotes schouwen und unser schouwen ist zemâle verre und unglîch einander.

  So also sage ich, daß es zwar Seligkeit nicht gibt, ohne daß der Mensch sich bewußt werde und wohl wisse, daß er Gott schaut und erkennt; doch verhüte Gott, daß meine Seligkeit darauf beruhe! Wem's anders genügt, der behalte es für sich, doch erbarmt's mich. Die Hitze des Feuers und das Sein des Feuers sind gar ungleich und erstaunlich fern voneinander in der Natur, obzwar sie nach Zeit und Raum gar nahe beieinander sind. Gottes Schauen und unser Schauen sind einander völlig fern und ungleich. - 26

  Dar umbe sprichet unser herre gar wol, daz ein 'edel mensche vuor ûz in ein verrez lant enpfâhen im ein rîche und wider kam'. Wan der mensche muoz in im selber ein sîn und muoz daz suochen in im und in einem und nemen in einem: daz ist schouwen got aleine; und herwider komen daz ist wizzen und bekennen, daz man got bekennet und weiz.
  Und alle dise rede hât vorgesprochen der wîssage Ezechiel, dô er sprach, daz ein michel adeler mit grôzen vlügeln, mit langen gelidern vol vedern manigerleie kam ze dem lûtern berge und nam daz mark oder den kernen des hœhsten boumes und zôch abe die hœhe sînes loubes und brâhte daz herabe. Daz unser herre heizet einen edeln menschen, daz nemmet der wîssage einen grôzen adeler. Wer ist danne edeler wan der einhalp geborn ist von dem hœhsten und von dem besten, daz crêatûre hât, und anderhalp von dem innigesten grunde götlîcher natûre und des einœde? 'Ich', sprichet unser herre in dem wîssagen Osee, 'wil die edeln sêle vüeren in ein einœde, und ich wil dâ sprechen in ir herze' ein mit einem, ein von einem, ein in einem und in einem ein êwiclîche. âmen.

  Darum sagt unser Herr gar recht, daß »ein edler Mensch auszog in ein fernes Land, sich ein Reich zu gewinnen, und zurückkam«. Denn der Mensch muß in sich selber Eins sein und muß dies suchen in sich und im Einen und empfangen im Einen, das heißt: Gott lediglich schauen; und »zurückkommen«, das heißt: wissen und erkennen, daß man Gott erkennt und weiß.
  Und alles hier Vorgetragene hat der Prophet Ezechiel vorausgesprochen, als er sagte, daß »ein mächtiger Adler mit großen Flügeln, mit langen Gliedern voll mancherlei Federn zu dem lautern Berge kam und entnahm das Mark oder den Kern des höchsten Baumes, riß ab die Krone seines Laubes und brachte es herunter« (Ez. 17, 3 f.). Was unser Herr einen edlen Menschen heißt, das nennt der Prophet einen großen Adler. Wer ist denn nun edler, als der einerseits vom Höchsten und Besten, was die Kreatur besitzt, geboren ist und zum andern aus dem innersten Grunde göttlicher Natur und dessen Einöde? »Ich«, spricht unser Herr im Propheten Osee, »will die edle Seele führen in eine Einöde, und ich will dort sprechen in ihr Herz« (Hosea z, 14). Eines mit Einem, Eines von Einem, Eines in Einem und in Einem Eines ewiglich. Amen.

Anmerkung
1 Der Schrifttext ist der Anfang des Evangelientextes des 2. September laut Quint [DW 5, S. 107], bestätigt von [Ruh, Eckhart, S. 128]. [17.12.03]

Zum HTML-Text

1 Der mittelhochdeutsche Text stammt von der Website "Middle High German Interlinked ", einer Gemeinschaftsarbeit des 'Electronic Text Center ' der University of Virginia Library in Zusammenarbeit mit 'Digitales Mittelhochdeutsches Textarchiv ' der Universität Trier, der aus der kritischen Edition der deutschen und lateinischen Werke (hier DW 5, S. 109-119) digitalisiert wurde (s. Links).
  Die Übersetzung entspricht dem Abdruck in: Josef Quint, Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, München 1963 [Quint, S. 140-149]. Der Text ist identisch mit dem in DW 5 abgedruckten, hat aber den Vorteil, dass hier auch die Zeilen angegeben sind. Die Zusätze Quints, ob kursiv oder in (), sind ebenfalls wiedergegeben (kursiv hier nicht als 'italic', sondern als Farbe [s. Hilfe], die Worte in Klammern eingerückt).
  Die Nummerierung der Absätze finden sich nicht in den Handschriften oder den Editionen, sondern sind zur Online-Referenzierung des Textes gedacht.
  Die Texteinschlüsse in {} zeigen die 2 Auszüge der 1. Liste, soweit sie aus Eckharts Responsio bekannt sind.
  Die Zwischenüberschriften sind nicht in den Handschriften oder dem Text enthalten, sondern entsprechen Quints Einteilung der "Disposition der Predigt" (s. Beschreibung). [29.11.09]

Edition

  Quint, DW 5, S. 106-136.
  Weitere Angaben und Übersetzungen s. Trostbuch [17.12.03]

Beschreibung
  Obwohl Pfeiffer den Text aus Ba2 abschrieb (s. Cod. 15383 = W1), veröffentlichte er ihn nicht in seiner Eckhart-Ausgabe von 1857. Quint bezieht seine Bezeichnung des Trostbuches als Liber "Benedictus" aus Eckharts Vorbemerkung zur 1. Liste, wo er von einem "von mir verfaßten Buche" schreibt, "daß mit den Worten Benedictus Deus beginnt" (s. Proc. Col. I n. 78). Im Trostbuch weist er darauf hin, dass die Predigt dem Buch nachfolge (s. n. 51). Außerdem vermerkt Ba2 am Ende der Predigt (und nicht am Ende des Buches): "Eexplicit liber benedictus" [DW 5, S. 107].
  Quint legte als Leittext den nur in St4 allein überlieferten Text zugrunde, da dieser "durchgehends besser" sei als Ba2 "und auch als die gemeinsame Vorlage von Ba2 M" [DW 5, S. 106].

  "Die Disposition der Predigt folgt dem Schrifttext, dessen Textbestandteile sie nacheinander exegetisiert:
1. Homo quidam (Unterscheidung von äußerem und innerem Menschen)
2. nobilis abiit in regionem longinquam (Bestimmung des "Adels" des inneren Menschen als "Samen Gottes", der verdeckt liegt und entblößt werden muß durch "Ausgehen")
3. accipere sibi regnum (das regnum ist das Eine der Gottheit)
4. Homo (Bestimmung des homo nobilis als a) demütig b) über das Nichts der Kreatur erhaben c) von Natur aus nach Erkenntnis strebend und in der "Morgenerkenntnis" als selbst eins im Einen der Gottheit Gott und die Kreaturen als Eins erkennend)
5. et reverti (zwar gehört das reverti, d.h. der widerslac, das reflektierende Bewußtsein der Gotteserkenntnis als Ingredienz zur Gottschau, aber nicht in ihm, sondern in der reinen Schau Gottes als des Einen liegt die Seligkeit)." [DW 5, S. 108] [29.11.09]

Datierung
  Zu Quints Zeiten drehte sich die Diskussion um die Frage, ob der Liber benedictus um 1308 oder 1313 (Strauch), zwischen 1308 und 1311 (Théry) oder bald nach 1314 (Hammerich, Roos) entstanden sei [DW 5, S. 107]. Erst Kurt Ruh, der immer mehr von der These abrückte, das Buch sei der Königin Agnes von Ungarn gewidmet, datierte es auf einen späteren Zeitpunkt "um 1318".
  Wie bei der Datierung zum Trostbuch angeführt, ist dieses wahrscheinlich in mehreren Bearbeitungsschritten erfolgt, wobei der Text bis n. 51 und der vorliegenden Predigt möglicherweise bereits 1308 vorlag. Da Eckhart das Buch für Agnes von Ungarn geschrieben haben soll (und vielleicht erst danach auf die Idee kam, es weiterzuschreiben und der Allgemeinheit zugänglich zu machen), ist es wohl kein Zufall, dass er als Schrifttext der Predigt den Anfang des Evangelientextes zum 2. September wählte, des Festtages des hl. Stephan von Ungarn, des Schutzpatron Ungarns [DW 5, S. 107f.].
  In welchem Jahr genau und ob er die Predigt vor der Königin hielt, muss vorerst dahingestellt bleiben. [29.11.09]