Sermo XLV 1

sxlv
Beschreibung
Anmerkungen

s. 2008
Edition
Datierung

Accipite armaturam dei
Empfangt die Waffenrüstung Gottes! (Eph. 6,13) [1]


448  'Nehmt die Zucht an!' 1 [2] (Spr. 8,10). Bemerke: wer Gottes Wort auslegt, bedarf des Wissens, das den Verstand erleuchtet, und der Gnade oder Liebe, die das Herz entflammt. Die Zucht schließt beides in sich. Vom Ersten heißt es: 'wer die Zucht liebt, liebt Wissen' (Spr. 12,1). Vom Zweiten: 'habe acht, mein Sohn, auf die Zucht (deines Vaters und mißachte nicht das Gebot deiner Mutter) damit Gnade über dein Haupt komme' (Spr. 1,8 f). 'Haupt' nennt (Salomon) das Verstandesvermögen oder den Geist oder auch die Seelensubstanz selbst, von der alle Vermögen ausfließen. Die Zucht ist gleichsam die Verbindung von Wissen und Liebe: 'Güte' - die Glosse erläutert: "Liebe" - Zucht und Wissen lehre mich' (Ps. 118,66).
449  Was ist aber Zucht? Bernhard sagt von ihm: "wie wohl ordnet die Zucht die ganze Haltung des Leibes und die Verfassung des Geistes! Den Nacken beugt sie, die Miene glättet sie, die Augen bindet sie, rohes Lachen hält sie hintan, die Zunge zähmt sie, die Genußsucht hält sie im Zaum, den Zorn besänftigt sie und (selbst) den Gang bestimmt sie. Es ziemt sich ja, mit solchen Perlen das Gewand des Anstandes zu schmücken". Weil also die Zucht Wissen und Gnade verdient, ist Salomons Wort: 'nehmt die Zucht an!' geeignet, zum Wort Gottes hinzuführen.
450  Empfangt die Waffenrüstung Gottes! Bemerke: wenn Feinde nahen und Gefahr droht, ertönt der Ruf: zu den Waffen! In der heutigen Epistel warnt uns der Apostel vor den Feinden, die uns unmittelbar bedrohen, und vor der größten Gefahr. Deshalb ruft er zu den Waffen mit den Worten: empfangt die Waffenrüstung Gottes!
  Manche besitzen wohl Waffen, aber nur in der Lade oder auf der Stange zur Schaustellung. Das sind die, welche die Tugenden nur in ihren Heften oder in ihrer Wissenschaft und im Wort der Lehre besitzen. Das reicht nicht aus. Den törichten Jungfrauen nützte es wenig, daß sie Lampen und Geld zum Kauf von Öl hatten, denn 'während sie noch gingen, um einzukaufen, wurde die Tür verschlossen' (Matth. 25,10). Da der Apostel also will, daß wir bereit und gerüstet seien, sagt er: empfangt (die Waffenrüstung Gottes) legt sie euch an! Und vorher: [V. 11] zieht an die Waffenrüstung (Gottes)! 'Seid bereit!' (Matth. 24,44) 'Denn ihr wißt weder den Tag noch die Stunde' (25,13).
451  Viererlei aber, wovon in der heutigen Epistel die Rede ist, sollte uns einen starken Antrieb geben, uns zu bewaffnen. Wir haben Feinde: die Welt, in deren Mitte wir von allen Seiten belagert sind, das eigene Fleisch, das in unsern Mauern ist, und den Teufel, der, von vielem andern abgesehen, auch noch unsichtbar ist. Das ist besonders gefährlich. Auch geht dieser Kampf nicht um 'ein Gut dieser Welt' (1. Joh. 3,17) noch um ein zeitliches Leben im Dienst der Gerechtigkeit, sondern um Himmlisches, um das ewige Leben, das wir im Himmel erhoffen.
452  Daher muß Gott selbst uns beistehen. Denn 'in ihm bewegen wir uns, leben und sind mit' (Apg. 17,29). Das (ist die Waffe) gegen den ersten Feind. Ferner senkt Gott selbst sich, wie Augustin sagt, in die Seele ein und ist der Seele näher, als sie sich selbst ist. Das (ist die Waffe) gegen den zweiten. Ferner ist er der, den 'niemand jemals sah' (Joh. 1,18). Daher betet der Apostel zum 'König der Ewigkeit, dem unvergänglichen, unsichtbaren, alleinigen Gott' (1. Tim. 1,17). Auch ist er, was das Vierte angeht, nicht nur der Herr, sondern auch der Schöpfer des Himmels: 'im Anfang schuf Gott Himmel und Erde' (Gen. 1,1). Daher sagt der Apostel ausdrücklich: die Waffenrüstung Gottes.
453  Erstens ermahnt er uns also, Waffen anzulegen: empfangt die Waffenrüstung! Zweitens belehrt er uns über die Art der Waffen: Gottes. Drittens gibt er den Grund für seine Mahnung an: damit ihr Widerstand leisten könnt.
  Zum Ersten muß man wissen, daß er mit dem Wort empfangt! dreierlei andeutet, nämlich wie man diese Waffen erlangt, wie leicht man sie erhält und wie sicher sie zum Siege führen.
454  Empfangt! Seht, wie man sie erlangt: 'bittet, so werdet ihr empfangen' (Joh. 16,24); 'jeder, der bittet, empfängt' (Luk. 11,10). Omnis (jeder oder ganz) heißt es, nicht omnia (alles). Mensch 2 bedeutet den ganzen Menschen, und doch kann irgendein Mensch der ganze Mensch sein: 'fürchte Gott und halte seine Gebote, das ist der ganze Mensch' (Pred. 12,13). Ein solcher empfängt ganz gewiß. Man muß also mit allem, was man ist und hat, bitten, das heißt 'aus ganzem Herzen, aus allen Kräften (und aus ganzem Geist', Luk. 10,27), im Gegensatz zu denen, über die der Herr klagt: 'dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, ihr Herz ist aber weit (von mir', Matth. 15,8). Daher fügt der Heiland den Worten: 'wer bittet, empfängt' hinzu: 'wer sucht, findet, und wer anklopft, dem wird aufgetan' (Luk. 11,10). 'Wer bittet' im Flehen, 'sucht' im Leben und 'anklopft' in Beharrlichkeit; (wer) demütig 'bittet', heißen Herzens 'sucht' und inständig 'anklopft'; oder (wer) 'bittet' im Gebet, 'sucht' in heiliger Betrachtung und 'anklopft' in Sehnsucht und Verlangen. 'Wer ganz bittet', sagt der Herr, 'empfängt'.
455  Bemerke: Gott schenkt sich mit allem, was er ist und hat. Denn es wäre unfromm, von Gott eine halbe Vergebung abzutrennen und zu erhoffen: 'den ganzen Menschen habe ich am Sabbat geheilt' (Joh. 7,23). Daher will er, daß auch wir 'mit ganzer Seele, mit ganzem Gemüt und mit allen Kräften' (Matth. 22,37; Luk. 10,27) empfangen. Ist es doch ein allgemeines Gesetz, daß jedes wirkende Wesen stets ein Ganzes anstrebt.
456  Zweitens wird angedeutet, wie leicht man diese Waffen erhält. Denn mehr als erwartet werden sie bereitgehalten, mehr als erwartet dargeboten. Empfangt! sagt (der Apostel). In seinen Predigten Über Herrenworte sagt Augustin bei Auslegung des Wortes: 'jeder, der bittet (empfängt', Luk. 11,10): "die menschliche Trägheit sollte sich schämen. Gott will mehr geben, als wir empfangen wollen". "Mehr", das heißt Größeres und bereitwilliger. Fürwahr, er ist bereitwilliger, denn er rechnet es sich (gleichsam) als Gnade an, daß wir empfangen wollen: 'aus seiner Fülle haben wir alle Gnade um der Gnade willen empfangen' (Joh. 1,16), das heißt er rechnet es sich als Gnade an, daß wir die Gnade empfangen; oder er gibt uns Gnade, damit wir die volle Gnade ohne Einschränkung empfangen können. Dies bedeuten die Worte: 'aus seiner Fülle' 'Gnade um der Gnade willen', Gnade, die wir in ihrer Fülle empfangen sollen: 'bittet, damit eure Freude vollkommen werde' (Joh. 16,24). Diese 'Fülle' ist im 2. Makkabäerbuch bildlich dargestellt. Dort liest man, Jeremias habe Judas seine Rechte hingestreckt und gesagt: 'empfange das heilige Schwert als Geschenk von Gott' (15,15 f.). Das Ausstrecken der Rechten versinnbildet, daß die Ubergabe aus freien Stücken und wider Erwarten erfolgt.
457  Drittens wird durch das Wort empfangt angedeutet, wie sicher diese Waffen zum Siege führen. Denn wir empfangen im eigentlichen Sinne das, was nicht unser ist und was wir nicht von uns oder aus dem Unsrigen haben. Daher ist in dem eben angeführten Wort von dem Geschenk Gottes die Rede: 'empfange', sagt (Jeremias) 'das heilige Schwert als Geschenk von Gott,' und es folgt: 'damit wirst du die Feinde meines Volkes Israel nieberwerfen'. Und in unserm Text heißt es: die Waffenrüstung Gottes. 'Denn das Schwache, das von Gott kommt, ist stärker als die Menschen' (1. Kor. 1,25). Boethius (läßt) im 1. Buch Vom Trost der Philosophie (die Philosophie sagen): "so gut waren die Waffen, die wir dir reichten, daß sie dich mit unüberwindlicher Kraft geschützt hätten, hättest du sie nicht zuvor weggeworfen". Wenn sie das von der Tugend der Philosophen sagt, so gilt es doch weit mehr von der Gnade der Heiligen: 'ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben (noch sonst etwas) uns trennen kann (von der Liebe Gottes', Röm. 8,38 f.); 'in meinem Gott überspringe ich Mauern' (Ps. 17,30); 'sie waren bereit, eiserne Mauern zu überwinden. (So zogen sie mutig dahin, da sie einen Helfer vom Himmel hatten', 2. Matt. 11,9 f.).
458  Dazu ist zu bemerken, daß nach Ansicht der Lehrer (der Theologie) schon die geringste Gnade ausreicht, den Sünden zu widerstehen. Denn das Geringste, was von Gott kommt, ist, selbst an der ganzen Schöpfung gemessen, unendlich groß. Daher lautet ein Ausspruch: "Gott ist eine geistige Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Oberfläche nirgends ist". Jemand fragte einmal: was tat Gott, oder welches Leben führte er, als er allein war vor allen Geschöpfen? Ihm ward die Antwort: würde euch etwas fehlen, oder ginge es euch schlechter, wenn es keine Fliegen gäbe? Er erwiderte: nein, vielmehr besser. Da sagte man ihm: mehr bedeutet eine einzige winzige Fliege für euch und mehr hängt euer Sein von ihr ab als Gottes Sein von der ganzen Schöpfung. Ein anderer kecker Frager erhielt die Antwort, daß Gott die Welt gar nicht vorher oder früher schaffen konnte, weil es kein Vorher oder Früher gab, als die Welt noch nicht da war. Oder wie hätte der die Welt früher schaffen können, der sie im ersten Jetzt der Ewigkeit erschaffen hat? Denn es gibt nur das einzige Jetzt der Ewigkeit, und das war da, als Gott die Welt schuf [3]. Nur ungebildete Leute stellen sich nämlich fälschlich vor, es gebe dort eine Weile oder ein Warten (auf einen Zeitpunkt) wo es keine Zeit gibt.
459  Nun zum zweiten Hauptpunkt. Hier bestimmt (der Apostel) die Art der Waffen oder das Zeichen, das sie tragen: die Waffenrüstung Gottes, sagt er. Bemerke: jedes Reich hat sein Wappen 3. Das Wappen des Römischen Reiches ist der Adler in goldenem Feld, das Wappen Frankreichs die Lilie im himmelblauen Feld, das Wappen des Himmel-und Christenreiches das Kreuz, nicht auf farbigem Grund, sondern das Kreuz im Licht: 'laßt uns anziehen die Waffen des Lichtes' (Röm. 13,12). Daß aber das Kreuz die Waffe 4 der Christen ist, sagen Johannes von Damaskus im 2. Kapitel des 4. Buches (Vom orthodoxen Glauben) und Ambrosius: am Kreuz hängend verteilte der Urheber des Glaubens seine Erbschaft und vermachte die Verfolgung den Aposteln, den Jüngern den Frieden, seinen Leib den Juden, dem Vater seinen Geist, der Jungfrau den Brautführer 5, dem Schächer das Paradies, den Sündern die Hölle und das Kreuz den bußfertigen Christen.
460  Daher heißt es: 'wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir' (Matth. 16,24). 'Wer': sieh, niemandem wird es verwehrt, und alle sind hier einander gleich, der Knecht wie der Herr, der Arme wie der Reiche, der Edelmann wie der Gemeine. 'Will', denn der gute Wille allein genügt. Vermagst du etwas nicht, so ist selbst das Gottes Sache. Denn das Werk muß von deinem Willen ausgehen. Denn da das Gute der Gegenstand des Willens und Gott die Gutheit selbst ist, so ist es nur gerecht, daß, wer Gott dient, dies durchaus aus freiem Willen tut: 'freiwillig opfere ich dir (und preise deinen Namen', Ps. 53,8). "Denn wider seinen Willen handelt niemand gut, mag auch gut sein, was er tut". Denn "der Wille ist es, von dem das sündige und das rechte Leben ausgeht", wie Augustin sagt.
461  'Mir nach'. Viele wollen zwar mit Christus gehen, aber sie wollen Christus nicht nachfolgen. Denn so 'mußte Christus leiden und so in seine Herrlichkeit eingehen' (Luk. 24,26). Jene wollen wohl 'in die Herrlichkeit eingehen', 'leiden' aber wollen sie nicht. Oder (er sagt) 'mir nach', weil er 'der Weg, die Wahrheit und das Leben' (Joh. 14,6) ist. Also folgt ihm nach, wer für die Wahrheit lebt' und wer wahrhaft lebt. Oder drittens: 'mir nach' (sagt er) um uns zu ermuntern, ihm zu folgen, da er uns vorangeht und für uns kämpft. Christus hat, so sagt Cyprian in einer Predigt, einmal für uns gesiegt, er siegt aber immer in uns.
462  'Er verleugne sich selbst', so daß er, der zuvor für die Welt lebte, nun für Christus lebt, und der zuvor den Sinnen lebte, nun der Vernunft und dem Verstand lebt. (Der Samariterin sagt Jesus:) 'fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast (ist nicht dein Mann') und ihr ward die Weisung: geh, ruf deinen Mann und komm wieder her' (Joh. 4,18.16). Diesen Mann deutet Augustin als den Verstand, die andern fünf als die fünf Sinne. Ein Beispiel (für die Selbstverleugnung) bietet der Geistliche, der, durch eine Predigt im Gewissen getroffen, seine Konkubine entließ. Als sie ihm später einmal begegnete und sagte: bin ich nicht die, die du so sehr geliebt hast?, erwiderte er: gewiß bist du dieselbe, aber ich bin nicht mehr derselbe.
463  'Er nehme sein Kreuz auf sich'. Dazu ist zu bemerken, daß viele ihr Kreuz wohl schleppen, es aber nicht wirklich auf sich nehmen. Das sind die, die es nur gezwungen und widerwillig sich aufladen. Bei Matthäus lesen wir, daß die Soldaten des Landpflegers 'einen Mann aus Cyrene zwangen, sich das Kreuz aufzuladen' (27,32). Leblose Wesen und Tiere erhalten den Antrieb zum Wirken von außen. Der Mensch muß also (sein Kreuz) aus eigenem Antrieb auf sich nehmen oder lobpreisend erheben: 'es sei mir fern, Ruhm zu suchen, es sei denn im Kreuz' (Gal. 6,14). Der Tugendhafte soll sich freuen, wenn er um Christi willen leiden muß: die Apostel 'gingen voll Freude (vom Hohen Rat fort) weil sie für würdig erachtet wurden, um des Namens Jesu willen Schmach zu leiden' (Apg. 5,41). Freude ist ja ein Zeichen des Tugendhabitus. Daher sagt die Glosse zu dem Wort: 'es sei mir fern, Ruhm zu suchen (es sei denn im Kreuz') folgendes: "sieh, wessen der Weltweise sich schämte, darin fand der Apostel einen Schatz. Was jenem als Torheit erschien, ist dem Apostel heilig, ist ihm Weisheit und Ruhm". Und weiter unten: "der Herr hat uns das Kreuz, das er auf seiner Schulter trug, als 'Zepter' (Ps. 44,7) übergeben, damit wir in ihm Ruhm suchen, indem wir im Geist und Gemüt (mit Christus) leiden".
  'Sein (Kreuz'). Es gibt Menschen, die Christi und anderer Menschen Kreuz aufnehmen und lobpreisend erheben und es doch 'mit keinem Finger anrühren wollen' (Matth. 23,4). Gegen sie richtet sich das Wort: 'sein (Kreuz').
464  Machen wir dies nun zum Gegenstand einer Kollation 6, so ist zu bemerken, daß wir Christi und unser Kreuz in vierfacher Weise auf uns nehmen sollen. Erstens durch häufige fromme Betrachtung des Leidens unseres Herrn: 'da Christus im Fleisch gelitten hat, so wappnet auch euch mit derselben Gesinnung' (1. Petr. 4,1). Bernhard sagt: betrachte, o Mensch, mit dem Auge des Geistes, durch welch große Dankesschuld du dem leidenden Herrn verpflichtet bist. Schau hin auf die Schmach der Backenstreiche, die Wucht der Geißelhiebe, die Krone von Dornen, die Fron des Kreuztragens, den Schimpf des Bespeiens, die Galle als Speise, den bittern Trank und die ruchlosen Lästerungen. Wie wirksam und fruchtbar es aber ist, das Kreuz auf sich zu nehmen, lehrt Origenes mit den Worten: so groß ist die Kraft des Kreuzes Christi, daß keine Begierde, kein Angriff der Sünde mehr Gewalt über uns hat, wenn wir es gläubig im Herzen tragen, vielmehr beim Gedanken daran - nämlich an das Leiden (des Herrn) - sofort das ganze Heer der Sünde und des Todes flieht.
465  Zweitens sollen wir das Kreuz auf uns nehmen durch Verabscheuung der Sünde: 'die Christus angehören, haben ihr Fleisch mit all seinen Lastern und Begierden gekreuzigt' (Gal. 5,24). Manche meiden wohl solche Sünden, die sie in größere Schmach bringen können, wie die Fleischessünden, sorgen sich aber kaum um andere, wie die Geistessünden, die ihnen größere Schuld aufladen. Im Hinblick auf solche sagt (der Apostel): 'mit ihren Lastern', das heißt den Fleisches-, 'und Begierden', das heißt den Geistessünden. Oder sage, daß 'die Laster' die äußern, 'die Begierden' die innern Akte sind. In der Auslegung von Gal. 6 sagt Ambrosius: durch das Kreuz Christi "haben die weltlichen Begierden keine Gewalt mehr über mich, ja die Welt dringt gar nicht mehr auf mich ein, und ich bin gegen sie gefeit".
466  Hierzu ist zu bemerken, daß, wer angegriffen wird, viererlei nötig hat: Tapferkeit, Umsicht, Bewaffnung und gute Zuversicht, wie der Dichter sagt:
Tapferer Mann braucht als Rüstung zum hohen Mut auch die Vorsicht,
Zutraun und Lieb gibt den Mut, Vorsicht gebeut ihm die Furcht.
Avicenna behauptet und belegt mit Beispielen, daß das Vertrauen (auf den Arzt) mehr zur Heilung beiträgt als er selbst und seine Instrumente.
467  Drittens nehmen wir das Kreuz auf uns durch Verleugnung der weltlichen Gelüste. Augustin sagt in einer Fastenpredigt, und es steht in der Glosse zu Gal. 5: "da wir das Leiden des gekreuzigten Herrn feierlich begehen, ziemt es unserer Frömmigkeit, die Unterdrückung der fleischlichen Gelüste als Kreuz auf uns zu nehmen". "An diesem Kreuz", so heißt es weiter, "soll der Christ in diesem Leben immer hängen", als wäre er mit Nägeln angeschlagen. Bemerke dazu: ein Nagel, mit dem wir uns ans Kreuz schlagen, ist die Betrachtung der ewigen Verdammnis, ein zweiter die Vorstellung und Erwartung des (ewigen) Lohnes. Bernhard sagt zum ersten im 5. Buch Von der Betrachtung: "ich schaudere vor dem mörderischen Wurm und dem unsterblichen Tod; ich schaudere davor, in die Hände des lebenden Todes und des sterbenden Lebens zu fallen". Zum zweiten: 'die Leiden dieser Zeit sind nicht wert (der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll', Röm. 8,18); 'denn die gegenwärtige geringe Trübsal wird eine überschwengliche (erhabene und ewige Fülle der Herrlichkeit in uns wirken', 2. Kor. 4,17), denn 'kein Auge hat gesehen (kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz ist gedrungen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben', 1. Kor. 2,9).
468  Viertens nehmen wir das Kreuz auf uns durch Abtötung des Fleisches und Mitleiden mit dem Nächsten. Gregor sagt in der Auslegung des Wortes 'er nehme sein Kreuz auf sich' (Matth. 16,24): "auf zweifache Weise nimmt man das Kreuz auf sich, indem man entweder durch Enthaltsamkeit den Leib oder durch Mitleiden mit dem Nächsten die Seele peinigt". Es ist also klar, welches die Waffenrüstung Gottes ist, nämlich das Kreuz Christi. Dies sind 'die Waffen des Lichtes' (Röm. 13,12). Bemerke: das Licht ist eine aktive Qualität des Himmels und hat nichts, was ihm widerstreitet, ja noch mehr: die Bilder der einander widerstreitenden Farben widerstreiten einander nicht mehr im Licht, sondern geben ihren Widerstreit schon im Mittel auf. So verliert fürwahr alles Widerstreitende, alles Widrige in der Seele, die 'die Waffen des Lichtes' angelegt hat, seine Bösartigkeit und Bitternis, so daß sie die Leiden nicht mehr spürt, sondern aus Liebe zu Christus sich daran freut und beseligt.

Anmerkungen Koch
1 Da mit Rücksicht auf n. 454 accipite im Thema mit "empfangt" übersetzt werden muß, ist die Abschwächung der rhetorischen Wirkung, die Eckhart durch Verwendung einer Schriftstelle mit demselben Imperativ beabsichtigt, durch eine verschiedene Übersetzung nicht zu vermeiden. [S. 374, Anm. 1].
2 schlechthin genommen. [S. 377, Anm. 1].
3 arma heißt auch Waffenzeichen, also Wappen. [S. 380, Anm. 1].
4 Daß Eckhart zugleich an "Wappen" denkt, ergibt sich aus dem lateinischen Text. [S. 381, Anm. 1].
5 das heißt seiner Mutter den Lieblingsjünger. [S. 381, Anm. 2].
6 Collationes waren kurze Ansprachen; die in den Konventen abends und vor den Pariser Studenten sonn- und feiertags gehalten wurden. [S. 384, Anm. 1].

Eigene
1 Von 'Waffen' spricht Eckhart außer in diesem Sermo an 4 Stellen im Johannes-Kommentar (Waffen des Lichtes in n. 209; s. o. n. 459; auch in LII n. 521 / Waffen der Gerechtigkeit in n. 244 / als Boethius-Zitat in n. 417; wie o. n. 457; auch in XLI n. 412 / und als Dichterspruch n. 744) und in den beiden bereits angeführten Sermones.
2 Das Wörtchen 'Zucht' verwendet Eckhart im gesamten bisher übersetzten Werk an 15 Stellen: hier allein 10 mal, als Zitat von Chrysostomus in In Eccli. n. 40 und Sermo XVI n. 163, in den Kommentaren Gen. I n. 228 und Gen II n. 1 (Vorrede) und in Sermo XII n. 137, also außerhalb der Sermones nur 3 mal. Bezüglich der letzten beiden Anm. steht die Predigt also ziemlich einmalig da.
3 Auf die Stelle ab: "Ein anderer kecker Frager ..." könnte sich der 1. Artikel der Bulle In agro dominico auch beziehen (s. Zum ersten Artikel).

  1 Die Übersetzung und die Anmerkungen Kochs entsprechen dem Abdruck in: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, die lateinischen Werke, Kohlhammer Stuttgart 1956, S. 374-387. Die Texteinschübe und Verweise auf Bibelstellen Kochs in () sind etwas eingerückt. Die Anmerkungen zur Übersetzung in () sowie meine Anmerkungen in [] sind fortlaufend beziffert. Im Original wird auf jeder Seite neu gezählt.

Edition
  Koch, LW 4, S. 374-387 unter Mithilfe von Bruno Decker (s. Koch, Einführung zu den Sermones).

Beschreibung
  Diese Predigt befindet sich in der Hs. Cod. 21 (C) f. 157vb - 158vb (s. Einführung, Übersicht). Als Besonderheit weist sie zum Schluß (n. 464-468) eine Collatio auf (s. Einführung, Anm. 2). Außerdem weist Koch darauf hin, dass Eckhart hier die Predigtkunstform des Themas und Prothemas anwendet (s. Einführung).

Datierung
  Die Predigt wurde am 21. Sonntag nach Trinitatis (11.10. - 13.11.) über die Epistel (Eph. 6,10-17) gehalten, wie Eckhart oben selbst zwei mal sagt (s. n. 450; vgl. Sermones - XLV).
  Koch verweist in seiner Edition als Vergleichsstellen auf die erste Genesis-Auslegung, den Johannes-Kommentar (am häufigsten), das Trostbuch (2mal), die Erfurter Reden (mehrfach), die Predigten Q 4, 9 und 10 (mehrfach), 37 (2mal), 40, 41, 45, 49, 62, 71 und S 110 sowie für n. 459 auf Proc. col. I n. 43 und Proc. col. II n. 2 und für n. 454 auf Proc. col. II n. 22.

  Es ist eine lateinische Predigt, d.h. sie wurde sehr wahrscheinlich in einem Dominikanerkonvent gehalten. Als Prothema wählt er Accipite disciplinam ('Nehmt die Zucht an!'). Im gesamten übersetzten Werk verwendet Eckhart das Wort 'Zucht' ganze 15 mal, davon allein 10 mal in der vorliegenden Predigt. Es geht hier um die Disziplin. Und um die ging es auch im Jahr 1306, als die beiden deutschen Provinziale über Laienbrüder klagten, und im Jahr 1307, als Eckhart zum Generalvikar für die böhmische Provinz ernannt wurde. Dass Eckhart den Laienbrüdern predigte, halte ich für weniger wahrscheinlich, während eine lateinische Ansprache vor Ordensbrüdern in Böhmen durchaus angemessen ist.
  Falls er, wie Ruh vermutete, im August nach Böhmen aufbrach, dann könnte der Sermo am 15. Oktober 1307 wahrscheinlich im Prager Konvent gehalten worden sein. [4.12.09]