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1. Vorlesung |
2. Predigt
2. Vorlesung Anmerkungen Koch, Mieth; Eigene |
Edition
Beschreibung Datierung |
Ich brachte gleich wie der Weinstock die Frucht lieblichen Duftes hervor (2)
(Jes. Sir. 24,23)
Ich brachte gleich wie der Weinstock die Frucht lieblichen Duftes hervor
(Jes. Sir. 24,23)
17 In diesen Worten scheint (etwas) fragwürdig zu sein (2). Erstens ist, wie schon gesagt, lieblich, was durch seine Kraft anzieht. Das kommt aber allein dem ersten Beweger und letzten Ziel zu. Ziel der Blüte ist aber fraglos die Frucht, und Ziel des Geruches der Geschmack. Ferner dient die Blüte der Frucht, nicht umgekehrt, und die Blüte treibt zur Frucht, nicht umgekehrt. Was ist also der Sinn des Wortes: ich brachte die Frucht lieblichen Duftes hervor, da der Duft nicht durch seine Kraft anzieht, sondern vielmehr in der Kraft der Frucht, auf die er hingeordnet ist wie der Geruch auf den Geschmack?
18 (Antwort) Es ist zu beachten, daß dies die Eigentümlichkeit und Besonderheit des Göttlichen ist, wodurch es sich vom Nicht-Göttlichen unterscheidet und abhebt, daß das Göttliche die Frucht in der Blüte trägt. Denn sonst wäre es keinesfalls göttlich. Das ist der Sinn der folgenden Worte:
Meine Blüten sind Früchte.
Der Grund ist der: Gott, 'der alles in allen wirkt' (1 Kor. 12,6) - 'alle unsere Werke hast du für uns gewirkt, Herr' (Jes. 26,12) - ist 'der Ursprung und das Ziel' (Offb. 1,8; 22,13), 'der Erste und der Letzte' (Jes. 41,4). Er ist also Blüte als Ursprung, Frucht als Ziel [6].
19 Daher kommt es erstens, daß Gott der Ursprung aller jener Werke und ihrer allein ist, deren Ziel und lautere Absicht er ist; ein solches Werk wirkt Gott, und so ist es göttlich, weil von Gott gewirkt (11).
Daher kommt es zweitens, daß, wie der Psalmist sagt, 'mein Gebet sich in mein Herz zurückwenden wird' (Ps. 34,13), wie ich zu demselben Psalm ausführlich bemerkt habe. Ist nämlich (Gott) zum Ziel geworden, so wird und ist er dadurch und dadurch allein Ursprung (12). So (geschieht) also (beides) zugleich und durch dasselbe: er blüht und bringt Frucht, ist Blüte und Frucht, und die Blüte ist die Frucht. Dementsprechend läßt sich unser Text so abteilen: meine Blüten sind Früchte, und es folgt, davon getrennt: der Ehre und der Ehrenhaftigkeit. Hiervon wird weiter unten (13) die Rede sein.
20 Wiederum drittens: im Göttlichen ist "jegliches in jeglichem", das Größte im Geringsten, und so die Frucht in der Blüte. Grund: "Gott", sagt ein Weiser, "ist eine unendliche geistige Kugel, deren Mittelpunkt überall mit der Oberfläche zusammenfällt" und "die so viel Oberflächen hat, als es in ihr Punkte gibt", wie in demselben Buch (der 24 Philosophen) geschrieben steht. Bildlich wird das in der Erzählung vom göttlichen Manna ausgedrückt: 'auch der, welcher weniger gesammelt hatte, fand nicht weniger' (Ex. 16,18), und bei Lukas: 'Maria hat den besten Teil erwählt' (10,42). Denn das Beste und das Ganze ist im Teil, die Frucht in der Blüte. So ist Gott ganz in jedem Geschöpf, in einem wie in allen. Also bringt ein Werk, das Gottes und göttlich ist, als solches Frucht in der Blüte, und (es treibt) zur Blüte und zu lieblichem Duft (als Frucht).
21 Daher kommt es viertens, daß jedes Werk Gottes immer neu ist: 'in sich verharrend macht er alles neu' (Weish. 7,27); 'sieh, ich mache alles neu' (Offb. 21,5), wie ich zum 7. Kapitel des Weisheitsbuches weiter ausgeführt habe.
Wiederum heißt es fünftens: 'im Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen' (Gen. 1,1). 'Er hat geschaffen': Ziel und Frucht (des Werkes) wird in der Vergangenheit ausgedrückt; (aber) 'im Anfang', (und so) ist es Blüte und neu.
Daher erklärt es sich sechstens, daß Gott, soweit er in sich selbst wirkt, wenn anders man hier von Werk sprechen darf, den Sohn immer gezeugt hat und ihn immer zeugt, daß dieser immer geboren ist und immer geboren wird: die Blüte ist die Frucht, die Blüte in der Frucht, die Frucht in der Blüte.
22 Daher erklärt sich siebentens der Ausspruch: 'im Anfang war das Wort' (Joh. 1,1). Das Wort, die Frucht, war im Anfang, das heißt in der Blüte. Im Göttlichen ist also die Frucht in der Blüte und ist die Blüte selbst.
Daraus ergibt sich, wie zu bemerken ist, daß der Tugendhafte das tugendhafte Wirken selbst als Frucht erachtet, nicht das Gewirkthaben. Denn die Tugend und das Gute bestehen im Tun. Deswegen wäre das Gewirkthaben keineswegs die Frucht der Tugend, wenn das Gewirkthaben nicht Wirken, die Frucht nicht Blüte wäre.
23 Daraus erklärt sich achtens das Wort: 'selig, die Verfolgung leiden' (Matth. 5,10); es heißt nicht: 'gelitten haben', wie ich zu derselben Stelle in meiner Matthäusauslegung [7]weiter ausgeführt habe. (Diese Ausdrucksweise) trifft offenbar auf das Göttliche zu. Denn bei Gott selbst (könnte man nicht sagen:) der Vater habe den Sohn gezeugt, wenn bei ihm Gezeugthaben nicht Zeugen wäre. Daher läßt Origenes in seiner Auslegung des Propheten Jeremias die Person des göttlichen Sohnes sprechen: 'vor allen Hügeln zeugt mich der Herr' (Spr. 8,25), "nicht: 'hat er mich gezeugt', wie manche fälschlich lesen". So Origenes. Die Übersetzung der Vulgata lautet: 'wurde ich geboren'. Der Grund ist der: in Gott und folglich im Göttlichen als solchem gibt es nichts Vergangenes und nichts Zukünftiges, weder der Sache noch unserer Auffassung nach. Ein Grund dafür ist auch der, daß das Vergangene und das Zukünftige nicht unter das Sein fallen noch in ihm leuchten. Daher heißt es: 'ich kenne euch (14) nicht' (Matth. 25,12). Augustin sagt dazu, daß Gott das allein kennt, was er in den ewigen Regeln der unveränderlichen Wahrheit findet und (was dort) leuchtet. So ist es ja auch bei uns: durch das Erkenntnisbild eines Menschen wissen wir nur das, was in diesem Bild selbst leuchtet und ist. Daher sehen wir auch nicht Peter in dem Erkenntnisbild Martins, sondern allein Martin. Weil also das Vergangene und das Zukünftige nicht im Sein leuchten noch unter es fallen, so gibt es von ihnen kein Wissen im Sein oder durch das Sein, da sie dort nicht sind; und das ist die Eigentümlichkeit des Nichtseienden, daß es im Nichtwissen gewußt wird. Denn das allein weiß man von ihm wahrhaft, daß man es nicht weiß. Das Vergangene und das Zukünftige sind nämlich derart, daß sie nicht sind. Vergangensein ist ja Nichtsein. Weil also das Vergangene und das Zukünftige und anderes des Seins Beraubendes aus dem Bereich des Seienden und damit dem des Seins fallen, so fallen sie folglich auch aus dem Lichtbereich der Wahrheit und der Erkennbarkeit und entsprechend aus dem Bereich des Einen und des Guten. Wie dergleichen also auf diese Weise allein ist, daß es nicht ist, so wird es auf diese Weise allein gewußt, daß es nicht gewußt wird. Und das ist es, was wir meinen (wenn wir sagen): Gott Vater hätte keineswegs den Sohn gezeugt, wenn Gezeugthaben nicht Zeugen wäre. Ein Beispiel dafür: der tugendhafte und göttliche, nämlich gottförmige und Gott gleichförmige Mensch ist selig im Leiden (vgl. Matth. 5,10) und freut sich des Leidens, nicht des Gelittenhabens. Denn Gelittenhaben hat kein Sein, sondern ist vergangen.
24 Dazu gehört neuntens, was Makrobius in den Saturnalien sagt: "der Wert des sittlich Guten liegt in ihm selbst", das heißt, Frucht in der Blüte ist die Tugend im Wirken oder Leiden. Auch Augustin lehrt im 9. Kapitel des 9. Buches Von der Dreifaltigkeit, daß im Bereich des Geistigen "das empfangene und das geborene Wort" ein und dasselbe sind, so daß Blüte und Frucht sich nicht unterscheiden. Denn die Empfängnis des Wortes, die erfolgt, wenn wir etwas, was wir hören oder sehen oder irgendwie denken oder erkennen, anhänglich und innig lieben, ist zugleich Sprößling des Geistes oder geborenes Wort. Wie - nach dem Gesagten - die Frucht in der Blüte, so ist der Sprößling in der Empfängnis, so das empfangene Wort das geborene Wort. Mißfällt aber das, was man hört, sieht und denkt, so haftet und hängt der Geist nicht (in Liebe) an dem Erkannten, Gesehenen oder Gehörten. Deshalb erfolgt in ihm weder Empfängnis noch Befruchtung, und er hat folglich weder Frucht noch Sprößling, weil ja die Empfängnis als solche der Sprößling ist. Daher ist ein solches Werk (15) nicht gut noch verdienstlich noch fällt ihm die Erbschaft zu. Denn (der Geist) haftet und hängt ja nicht an; es ist also nicht Erbe, weil (der Geist) nicht anhaftet (16) und folglich nicht empfängt und somit auch kein Sprößling oder Sohn da ist. Wenn aber kein Sohn, dann auch kein Erbe (vgl. Gal. 4,7).
25 Daher kommt es zehntens, daß, wie der Psalmist sagt, 'Gott anzuhangen für mich gut ist' (Ps. 72,28). Denn wer Gott anhängt, empfängt Gott, indem er ihm anhängt, (und) empfängt das, was gut ist; er erblüht, und in der Blüte der Empfängnis ist die Frucht, und sie ist vollkommen. Das ist offenbar das (17), was Augustin im 2. Kapitel des 11. Buches Von der Dreifaltigkeit sagt, daß das Bild des Sichtbaren, das im Gesichtssinn oder im Auge als Sprößling vom Sichtbaren empfangen wird, mit dem Akt des Sehens identisch ist.
26 Daher kommt es elftens, daß der äußere Akt als etwas von der innern Empfängnis Verschiedenes und außer ihr Liegendes ganz und gar nichts hinzufügt - er kann auch nicht Frucht genannt werden, da er nicht in der Blüte noch in der Empfängnis ist - nichts, sage ich, hinzufügt zum Sein (des Aktes) als sittlich gutem und göttlichem. Daher besteht das Verdienst, nicht in der Zahl, Größe oder Dauer der (äußeren) Akte, sondern allein in der Absicht, in der die Empfängnis des Aktes sich vollzieht, nämlich in der Minne oder Liebe des Wirkenden.
Das ist zwölftens der Sinn des Wortes: 'eine Blüte wird aufsteigen aus seiner', das heißt Jesses, 'Wurzel'. Jesse bedeutet Minneglut, also Gottesliebe. Es folgt: 'ruhen soll auf ihr', der Blüte nämlich, 'der Geist des Herrn' (Jes. 11,1 f.). Sieh, Gott ruht schon in der Blüte, schon in der Empfängnis wird die Frucht empfangen und vollendet, ohne etwas von außen zu erwarten.
27 Zudem heißt es dreizehntens: Gott 'ruhte von allem Werk, das er vollbracht hatte' (Gen. 2,2). Es heißt nicht etwa nur 'im Werk', sondern, 'vom Werk', weil für Gott und das Göttliche das Wirken selbst die Frucht ist. Das Wirken selbst läßt also ruhen, und von ihm wird Ruhe gegeben und verliehen. Dem tugendhaften und göttlichen Menschen ist tugendhaft wirken das wahre Leben: 'Christus ist für mich das Leben' (Phil. 1,21), und: 'der Gerechte lebt aus dem Glauben' (Röm. 1,17). Gewiß gilt dem Gerechten gerecht handeln mehr als nur leben, erstens weil er eher das Leben verschmäht als die Gerechtigkeit preisgibt - 'für die Gerechtigkeit kämpfe (wie) für deine Seele und bis zum Tode ficht für die Gerechtigkeit' (Jes. Sir. 4,33) - zweitens weil der Gerechte als solcher aus seinem ganzen Wesen heraus nur gerecht handeln kann. Die Ruhe und Frucht ist also im Werk oder vielmehr 'vom Werk', wie der Text sagt, und vom Wirken selbst empfängt (der Gerechte) die Ruhe, die Frucht des Guten in der Blüte und von der Blüte und von gar nichts Äußerem und der Blüte Fremdem.
Wenn aber die Gerechtigkeit und das Leben des Gerechten im Wirken bestehen soll, wirkt dann der Gerechte etwa immer gerecht? Ganz gewiß! Denn auch das ist der Sinn unserer Ausführungen: die Gerechtigkeit ist in der Empfängnis im Geist vollkommene und vollendete Frucht. Diese Empfängnis vollzieht sich vor und unbeeinflußt von dem äußeren Wirken. Innen also wacht die Gerechtigkeit, auch wenn der Gerechte schläft: 'ich schlafe, und mein Herz wacht" (Hohel. 5,2). Deswegen heißt es treffend: 'der Gerechte lebt aus dem Glauben' (Röm. 1,17). Augustin lehrt, daß die Kräfte der Seele in der verborgenen Tiefe des Geistes immer wirksam sind.
28 Daher kommt es vierzehntens, daß jede Wissenschaft, die nicht im Wissen selbst haltmacht und ruht, die darin keine Frucht bringt oder sucht und findet, unfrei und nicht um ihrer selbst willen, sondern handwerksmäßig oder buhlerisch (18) ist, da sie außer und neben dem Wissen ihre Frucht sucht. Wer die Wissenschaft und Weisheit so behandelt, sieht sie nicht als seine Braut an (vgl. Weish. 8,2), sondern als seine Buhle, nicht als Freie, sondern als Magd (vgl. Gal. 4,22 f.). Er hat nicht ihre Wesensform lieb (vgl. Weish. 8,2), welche Wissen und Weisesein ist, sondern buhlt mit der Weisheit: lieb hat er die Wesensform dessen, was er mittels der Weisheit außer und neben ihr und außer dem Weisesein sucht. Mag daher ein solcher Mensch auch weise genannt werden, so kann er doch nicht Philosoph, nämlich Liebhaber der Weisheit heißen; er verdient diesen Namen nicht, sondern vielmehr den eines Liebhabers von Reichtum, Ehren, Annehmlichkeiten oder dergleichen, derentwegen er die Weisheit sucht. Wer sein Werk so tut, ist Söldling und Knecht, nicht Sohn, und sein Werk ist tot, nicht eigentlich verdienstlich noch göttlich, wie ich zu dem Wort: 'wenn der Sohn euch befreit hat, seid ihr wahrhaft frei' (Joh. 8,36) bemerkt habe [8].
29 Aus allem Vorausgehenden erhellt also: es gehört im eigentlichen Sinne zum Göttlichen, daß in ihm Blüte und Frucht ein und dasselbe sind. Anders aber ist es in jedem Werk, das und in dem das Geschöpf als solches wirkt, dessen Ursprung und erstrebtes Ziel es selbst ist. Und das ist der Sinn des Wortes: meine Blüten sind Früchte. Thomas jedoch sagt zur Erklärung dieser Worte in (der Summe der Theologie) Teil I II Frage 70 Artikel 1: "es steht nichts im Wege, daß aus einer Frucht eine andere hervorgeht, wie das Ziel" einer Seinsordnung dem Ziel einer umfassenderen untergeordnet ist. Deshalb "haben unsere Werke, insofern sie Wirkungen des in uns tätigen Heiligen Geistes sind, die Bedeutung von Früchten" im Leben der Gnade (vgl. Gal. 5,22 f.), "insofern sie aber auf das Ziel des ewigen Lebens hingeordnet sind, die von Blüten".
30 Ich bin gleich wie der Weinstock. Es ist zu bemerken: die ganze Vollkommenheit der nachgeordneten Wesen besteht darin, daß sie denen der obern Welt ähnlich werden. Deswegen sagte, wie Dionysius berichtet, der Philosoph Klemens, daß die Wesen der obern Welt die Urbilder derjenigen der niedern Welt sind und sich zu ihnen nach Art der Ideen (19) verhalten. Und das ist es, was hier durch den Mund eines heiligen Mannes gesagt wird: ich bin gleich wie der Weinstock, das heißt ähnlich dem Weinstock, der Christus ist (vgl. Joh. 15,1).
In den bisherigen Ausführungen über flores mei fructus wird das Wort fructus als Nominativ genommen: meine Blüten sind Früchte. Es kann aber auch als Genitiv aufgefaßt werden; dann hat der Satz den Sinn: meine Blüten (20) bringen eine Frucht hervor, die Frucht der Ehre und der Ehrenhaftigkeit. Beide unterscheiden sich dadurch, daß "die Ehre die äußere Ehrfurchtsbezeigung gegenüber der Tugend ist". Die Ehre hängt also von etwas anderm außer uns ab. Daher sagt der Philosoph [Aristoteles] im 1. Buch der [Nikomachischen] Ethik, die Ehre sei mehr im Ehrenden als im Geehrten; nicht, wie viele es falsch verstehen, als sei Ehre erweisen mehr und größere Ehre für den Ehrenden als für den Geehrten. Denn das ist falsch und gegen die Meinung des Philosophen. Er will vielmehr sagen, daß die Ehre als äußere Bezeigung der Ehrfurcht von etwas anderm außer uns abhängt. Hierauf stützt sich auch sein Beweis, daß die Glückseligkeit oder das höchste Gut des Menschen nicht in der Ehre besteht. Denn die Ehre hängt von etwas anderm außer uns ab, das höchste Gut des Menschen aber hängt nicht von außen ab noch erfordert es einen andern oder ein anderes außer uns. Der Ehrenhaftigkeit: die Ehrenhaftigkeit oder das der Ehre Würdige umfaßt die Tugend und jegliches göttliche Gut, das nicht in der Kraft eines andern, sondern durch seine Kraft anzieht, da es weder Ziel noch Ursprung außerhalb seiner selbst hat. (Die Schrift) stellt aber die Worte der Ehre voraus und läßt die Worte der Ehrenhaftigkeit folgen, weil diese als etwas Innerliches verborgen ist, die Ehre aber oder die Ehrfurchtsbezeigung offenliegt und aus der erwiesenen Ehre allen die Ehrenhaftigkeit und ein gotthaftes Sein in dem Geehrten kund wird.
Mein Geist ist weit süßer als Honig
(Jes. Sir. 24,27)
31 'Sein Geist hat die Himmel geschmückt' (Hiob 26,13). 'Sein Geist'. Wessen? 'Sein', des Vaters und Herrn des Himmels und der Erde: 'ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde' (Matth. 11,25); 'im Anfang hast du, Herr, die Erde gegründet, und deiner Hände Werk sind die Himmel' (Ps. 101,26). 'Er hat die Himmel geschmückt'. Welche Himmel? Die Prediger, die Gottes Herrlichkeit predigen und meinen: 'die Himmel verkünden die Herrlichkeit Gottes' (Ps 18,2).
"Sie sind die Himmel", | |
wie wir in einer Sequenz singen, | |
"in denen du, Christus, wohnst | |
in deren Worten du donnerst, | |
blitzest mit Zeichen, | |
tauest mit Gnade". |
Mein Erbe übertrifft Honig und Honigseim
(Jes. Sir. 24,27)
41 Merke: das Erbe gehört allein dem Erben. Erbe aber ist der Sohn: 'wenn Sohn, dann auch Erbe' (Gal. 4,7). Denn der Sohn bleibt, und das Erbe hängt an ihm: 'der Sohn bleibt' im Hause 'auf ewig' (Joh. 8,3 5). Um also Erben des Himmelreiches zu sein, müssen wir Gottes Söhne sein. Das ist Gottes größtes, alle andern überragendes Geschenk, daß er uns 'Macht gab, Gottes Söhne zu werden' (Joh. 1,12), und zwar dem Geist nach. Daher ist auch "in den in der Zeit entstandenen Dingen dies die höchste Gnade, daß ein Mensch mit Gott zur Einheit der Person verbunden wurde", wie Augustin im 19. Kapitel des 13. Buches Von der Dreifaltigkeit sagt. Das ist der Sinn dieses Wortes: mein Erbe übertrifft Honig und Honigseim, das heißt, das Recht auf den Besitz des Erbes, nämlich die Sohnschaft, übertrifft Honig und Honigseim, wobei man unter Honig und Honigseim das Ding oder das Seiende und seine Idee zu verstehen hat. Diese beziehen sich auf zweierlei: auf den Verstand die Idee, auf den Willen das Seiende draußen. Der Sinn ist also: mein Erbe, nämlich die Sohnschaft, ist auch der Lohn, der Honig und Honigseim übertrifft. Er ist ja erhabener als alle Beschauung des Verstandes und aller Brand des Willens und der Liebe (28), gemäß dem Wort: 'um Sions willen werde ich nicht schweigen und um Jerusalems willen nicht ruhen, bis sein Gerechter wie ein Blitz hervorgeht' (Jes. 62,1). Das habe ich zu Jes. 62 weiter ausgeführt. (29)
Wer von mir zehrt, hungert weiter (und wer von mir trinkt, dürstet weiter) (30)
(Jes. Sir. 24,29)
42 Es ist (erstens) zu bemerken: Hunger und Durst im eigentlichen Sinn ist das naturhafte Sehnen, Verlangen und Vermögen auf die (entsprechende) Verwirklichung hin. Jedes Sehnen, Verlangen und Vermögen, das auf etwas Endliches hingeordnet ist, hungert daher nicht immer und dürstet nicht immer; hat es vielmehr sein Ziel erreicht, so zehrt und trinkt es davon und dürstet und hungert gar nicht mehr. Hat (das Holz) die Form des Feuers vollkommen erlangt, so hat auch die ihr folgende Hitze ihren Endpunkt erreicht (31). In diesem Sinn heißt es: 'bittet, daß eure Freude vollkommen sei' (Joh. 16,24). Bei dem aber, wo das Ziel unendlich ist, verhält es sich umgekehrt. Denn dergleichen zehrt immer und hungert immer, und sein Hunger ist desto heißer und gieriger, je mehr es zehrt. Zum Beispiel ist die unbegrenzte erste Materie auf alle Formen hingeordnet, die entstehen und vergehen und deren Zahl unbegrenzt ist. Mag sie nun auch niemals ohne Form sein und so immer zehren, so verlangt und hungert sie deshalb doch immer nach einer andern Form, weil sie keine findet, in welcher alle (beschlossen) wären. Deshalb wird sie, nach der Deutung des Maimonides im 3. Buch (des Führers der Unschlüssigen) Kapitel 9, von Salomo (vgl. Spr 5,2-6; 7,6-15) unter dem Bild der Buhlerin beschrieben, die einen Mann hat und (doch) immer einen andern begehrt. Ferner, da jeder Teil der Himmelssphäre ein Vermögen und folglich Durst und Verlangen nach jedem und allem Wo hat, so ist deshalb, wie wir sehen, sein Wo immer irgendwo, und (doch) verlangt und dürstet er immer nach allen. Und das ist die eine wahre Ursache dafür, daß die Bewegung jenes (Himmels-)Körpers von Natur aus immer währt. Und umgekehrt, weil die leichten und schweren Körper auf ein bestimmtes Ziel oben oder unten hingeordnet sind, so zehren sie (von ihm), sobald sie es erlangt haben, ruhen (in ihm) und dürsten im eigentlichen Sinne nicht weiter. Deshalb bewegen sie sich von da ab nicht mehr und suchen, dürsten und hungern nicht weiter.
43 Nun ist Gott aber die unendliche Wahrheit und Gutheit und das unendliche Sein, und so zehrt von ihm und hungert nach ihm alles, was ist, was wahr ist, was gut ist: es zehrt von ihm, weil es ist, weil es wahr ist, weil es gut ist; hungert nach ihm, weil er unendlich ist: 'alle sehen ihn, ein jeder schaut von fern' (Hiob 36,25); 'vom höchsten Himmel geht er aus, und niemand kann sich vor seiner Glut verbergen' (Ps. 18,7). Johannes von Damaskus sagt zu Beginn seines Buches: "Gott hat uns nicht in völliger Unkenntnis über sich gelassen; denn allen ist die Erkenntnis des Daseins Gottes von Natur aus eingepflanzt". So prägt uns also Gottes Weisheit in den vorausgehenden Worten: wer von mir zehrt, hungert weiter die Unendlichkeit ihres Seins, ihrer Wahrheit und Gutheit ein. So sehen wir ja drittens bei allem, was der Quantität unterliegt, daß es immer so und so groß und (damit) geteilt oder unterschieden ist; nichtsdestoweniger dürstet es, weil es der Quantität unterliegt, immer nach der Teilung und trinkt und zehrt immer von der Teilung; denn immer ist es etwas Geteiltes.
44 Zweitens ist zu bemerken: das, wonach alles dürstet, hungert, sucht und verlangt, ist das Sein, wie in der Natur so in der Kunst. Denn dazu und deshalb mühen sich Kunst und Natur, daß ihre Wirkung sei und Sein habe. Denn ohne Sein ist das ganze Weltall nicht mehr wert als eine Mücke, die Sonne nicht mehr als die Kohle und die Weisheit nicht mehr als die Unwissenheit. Das betont Avicenna im 6. Kapitel des 8. Buches seiner Metaphysik: "das, was jedes Ding ersehnt, ist das Sein und die Vollkommenheit des Seins, insofern es Sein ist. Das also, was wahrhaft ersehnt wird, ist das Sein". Kein Seiendes aber ist das Sein, noch ist in ihm die Wurzel des Seins. Augustin fragt im 1. Buch der Bekenntnisse: "kann etwa jemand der Bildner seiner selbst sein? Oder entspringt eine einzige Ader, aus der uns Sein zuströmt, anderswoher als allein daraus, daß du (uns) schaffst, weil du im höchsten Sinn Sein bist"? Der Grund ist der: alles, was vielen oder allen gemeinsam ist, kann nicht irgendeins von den vielen oder allen als Wurzel oder Ader haben, aus der es allen zuströmte. Denn dann wäre diese (eine) die Wurzel und der Ursprung seiner selbst, und der Ursprung stände nicht über dem, was aus ihm hervorgeht, sondern auf gleicher Stufe mit ihm.
45 Es erhellt also, daß jedes Seiende und alles, was zur Zahl des Seienden gehört, nicht aus sich, sondern von einem andern über sich das Sein hat, nach dem es dürstet, hungert und verlangt. Deshalb haftet, hängt und beginnt das Sein nicht in ihm; und es bleibt nicht, wenn das Obere - sei es auch nur in Gedanken - abwesend ist. Deshalb dürstet es immer nach der Gegenwart seines Obern, und man kann eher und eigentlicher sagen, daß es das Sein ununterbrochen empfängt, als daß es dies als festen oder auch nur als anfangenden Besitz habe. So dürstet und verlangt also jedes Seiende, als in sich und aus sich leer, nach dem Sein, wie die Materie nach der Form und "Häßliches nach dem Guten". Und das ist der Sinn dieses Wortes: wer von mir zehrt, der ich das Sein bin - 'ich bin, der ich bin'; 'der da ist, hat mich gesandt' (Ex. 3,14) - hungert weiter, da ja (das Seiende) an sich bloß und (nur) Vermögen zum Sein ist. Dieses Vermögen ist Verlangen und Durst nach dem Sein selbst.
46 Ein handgreifliches Beispiel und eine Begründung für das Gesagte findet sich beim Licht und bei der Hitze im Mittel. Denn wegen der Übereinstimmung und Gleichartigkeit der Materie hier und dort schlägt die Hitze und die Form des Feuers, der sie folgt, im Mittel, nämlich in der Luft, Wurzel. Sobald deshalb die Luft erhitzt ist, schlägt die Form des Feuers schon Wurzel und haftet (in ihr) und ist sozusagen ein Anfang des Feuers. Anders ist es beim Licht, da es eine aktive Qualität ist und der Form der Sonne oder der Sphäre oder des Himmels folgt, der mit den Elementen keine Übereinstimmung in der Materie hat. Deshalb schlägt die Form der Sonne und ihre der Form folgende Qualität, nämlich das Licht, im Mittel nicht Wurzel noch hat sie hier irgendwie einen Seinsanfang. Daher kommt es, daß nach dem Untergang der Sonne die in der Luft schon verwurzelte und irgendwie begonnene Hitze bleibt; anders das Licht, das augenblicklich verschwindet und die Luft verläßt, da es ja auch nicht nach dem kleinsten Teil der Form, der es folgt, (in ihr) wurzelt, sondern nur im Durst, das heißt im Verlangen (der Luft nach dem Licht).
Dürstend empfängt also (das Seiende) das Sein. Deshalb zehrt es immer und hungert (dennoch), da es hungernd das Sein empfängt, durch das es ist und von dem es zehrt. Anders ist es bei jedem andern, das nicht nach dem Sein als solchem und seiner Ursache dürstet, sondern nach einem Sein bestimmter Art. Denn dies empfinge durch sein Dürsten und Verlangen nicht das Sein, sondern dieses Sein, und dadurch wäre ein solches nicht Seiendes (schlechthin), sondern dieses Seiende [10]. Es heißt also bezeichnenderweise: wer von mir zehrt, mir allein nämlich, der ich [Gott] das Sein und die Ursache des Seins bin, hungert weiter.
47 Drittens legt man das Wort: wer von mir zehrt, hungert weiter in dem Sinn aus, daß Gott Ursprung und Ziel (vgl. Offb. 1,8), Blüte und Frucht (vgl. 24,23) ist, wie oben erklärt wurde.
Viertens ist zu bemerken: aus demselben sind wir und nähren wir uns, wie der Philosoph sagt. Wir sind aber durch das Sein; insofern wir also sind und Seiendes sind, nähren und pflegen wir uns durch das Sein. Und so zehrt jedes Seiende von Gott als dem Sein; es dürstet aber jedes Seiende nach dem Sein selbst, wie oben gesagt wurde. Und das ist der vierte Sinn dieses Wortes: wer von mir zehrt, hungert weiter.
48 Fünftens ist zu bemerken: die andern Ursachen außer der ersten Ursache, die Gott ist, sind nicht Ursache des Seins der Dinge noch des Seienden, insofern es seiend ist, sondern vielmehr Ursache des Werdens. Sobald deshalb ihre Wirkung selbst fertig und vollendet ist, haben sie weiterhin keinen Einfluß (mehr) auf sie. Deshalb trinken und zehren die Wirkungen solcher Ursachen zwar von ihren Ursachen, aber sie dürsten, suchen und verlangen nicht nach ihnen. Zum Beispiel: ein Haus trinkt und zehrt von der Form, die der Baumeister ihm kraft seiner Baukunst aufgeprägt hat; sobald es sie aber erlangt hat, sucht und dürstet es nicht mehr nach dem Künstler und seiner Kunst. Auch in der Natur sehen wir, daß die Tiere ihre Jungen mit mütterlicher Sorge nähren und pflegen, und umgekehrt dürsten die Jungen nach ihren Müttern und suchen bei ihnen ihre Zuflucht; sind sie aber zur Reife gekommen, so beachten sich alte und junge Tiere gegenseitig nicht mehr als andere Tiere derselben Art. Die erste Ursache aber, welche Gott ist, beeinflußt ihre Wirkung ebenso durch Bewahrung im Sein, wie sie sie im Werden beeinflußt oder beeinflußt hat; und umgekehrt hängt die Wirkung, obgleich (in sich) fertig, von der ersten Ursache ebenso in ihrem Sein wie in ihrem Werden ab. Deshalb zehrt jede Wirkung von der ersten Ursache und hungert nach ihr. Deshalb ist mit vollem Recht in der Person der ersten Ursache gesagt: wer von mir zehrt, hungert weiter.
49 Dazu muß man sechstens wissen: jede Zweitursache bringt ihre Wirkung zwar von sich, aber nicht in sich hervor. Deshalb trinkt die Wirkung zwar von einer solchen Ursache, dürstet aber nicht eigentlich nach ihr. Die erste Ursache aber bringt jede Wirkung aus sich und in sich hervor. Der Grund ist der, daß abseits von der ersten Ursache nichts ist. Denn was abseits von der ersten Ursache, nämlich Gott, ist, ist abseits vom Sein; denn Gott ist ja das Sein. Aus den beiden dargelegten Gründen, daß nämlich alles Geschaffene von ihm und in ihm, aus ihm und in ihm, Gott ist, heißt es mit Recht: wer von mir zehrt, hungert weiter. Bringe die einzelnen Glieder miteinander in entsprechende Verbindung. Augustin sagt im 10. Kapitel des 4. Buches der Bekenntnisse so: alles hat Gott geschaffen, (aber) "nicht schuf er und ging dann seiner Wege, sondern in ihm ist, was aus ihm ist".
50 Wiederum siebtens: man muß wissen, daß die erste Ursache, Gott, sich dadurch von allen nachgeordneten unterscheidet, daß die erste Ursache in allen andern tätig ist und in ihnen wirkt. Zudem ist ihre Wirksamkeit ihrer Natur nach früher als die Wirksamkeit aller Zweitursachen und ist folglich die letzte; denn das letzte Ziel entspricht immer der ersten Wirksamkeit. Wiederum drittens: die Formen, durch welche die Zweitursachen wirksam sind, haben dies, daß sie Formen und Wirklichkeiten sind, von Gott, der die erste formgebende Wirklichkeit ist. Zudem aber können die Formen selbst, durch welche die Zweitursachen wirksam sind, nur von Gott, dem ersten Beweger, in Wirksamkeit gesetzt werden, wie zum Beispiel die Formen des Feuers und der Hitze nur erhitzen können, wenn sie vom Beweger des Himmels bewegt werden. Deshalb trinken die Wirkungen zwar von den Zweitursachen, aber in ihnen dürsten sie eigentlich nach der ersten Ursache. Denn deren Kraft ist unmittelbarer und innerlicher gegenüber dem vermittelt Wirkenden, allen gegenüber (aber) die erste und letzte. Deshalb dürsten, hungern, streben und verlangen alle Wesen nach ihr. Sie trinken zwar von ihr, weil sie in ihnen ist; nichtsdestoweniger dürsten sie nach ihr, weil sie außer ihnen ist, nämlich von ihnen nicht umfaßt: 'das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfaßt' (Joh. 1,5). Das ist der Sinn dieses Wortes: wer von mir zehrt, hungert weiter; wer von mir trinkt, (dürstet weiter).
51 Außerdem muß man achtens wissen: nach dem Philosophen besteht zwischen Sinn und Verstand folgender Unterschied. Der Sinn wird durch häufigen Gebrauch und große Anstrengungen schwächer und leistungsunfähiger, umgekehrt aber wird der Verstand um so leistungsfähiger, je mehr er denkt und je erhabener das ist, worüber er nachdenkt. Deshalb trinkt und zehrt der Gesichtssinn immer in seinem Akt vom sinnlich Wahrnehmbaren, aber er dürstet nicht immer nach ihm, weil "das Übermaß des sinnlich Wahrnehmbaren das Sinnesorgan schädigt". Mit dem geistig Erkennbaren ist es nicht so, sondern es kräftigt den Verstand um so mehr, je erhabener es ist, und deswegen zehrt der Verstand von ihm und hungert nach ihm. Darum sagt einer von den 24 Philosophen: "Gott ist die Liebe, die um so lieber wird, je mehr man sie besitzt". Augustin sagt im Buch der Sentenzen Prospers: die vollkommene Liebe wächst immer mehr, durch Übung wird sie größer und durch Freigebigkeit reicher. Gott, "der erste Verstand und das erste geistig Erkennbare", sagt also unter der Gestalt und Form der Weisheit, die dem Verstand angehört: wer von mir zehrt, hungert weiter.
52 Wiederum sind neuntens die Unterschiede zwischen diesen drei zu beachten, (nämlich zwischen) Eindeutigem, Mehrdeutigem und Analogem. Denn das Mehrdeutige läßt sich unterscheiden nach den verschiedenen durch es bezeichneten Dingen; das Eindeutige nach den (Art-)Unterschieden desselben Dinges (32); das Analoge läßt sich weder nach Dingen noch nach Unterschieden an Dingen gliedern, sondern "nach Seinsweisen" eines und desselben Dinges schlechthin. Ein Beispiel: eine und dieselbe Gesundheit, die im Sinneswesen ist, sie - und keine andere - ist in der Speise und im Harn, und zwar so, daß von der Gesundheit als Gesundheit ganz und gar nichts in der Speise und im Harn ist, nicht mehr als im Stein; sondern deshalb allein heißt der Harn gesund, weil er jene eine Gesundheit, welche im Sinneswesen ist, anzeigt, wie der Kranz (33), der nichts vom Wein in sich hat, den Wein. Seiendes aber oder Sein und jede Vollkommenheit, besonders jede allgemeine, wie Sein, Eines, Wahres, Gutes, Licht, Gerechtigkeit und dergleichen, werden von Gott und den Geschöpfen analog ausgesagt. Daraus folgt, daß Gutheit, Gerechtigkeit und dergleichen (34) ihr Gutsein ganz und gar von einem Wesen außer sich haben, zu dem sie in analoger Beziehung stehen, nämlich Gott. So sagt Augustin im 1. Buch der Bekenntnisse, etwa in der Mitte, von dem Sein: keine "Ader, aus der Sein" stammt, entspringt anderswoher als allein aus Gott, der das höchste und "im höchsten Sinn Sein" ist. Das wurde bereits oben in der zweiten Auslegung gesagt. Von der Gerechtigkeit aber sagt derselbe Augustin im 3. Buch der Bekenntnisse: die Gerechtigkeit ist "überall und immer" (dieselbe), "nicht anderswo eine andere noch ein andermal anders. Sie macht alle gerecht, die dieses Lob aus Gottes Mund empfangen". Vom Licht, vom Leben und von der Wahrheit aber sagt er häufig dasselbe, wie aus der Auslegung jenes Wortes: 'das wahre Licht erleuchtet jeden Menschen' (Joh. 1,9) erhellt.
53 Der Beweis läßt sich, kurz zusammengefaßt, so führen: was zu einem andern in analogem Verhältnis steht, hat in sich seinsmäßig und wurzelhaft keinen Ansatz zu der Form, auf der dieses Verhältnis beruht. Nun steht aber alles geschaffene Seiende nach Sein, Wahrheit und Gutheit in analogem Verhältnis zu Gott. Also hat alles geschaffene Seiende Sein, Leben und Denken seinsmäßig und wurzelhaft von Gott und in Gott, nicht in sich selbst als geschaffenem Seienden. Und so zehrt es immer (von Gott), insofern es hervorgebracht und geschaffen ist, hungert jedoch immer, weil es nie aus sich ist, sondern (immer) von einem andern.
Es ist auch zu bemerken, daß manche diese Natur der Analogie [11] nicht verstehen und (darum) verwerfen und so bis heute sich im Irrtum befinden. Wir aber, die wir sie der Wahrheit entsprechend verstehen, wie aus dem 1. Buch der Thesen [Eckharts] [12] hervorgeht, wollen sagen, daß diese Wahrheit von dem analogen Verhältnis aller Dinge zu Gott sehr gut zum Ausdruck kommt in den Worten: wer von mir zehrt, hungert weiter. Sie zehren, weil sie sind, hungern, weil sie von einem andern sind.
54 Wiederum kann man zehntens das vorausgehende Wort auch so auslegen: Gott ist allen Dingen zuinnerst als das Sein, und so zehrt alles Seiende von ihm; er ist auch zuäußerst, weil über allem und so außer allem. Also zehrt alles von ihm, weil er zuinnerst, hungert (alles nach ihm), weil er zuäußerst ist; alles zehrt (von ihm), weil er ganz drinnen, (alles) hungert (nach ihm), weil er ganz draußen ist. So ist die Seele ganz in der Hand und ganz außer ihr. Das ist also der Sinn des Worte: wer von mir zehrt, hungert weiter.
55 Wiederum ist elftens zu bemerken: Essen schmeckt uns nie ohne Hunger, Trinken nie ohne Durst. Je mehr daher Hunger und Durst abnehmen, desto mehr nimmt allenthalben der Geschmack oder Genuß ab, der im Essen und Trinken liegt. Augustin sagt zu Beginn des 8. Buches der Bekenntnisse: "Essen und Trinken machen nur dann Vergnügen, wenn die Beschwerde des Hungerns und Dürstens vorausgeht". Daher kommt es, daß Freunde eines guten Trunkes Gesalzenes essen, um den Durst zu schärfen. "Überall geht einer größeren Freude größere Beschwerde voraus". Cicero sagt im 5. Buch der Tuskulanischen Untersuchungen: "wer sieht nicht, daß alles durch Begierden gewürzt wird? Als G. Marius [13] auf der Flucht trübes, durch Leichen verseuchtes Wasser getrunken hatte, bekannte er, nie habe er etwas Köstlicheres getrunken, er hatte nämlich noch nie mit solchem Durst getrunken". Nach manchen ähnlichen Gedanken sagt er dann: mit Hunger und Durst "werden Speise und Trank gewürzt". So verhält es sich im Bereich des Körperlichen, in dem des Göttlichen und Geistigen aber ist es anders. Das sei hier mit einem Gedanken begründet. Die erste Wirklichkeit (35) - dies ist ein allgemeines Gesetz - bewirkt dies als erstes, daß etwas aus dem ihm Entgegengesetzten, nämlich dem Seinsmangel, heraustritt. Daher ist die Wesensform vollkommener als alles andere Formgebende, und die erste Materie verlangt und hungert auf Grund ihrer eigenen Wesenheit nur nach der Wesensform, weil diese allein bewirkt, daß sie aus ihrem Nichts heraustritt. Daher kommt es zweitens, daß sie eine solche Form unmittelbar, ohne Widerstreben, ohne Bewegung und Zeit, in einem Augenblick aufnimmt und daß aus der Materie und einer solchen Form schlechthin eines wird.
56 Nimmt man nur einen Trank zu sich, so schmeckt der erste Schluck am besten, man nimmt ihn gieriger und genießt ihn mehr, weil der Trank in dem ersten Augenblick des Genusses als erstes den entgegengesetzten beschwerlichen Durst aufhebt. Der nächste Schluck hebt nicht mehr einen so großen, auch nicht mehr den ganzen oder den Durst schlechthin auf, sondern einen schon geringeren, weniger entgegengesetzten und weniger beschwerlichen, und so fort, bis der Durst ganz gelöscht ist. Was darüber hinaus ist, ist vom Übel (vgl. Matth. 5,37), ist Übel und Überdruß. Im Bereich des Geistigen und Göttlichen verhält es sich aber nach beiden Seiten hin (36) anders. Erstens bewirkt (hier) jeder Akt dies als erstes, daß wir aus dem Entgegengesetzten und Bittern heraustreten. Denn hier ist nichts früher oder später, alle Akte und jeder einzelne sind deshalb erste. Wer also hier fortschreitet, entfernt sich nicht vom Ersten (37), sondern nähert sich ihm, und so ist der Letzte auch der Erste (vgl. Matth. 19,30). Der Grund ist der: wer fortschreitet, nähert sich dem Ziel. Im Bereich des Göttlichen ist aber das Ende zugleich der Anfang: 'ich bin der Anfang und das Ende' (Offb. 1,8; 22,13). Durch die Annäherung an das Ziel bleibt also die Verbindung mit dem Anfang gewahrt, wenn es nur Gott und das Göttliche in seiner Lauterkeit ist, von dem wir zehren und trinken. Zehren wir aber von etwas anderm, so groß oder gering es auch sein mag, dann trifft das nicht mehr zu, gemäß dem Wort: 'ein geringes, und ihr werdet mich nicht mehr sehen' (Joh. 16,16) (38) [14].
57 So führt also Zehren im sinnlichen Bereich schließlich zum Überdruß; im Bereich des Göttlichen aber verursacht es seiner Natur nach (neuen) Hunger, und je kräftiger und lauterer die Zehrung ist, um so kräftiger und lauterer wird der Hunger, so daß Hungern mit Zehren gleichen Schritt hält. In der Folge aber und nebenher wird als zweites jeder Überdruß aufgehoben und ausgeschlossen, gemäß dem Wort: 'der Umgang mit ihr (39) kennt keine Bitterkeit', wenn nur 'nichts Unreines' das heißt Nichtgöttliches, 'in sie eindringt' (Weish. 8,16; 7,25). Wenn nun aber etwas anderes neben Gott eindringt und dazwischen kommt, so ist es anders. Dann müssen sich ohne Zweifel Bitterkeit, Mühsal, Pein und Überdruß einstellen, weil die Zehrung nicht Gott selbst ist. Ein Werk, das auf etwas neben Gott abzielt, hat Gott ja nicht zum Ursprung, da er Ziel und Ursprung in einem ist. Ein Werk ist aber nicht göttlich, wenn es Gott nicht zum Ursprung hat. Sinnbild und Beispiel dafür bietet das Wort: 'der Vater, der in mir bleibt, er wirkt selbst die Werke' (Joh. 14,10).
58 Aus dem Vorhergehenden erhellt, daß, wer von Gott zehrt, weiter (nach ihm) hungert. Es erhellt auch, daß er nicht deshalb hungert, weil er keinen Überdruß empfindet, wie die übliche Auslegung sagt, sondern er empfindet umgekehrt deshalb keinen Überdruß, weil er hungert und weil das Hungern das Zehren selbst ist. Wer (hier) also zehrt, hungert im Zehren, weil er vom Hunger zehrt, und wie groß seine Zehrung, so groß ist sein Hunger (40). Hier gibt es kein Mehr oder Minder, kein Früher oder Später. Das ist der Sinn dieses Wortes: wer von mir zehrt, hungert weiter. Denn im Zehren hungert er, und im Hungern zehrt er, und nach dem Hungern oder dem Hunger hungert er.
59 Thomas jedoch gibt (in der Summe der Theologie) Teil 1 II Frage 33 Artikel 2 eine doppelte und gute Auslegung (41), die aber von der unsrigen abweicht. Bernhard sagt im Brief Von der Liebe im Anschluß an das Wort: 'meine Seele verlangte danach, sich zu sehnen' (Ps. 118,20): "wer nur danach verlangte, sich zu sehnen, konnte durch Sehnsucht nicht gesättigt werden; denn die Sehnsucht ist ein Hunger der Seele. So wird die gottliebende Seele durch die Liebe nicht gesättigt, weil Gott die Liebe ist. Wer ihn liebt, liebt die Liebe. Die Liebe lieben ist aber wie eine Bewegung im Kreis, so daß die Liebe kein Ende findet". Und weiter unten "in Sehnsüchten entbrennt sie. Werden sie auch in Fülle gegeben, so können sie doch nie sättigen". Das ist der Sinn dieses Wortes: wer von mir zehrt, hungert weiter. Man könnte folgendes Beispiel anführen: wenn jemand läuft, um zu laufen, so zehrt er immer vom Lauf, denn er läuft ja; dennoch hungert er immer nach dem Lauf, denn er läuft, um zu laufen, und liebt den Lauf um des Laufes willen, und so liebt er das, was er liebt, um seiner selbst willen, die Liebe um der Liebe selbst willen. Augustin behandelt im 1. Kapitel des 9. Buches Von der Dreifaltigkeit, ausführlicher noch im 2. Kapitel des 15. Buches, jenes Psalmwort: 'es freue sich das Herz derer, die den Herrn suchen', und ferner: 'suchet immer sein Angesicht' (Ps. 104,3 f.) und legt dabei (auch) dieses Wort aus: wer von mir zehrt, hungert weiter.
60 Schließlich ist aber noch zu bemerken: Durst, Hunger oder Sehnsucht oder Verlangen kann man (42) doppelt auffassen, "erstens (im eigentlichen Sinn), sofern sie das Verlangen nach einer Sache bezeichnen, die wir noch nicht besitzen; zweitens (im weiteren Sinn), sofern sie den Ausschluß des Überdrusses besagen". Man muß sich nun davor hüten, dieses Letzte, nämlich den Ausschluß des Überdrusses, für die Hauptsache zu halten und an die erste Stelle zu setzen. Das tun nämlich viele und legen demgemäß dieses Wort: wer von mir zehrt, hungert weiter in dem groben Sinn aus, als hieße es: er zehrt ohne Überdruß. Damit würde man aber der göttlichen Weisheit, also Gott selbst Abbruch tun, ganz besonders hier, wo sie von sich selbst spricht, uns über sich belehrt und ihre Erhabenheit uns ans Herz legt. Außerdem enthält eine Verneinung keine wahre Belehrung, die Verneinung behauptet nichts, sondern hat in der Bejahung ihren festen Halt, in sich selbst ist sie ganz unvollkommen. Daher hat die Verneinung in Gott ganz und gar keinen Platz. Denn er ist ja 'der da ist' (Ex. 3,14) und 'ist einer' (Gal. 3,20). 'Einer' besagt aber eine Verneinung der Verneinung (43). Man darf also im Bereich des Göttlichen den Hunger nicht als Ausschluß des Überflusses deuten.
61 Wenn ferner der Hunger als "das Verlangen nach einer Sache, die wir nicht besitzen", bestimmt wird, (so ist dazu zu sagen:) das Wesen von Hunger oder Verlangen läßt sich, formal genommen, nicht daraus entnehmen, was wir nicht besitzen. Denn das ist eine bloße Verneinung oder ein Seinsmangel und hat nur materielle Bedeutung. Das Wesen des Hungers ist vielmehr, formal genommen, ein positives Verlangen (und damit) Wurzel und Ursache für den (erst) daraus folgenden Ausschluß des Überdrusses, und so verstanden ist es etwas von der Sache, die wir (schon) besitzen, und irgendwie diese Sache selbst. Ein einleuchtendes und zutreffendes Beispiel bietet die (Form-)Beraubung, die eines der drei Werdeprinzipien der Naturdinge (44).
Besser ist es also, die vorgelegten Worte so auszulegen, wie es oben geschehen ist. Denn alle diese Auslegungen und jede einzelne gründen in einer erhabenen Eigenschaft des Göttlichen, wie etwa in Gottes Unendlichkeit, Einfachheit, Lauterkeit, Überlegenheit und dergleichen, und erweisen die Schwachheit der Geschöpfe Gott gegenüber oder vielmehr ihre Nichtigkeit in sich selbst.
Wer in mir wirkt, wird nicht sündigen (45)
(Jes. Sir. 24,30b)
62 Merke: zuerst steht das Verdienst: (wer) in mir wirkt, dann der Lohn: wird nicht sündigen. Was bedeutet es aber, daß der Lohn verneinend ausgedrückt wird: (er) wird nicht sündigen? Denn ein negativer Lohn ist kein Lohn. Es ist also zu bemerken: es gilt allgemein, daß das Verdienst im Wirken liegt, der Lohn im Erleiden, das heißt im Empfangen, besteht, die Strafe aber in der Beraubung und im Schmerz. Denn das Verdienst liegt im Wirken und damit im Willen, durch den wir Herren unserer Handlungen sind; der Lohn besteht im Erleiden und daher im Verstand - das Erkennen ist ja gewissermaßen ein Erleiden - die Strafe in der Beraubung und daher die Pein in der Trübsal. Denn jede Beraubung ist ein Abfall vom Sein und infolgedessen vom Guten und folglich von der Freude, dem ergötzenden Frohlocken. Wer aber vom Sein, Guten usw. abfällt, stürzt in das ihnen Entgegengesetzte: aus dem Sein ins Nichts, aus dem Guten ins Übel, aus der Freude des Geistes in den Schmerz und aus dem äußern Frohlocken in die Trübsal.
63 Nach diesen Vorbemerkungen lautet die Antwort auf unsere Frage: mit Recht wird der Lohn verneinend ausgedrückt. Denn erstens drückt das Wort: er wird nicht sündigen gerade in seiner verneinenden Form weniger aus, als es wirklich bedeutet, und darin kommt die unbegreifliche Größe des Lohnes zum Ausdruck. Denn im Bereich des Göttlichen ist das, was wir sagen, geringer als das, was wir meinen, gemäß dem Wort 'kein Auge hat gesehen (kein Ohr hat gehört und in keines Menschen Herz ist gedrungen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben', 1 Kor. 2,9; vgl. Jes. 64,4). Zweitens ist es dem, was (in einer Seinsordnung) Erstes und Einfaches ist, eigen, durch Verneinungen erfaßt zu werden. "Der Punkt" sagt Euklid, "ist das, was keinen Teil hat". Das sei hier so begründet: in jeder Gattung steht das, was Prinzip der Gattung ist, außer ihr und gehört nicht zu ihr, es sei denn vielleicht vermittels einer (begrifflichen) Zurückführung. So ist der Punkt nicht irgendwie groß, und die Eins (46) keine Zahl. Drittens "sind die Bejahungen im Bereich des Göttlichen unzutreffend". Viertens ist jener Lohn unaussprechlich. Fünftens drückt das Wort, er wird nicht sündigen, wie bereits gesagt wurde, weniger aus, als es wirklich bedeutet, und so wird der Lohn nicht darin bestehen, was es verneint, als vielmehr darin, was es bejaht und auszudrücken sucht. So ist zum Beispiel das transzendente Eine dem Wort nach eine Verneinung, seinem Bedeutungsgehalt nach aber ist es als Verneinung der Verneinung (47) reine Bejahung, wie in dem Wort: 'ich bin, der ich bin' (Ex. 3,14). Dabei ist zu bemerken, daß dies die angemessenste Weise ist, von göttlichen Dingen zu sprechen; denn hier drücken die Worte entweder weniger aus, als sie wirklich bedeuten, wie im vorliegenden Fall (48): 'sie werden nicht hungern' (Offb. 7,16), oder (bestehen) in doppelten Verneinungen, wie wenn es heißt: 'Gott ist einer' (Gal. 3,20).
64 (Wer) in mir wirkt. Merke: der Satz hat zweifachen Sinn. Erstens in mir, das heißt mir gemäß. Wobei zu beachten ist, daß in der Kunst alles, was kunstgemäß erfolgt, richtig und gut ist, während umgekehrt alles, was kunstwidrig ist, eben dadurch schief, schlecht, fehlerhaft und verkehrt ist. Ähnlich ist es auch in der Natur und auf sittlichem Gebiet: alles, was auf das Ziel hin oder entsprechend der Richtschnur und Ordnung, die zum Ziel führt, ist und geschieht, ist eben dadurch und wegen dieses Bezuges gut. Was hingegen im Bereich der Natur, der Kunst und des sittlichen Lebens wider die Richtschnur oder das Ziel oder ohne Bezug hierauf geschieht, das ist eben dadurch und dadurch allein fehler- und mangelhaft. Deshalb sagt der Rechtsgelehrte: "wer sündigt, kann sich nicht auf das Gesetz berufen". Der Sinn ist der: wer tut, was das Gesetz befiehlt, sündigt nicht; es sündigt aber jeder, der gegen das Gesetz handelt. Augustin sagt: "die Tugend kann niemand mißbrauchen" und ferner: "habe die Liebe und dann tu, was du willst!" Denn 'die Liebe' und die Tugend überhaupt ist immer zum Guten hin und 'ist das Ziel des Gesetzes' (1 Tim. 1,5). Gott aber ist als erstes und einfachstes Sein Maß und Richtschnur für alles, was in irgendeiner Weise des Seins ist, wie aus dem 10. Buch der Metaphysik erhellt. Also ist alles, was Gott gemäß geschieht, gut; was aber nicht so (geschieht), ist eben dadurch und dadurch allein Sünde. Das ist der Sinn dieses Wortes: wer in mir wirkt, das heißt mir gemäß, wird nicht sündigen. 'Schau hin und schaffe dem Vorbild gemäß, das dir auf dem Berge gezeigt wurde' (Ex. 25,40). Entspricht also all unser Leben, Wirken und Sein dem Vorbild, das Gott (selbst) ist, so ist das Ganze richtig, verdienstlich und vollkommen; was ihm aber nicht entspricht, ist Sünde.
65 Zweitens läßt sich in mir zwar wörtlich, aber zugleich in einem tiefern Sinn auffassen. Dann besagt der Satz: jeder, der in Gott ist, und er allein, wirkt Gutes und sündigt nicht. Denn was wir als Gute sind, was wir Gutes wirken und wie wir gut leben, all das sind (wirken und leben) wir ja in Gott. Umgekehrt ist alles, was wir getrennt von Gott sind, wirken oder leben, Sünde: getrennt von Gott sind wir aber im Teufel - wenn überhaupt etwas im Bösen Sein haben kann, was Gegenstand einer schwierigen Untersuchung ist und worüber man die Abhandlung Vom Bösen im Werk der Fragen [15] vergleichen mag - und das spricht Origenes aus bei der Behandlung des Wortes: 'es findet sich eine Verschwörung' (Jer. 11,9), wozu er noch das andere anführt: 'wer Sünde tut, ist aus dem Teufel' (1 Joh. 3,8): "wir werden ebenso oft aus dem Teufel geboren, wie wir sündigen. Unselig, wer aus dem Teufel immer geboren wird. Glückselig aber, wer aus Gott immer geboren wird. Denn ich möchte nicht sagen, der Gerechte sei nur einmal aus Gott geboren worden, vielmehr wird er durch jedes einzelne Tugendwerk immer aus Gott geboren". Augustin sagt zu Beginn der Schrift Vom christlichen Kampf: "als dem Teufel gesagt wurde: 'Erde sollst du fressen', wurde auch dem Sünder gesagt: 'Erde bist du, und zur Erde sollst du zurückkehren' (Gen. 3,14. 19). Der Sünder wurde also dem Teufel zum Fraß gegeben. Wollen wir von der Schlange nicht gefressen werden, laßt uns nicht 'Erde' sein". Den Sündern (hat der Herr) gesagt: 'ihr habt den Teufel zum Vater' (Joh. 8,44).
66 Gewiß fließt jedem Tugendhaften daraus große Zuversicht und Sicherheit zu, daß er in Gott ist, lebt und wirkt: 'in Gott werden wir Tugend üben' (Ps. 59,14); 'seine Werke sind in Gott getan' (Joh. 3,21); 'wer in ihm bleibt, sündigt nicht'; und wiederum: 'wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott' (1 Joh. 3,6; 4,16). Demgemäß kann man das Wort: 'ein gutes Werk hat sie an mir getan' (Matth. 26,10) in dem Sinn auslegen: sie hat in mir ein gutes Werk getan, weil der Heilige alles, was er ist und was er wirkt, in Gott ist und wirkt.
67 Begründung und Beispiel für das Vorhergehende sind handgreiflich, wenn wir statt Gott 'Sein' und 'Gerechtigkeit' sagen. Denn gewiß ist einer alles, was er ist, dadurch, daß er im Sein und das Sein in ihm ist: 'er bleibt in Gott, und Gott in ihm' (1 Joh. 4,16). Was aber getrennt vom Sein ist, ist nichts: 'was ohne ihn ward, ist nichts' (Joh. 1,3), und: 'zum Nichts geworden ist der Böse vor seinen Augen' (Ps. 14,4). Wiederum: alles, was wir als Gerechte sind und was wir Gerechtes wirken, das sind und wirken wir ja, insofern wir in der Gerechtigkeit sind und sie in uns. Umgekehrt ist alles, was abseits von der Gerechtigkeit und getrennt von ihr ist, weder gerecht, noch wirken wir es gerecht. Denn durch die Gerechtigkeit allein sind wir gerecht und wirken wir gerecht, gemäß dem Wort des Philosophen: "die Tugend macht den, der sie besitzt, gut und macht (auch) sein Werk gut".
Das sagt der Heiland in einem Gleichnis von ganz handgreiflicher und (doch) sehr tiefer Wahrheit: 'ich bin der wahre Weinstock'; dann 'bleibt in mir, und ich (bleibe) in euch'; und wiederum: 'wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viele Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun' (Joh. 15,1.4.5). Das ist also der zweite Sinn unseres Textes, wenn man ihn zwar wörtlich, aber seinem tiefen Gehalt nach nimmt: wer in mir wirkt, wird nicht sündigen. Denn was der Gerechte ist und was er gerecht wirkt, all das ist er in Gott; alles, was er getrennt (von ihm ist und wirkt), darin ist er nicht gerecht und das wirkt er nicht gerecht, sondern sündigt: 'wer aus Gott ist, sündigt nicht' (1 Joh. 1,18). Es folgt:
Wer mich ins Licht setzt, wird das ewige Leben haben (49)
(Jes. Sir. 24,31)
68 Es ist [erstens] zu bemerken, elucidare bedeutet: etwas nach außen ins Licht setzen, das heißt kundtun: 'alles, was kundgetan wird, ist Licht' (Eph. 5,13). Beachte aber, daß er 'ins Licht setzen' sagt. Wer ins Licht setzt, muß also zuerst innen leuchten. Deshalb wurde den ersten Lehrern gesagt: 'ihr seid das Licht der Welt' (Matth. 5,14). 'Ihr seid', sagt (der Herr). Das wahre Sein ist auch zuinnerst, und "Leben ist für die lebenden Wesen Sein". Wer lehrt oder ins Licht setzt, muß also durch sein Leben innen leuchten: 'das Leben war das Licht der Menschen', und wiederum: 'was geworden ist, war in ihm Leben' (Joh. 1,4.3-4). Und das bedeutet elucidare, nämlich das Licht, das innen als Leben leuchtet und ist, nach außen ins Licht setzen.
69 Es ist auch (zweitens) als Beispiel zu bemerken: die Leibesfrucht wird zuerst im Mutterschoß empfangen und gebildet, sie lebt, ist Sinneswesen und Mensch, wird aber noch nicht ans Licht gebracht und ist verborgen. Bei der Geburt aber, da sie aus dem Mutterschoß geboren wird, wird sie ans Licht gebracht und durch das, was draußen geworden ist, kundgetan. Was jedoch draußen geworden ist, war schon innen Leben, nur verborgen. Daher kommt es, daß die Sterndeuter, welche die Stunde der Empfängnis nicht kennen, die Stunde der Geburt beobachten, in der das Kind ans Licht gebracht und dem Gestirnsaspekt ausgesetzt wird. 'Ihr', sagt er, 'seid das Licht der Welt', und es folgt: 'euer Licht leuchte vor den Menschen' (Matth. 5,14.16). So wird auch jedes Wort innen in der Seele gebildet, bevor es gesprochen und nach außen kundgetan wird. Daher schreibt der Apostel dem Timotheus: 'verkünde das Wort' (2 Tim. 4,2). 'Verkünde', gleich wie: sprich es vorher, das heißt sprich es vorher innen; oder 'verkünde', das heißt sprich es aus oder bring es nach außen hervor (50), damit es 'vor den Menschen leuchte'.
70 Wiederum ist drittens zu bemerken: es heißt elucidare, nach außen ins Licht setzen, als ob (die Weisheit) innen nicht leuchtete, sondern verborgen wäre, bis sie nach außen kommt und kund wird. Deshalb heißt es bezeichnend: 'ihr seid das Licht der Welt' (Matth. 5,14). Denn das Licht ist innen Sein: 'ihr' sagt er, 'seid das Licht'. Das Licht ist innen Leben: 'das Leben war das Licht der Menschen' (Joh. 1,4), das heißt das Licht der Menschen und im Menschen ist das Leben, und "Leben ist für die lebenden Wesen Sein". Wiederum sind Licht und Leben im Sein das Sein selbst und ein Sinn, wie aus dem Buch Von den Ursachen erhellt. So sind also das Leuchten und das Leben im Sein und unter dem Sein verborgen, gleichsam vor der Natur und der Eigenart des Leuchtens versteckt, bis sie herausgeführt werden und zum Vorschein kommen und so leuchten, gemäß dem Wort: 'die Tiefen der Ströme führte er ans Licht' (Hiob 28,11). So ist ja auch die Weiße (51) an sich weder weiß noch macht sie (an sich) weiß, sondern ist das, wodurch etwas weiß wird. Im Sein ist zwar die Weiße, das Weißmachen ist aber im Sein verborgen; zum Vorschein gekommen, macht sie aber weiß. Was schon (weiß) geworden ist, war also im Sein Weiße und war Leben, wenn anders die Weiße und das Weiße Leben hätten, gemäß dem schon oben angeführten Wort: 'was geworden ist, war in ihm Leben'; und ferner: 'das Licht leuchtet in der Finsternis' (Joh. 1,3-5), nämlich nach außen.
Damit enden die auf einem Generalkapitel vor den Predigerbrüdern gehaltenen Vorträge.
Anmerkungen Koch und Mieth
1 Wir haben hier keine wörtliche Predigt vor uns, sondern eine Predigtunterlage, eine Predigtskizze. Daher auch der knappe Stil in Form von in Sätzen notierten Einzelpunkten und zusätzlichem Material an Vergleichsstellen.
Stellen aus dem 2. Korintherbrief dienen als neutestamentliches Unterthema. In der Einleitung wird die Entsprechung zwischen der Predigt der Weisheit, der Predigt des Paulus und der Predigt des «Predigerbruders» (Dominikaners) hergestellt. Dann begegnet uns die Weisheit als Wirt, der uns zur Erquickung einlädt.
Ab n. 8 beginnt die erste Auslegung auf die «ungeschaffene Weisheit», das heißt auf Gott. Die gesamte Auslegung, mit Ausnahme der mariologischen, bezieht sich auf den «göttlichen» Bereich, d. h. auf die zweite Art eckhartscher Schriftdeutung (natürlich, göttlich, moralisch). Von Gott, der ungeschaffenen Weisheit, wird zuerst die Reinheit (n. 8-10), dann die Fülle (n. 11-12) und schließlich die Lieblichkeit (n. 13) ausgesagt. Die Reinheit der Substanz suchen auf ihre verschiedene Weise Wille (Liebe) und Erkennen; die Fülle der Beziehung: das ist nicht Gott als Substanz «in sich selbst», sondern Gott als der Zeugende und Schaffende; die lieblich anziehende Kraft Gottes aber zieht das Geschaffene wieder in seinen Ursprung zurück. N. 14 bis zum Schluß enthält die zweite Auslegung auf Maria, die völlig gleich strukturiert ist. Überwiegt in der ersten Auslegung Eckharts Gedanke vor dem Zitat, so in der zweiten das Zitat vor dem Gedanken [Mieth S. 196 f.].
2 Nach Eckharts Deutung besteht die Frucht in dem lieblichen Duft [S. 231, Anm. 1].
3 Wie ein Schlüssel, so ist ein Diener nur nach seiner Brauchbarkeit zur Erreichung des Zieles, nicht nach seiner Abkunft zu bewerten [S. 237, Anm. 1].
4 Gemeint ist die göttliche Weisheit [S. 237, Anm. 2].
5 D.h. der göttlichen Weisheit. Eckhart trennt willkürlich die letzten Worte des Verses von den vorhergehenden und ändert damit ihren Sinn vollständig [S. 238, Anm. 1].
6 Vgl. die Einteilung n. 7 [S. 240, Anm. 1].
7 Im Unterschied zu der oben n. 9 vorgelegten [S. 241, Anm. 1].
8 oder Ursprung der Dreieinigkeit [S. 241, Anm. 2].
9 Dieses Wortspiel läßt sich in der Übersetzung nicht nachahmen [S. 242, Anm. 1].
10 Die Vorlesung behandelt den Gedanken, daß im göttlichen Bereich die «Frucht», d. h. die Wirkung, in der «Blüte», d. h. im Ursprung selbst, ist. (Vgl. insbesondere n. 27) Dazu muß Eckhart den folgenden Satz «Meine Blüten sind Früchte der Ehre und Ehrenhaftigkeit» aufteilen (n. 19), um den Gedanken «Frucht in der Blüte» besonders hervorzuheben». 14 Gründe werden dazu mitgeteilt (n. 19-28). Hervorzuheben sind dabei der siebte und neunte Grund: die Tugend liegt im Wirken, nicht in den Werken (als Effekte des Wirkens); der achte Grund: die Seligkeit kommt nicht nach dem Leiden, sondern im Leiden selbst - im göttlichen Bereich ist alles Gegenwart, nichts vergangen und zukünftig -; der neunte bis zwölfte Grund: das Gute liegt allein in der empfangenen Intention, der Liebe; der dreizehnte Grund: im göttlichen Bereich stammt die Ruhe vom Werk und geschieht im Wirken, nicht umgekehrt; der vierzehnte Grund: die Wissenschaft ist darin frei, daß sie die Weisheit um ihrer selbst willen sucht. Die Zusammenfassung des Gedankengangs (n. 29) verweist zugleich auf die abweichende Auslegung Thomas von Aquins.
Eine zweite, moralische Auslegung, schließt den Schriftvers «Meine Blüten tragen Früchte der Ehre und Ehrenhaftigkeit» wieder zusammen. Es geht also um die Frucht der guten Werke. Dabei wird das Verhältnis von Ehrenhaftigkeit und Ehrerweis im Anschluß an die Ethik des Aristoteles behandelt (n. 30) [Mieth S. 206 f., Anm. 1].
11 Im lateinischen Text Anakoluth, der sich in einer etwas freieren Übersetzung vermeiden läßt [S. 247, Anm. 1].
12 Das heißt nach Eckharts Auslegung des Psalmwortes: Das Gebet um Gott selbst schließt die Erhörung bereits ein [S. 247, Anm. 2].
13 Vgl. n. 30. Dort wird auch der Sinn der grammatischen Bemerkung Eckharts verständlich [S. 247, Anm. 3].
14 D.h. die Bösen, die als solche, ebenso wie Vergangenes und Zukünftiges, kein Sein haben [S. 250, Anm. 1].
15 D.h. ein Werk, das ohne Liebe getan wird.[S. 252, Anm. 1].
16 Das lateinische Wortspiel "heres" (Erbe) und "haerere" (anhaften) ist im Deutschen nicht wiederzugeben [S. 252:127, Anm. 1].
17 D.h. das, was hier über die Identität von Blüte und Frucht in der geistigen Empfängnis gesagt wird, entspricht dem, was usw [S. 253, Anm. 1].
18 Eckhart bringt mechanicus mit moechari (ehebrechen, buhlen) in Zusammenhang. Die Übersetzung kann dies nicht wiedergeben [S. 255, Anm. 1].
19 Im Sinne Platos.[S. 257, Anm. 1].
20 D.h. meine guten Werke.[S. 257, Anm. 2].
21 Die Einleitung dieser Predigt zieht Vergleichsstellen zum neuen Leittext «Mein Geist ist süsser als Honig» (n. 31) heran. Dann wird, wie in der ersten Predigt, die einladende Weisheit mit einem anschaulichen Beispiel geschildert. Sie ist diesmal nicht Wirt, sondern Verkäufer (n. 32). Der andere Einstieg zur Predigt sieht vielleicht einen bestimmten Anlaß vor.
Die Weisheit empfiehlt sich durch fünf Eigenschaften, die mit den fünf Worten des Leitsatzes parallelisiert werden: «Geist» als Sein Gottes (n. 34); «mein»: der Geist als Grund alles Guten (n. 35); «über» (man beachte die Wortfolge des lateinischen Bibelverses) als Erhabenheit Gottes (n. 36); «süß» als Lieblichkeit Gottes, die über alle Erfahrung an Angenehmem geht (n. 37). Diese Lieblichkeit kommt dem Logos zu, in dem alles auf die ihm eigene Weise ist, das Niedere also in der Form des Oberen selbst (n. 38). Darauf folgt wiederum eine zweite Auslegung des Leitwortes auf Maria (Sündlosigkeit, Mutterschaft, Mildtätigkeit, n. 39). Jungfräulichkeit und Mutterschaft werden im Sinne der Vorlesung über «Blüte» und «Frucht» ausgelegt [Mieth S. 126].
22 D.h. den Sohn, das Wort, dem die göttliche Weisheit besonders zugeeignet wird [S. 263, Anm. 1].
23 Hier und im folgenden Abschnitt betont Eckhart die Präpositionen "über" und "unter", um auf die Erhabenheit des göttlichen Geistes hinzuweisen [S. 264, Anm. 1].
24 Der göttlichen Weisheit (vgl. n. 37) [S. 264, Anm. 2].
25 Wörtlich: 'den Anfang der Süße'. Das muß man für die folgende Deutung beachten. In dem Vers ist übrigens nicht von der Frucht der Weisheit, sondern von dem Erzeugnis der Biene, dem Honig, die Rede [S. 264, Anm. 3].
26 Im Mittelalter beliebte Deutung des Grußwortes: a-vae (geschrieben ve = weh, wobei a als Alpha privativum verstanden wird) [S. 267, Anm. 1].
27 Die zweite Vorlesung legt einige ausgewählte Stellen aus den Versen 27 bis 31 aus. Im Zentrum steht die Auslegung von Vers 29 (n. 42-61); «wer von mehr zehrt, hungert weiter... » Es geht dabei um das Verhältnis von Seinsverlangen und Seinsverleihung. Eckhart meint, wem das Sein geliehen werde, der verlange gerade danach. Dies wird mit Hilfe der Analogielehre begründet, einer der berühmtesten Texte Eckharts (n. 52-53); vgl. dazu die Einführung in die Auslegung von Vers 29.
Die Predigten und Vorlesungen über Jesus Sirach sind trotz vieler anschaulicher Beispiele und Berührungspunkte mit dem deutschen Werk (Anfang des Buches der göttlichen Tröstungen und andere Texte) nicht leicht zu verstehen. Die Schwierigkeit liegt in der «Kehre», die Eckhart von unserem Denken verlangt: nicht den göttlichen Bereich als Überbau der Wirklichkeit zu verstehen, sondern als die Wirklichkeit selbst, insofern diese über sich hinausverweist, selbst über ihre Gegensätze hinaus, zu ihrer verborgenen Einheit in Gott.
Das Erbe ist die «Sohnschaft», die mehr ist als Schau des Intellekts und mehr als Liebe. (n. 41) [Mieth S. 223].
28 Da der Text der Handschriften verderbt ist, hat die Übersetzung nur den Wert einer Vermutung [S. 270, Anm. 1].
29 Dieser Teil von Eckharts Auslegungswerk ist nicht erhalten. Vergleichsstellen zeigen, daß die Gottesgeburt in der Seele des Gerechten gemeint ist [Mieth S. 224, Anm. 1].
30 Das «Hungern und Dürsten» der Schöpfung nach Gott (n. 43) wird beschrieben: zunächst (1.) durch Unterscheidung zwischen endlichem und unendlichem Verlangen in der Natur (n. 42); dann (2.) im Verlangen des Seienden nach dem Sein (n. 44), denn Seiendes ist «Vom-Anderen-Sein», das «ununterbrochen» empfangen muß, um überhaupt da zu sein, und nur den nackten «Hunger» als Vermögen zum Sein hat (n. 45-47). Das Sein als Ursache des Seienden (3.) unterscheidet sich von den irdischen Ursachen, die nur das Werden beeinflussen können, während Gott zugleich alles unaufhörlich im Sein erhält und werden läßt (n. 48), ohne einer weiteren Ursache zu bedürfen (n. 49) und ohne ein anderes Ziel als sich selbst zu kennen (n. 50). Intellekt und Liebe kennen in ihm kein Ende (n. 51). N. 52-53 enthält die berühmte Analogielehre Eckharts, die nach seinem eigenen Wort (n. 53) von vielen nicht richtig verstanden wird. Analogie heißt: Gliederung desselben in verschiedene «Seinsweisen», von denen die niederen nur Verweischarakter auf die oberen haben, aber keinen Anteil an ihnen. Beispiel: Die «gesunde» Speise verweist bloß auf die Gesundheit im Menschen; der Mostkranz am Wirtshaus zeigt das Getränk nur an. Jedes Seiende aber «hat» Sein und «Vollkommenheit», d. h. seine Daseinsmöglichkeit und seine Vollendungsmöglichkeit (z. B. die Rechtfertigung im theologischen Sinne) nur analog, das heißt uneigentlich und von außen, und das heißt wiederum von Gott. Es erfüllt seine Existenz, indem es von sich weg und über sich hinauf weist auf das, woraus es «ist», durch das es ständig im Dasein gehalten wird. Der entscheidende Satz steht zu Beginn von n. 53: was zu einem andern in analogem Verhältnis steht, hat in sich selbst nichts, um dieses Verhältnis zu begründen, also keinen Selbstand. Deshalb ist es in sich selbst nichts. Aber von Gott im Sein gehalten, dürstet es und hungert nach ihm, denn Gott als das den Geschöpfen Äußerste ist zugleich ihr Innerstes: ihr Sein selbst, sofern sie sind (n. 54). Der Hunger bewirkt auch nicht - wie im natürlichen Bereich die Geschmacksform der Speise - die Form des Daseins, sondern diese Form bewirkt umgekehrt sein Heraustreten aus dem Nichts (n. 55). Im göttlichen Bereich gibt es auch keine Übersättigung des Hungers und Durstes, weil jeder Akt dem «ersten Schluck» gleich ist, das heißt Daseinsverleihung und Vervollkommnung sind ein Akt. Schöpfung und Vollendung sind derselbe Akt (n. 56.57). Übersättigung ist schon deshalb nicht möglich, weil der Hunger beständig ist: Geschaffensein ist nichts als reines «Zehren» nach Gott. N. 59 bietet andere Auslegungen zum Vergleich an, wobei auf den Gegensatz zu Thomas eigens hingewiesen wird, vor allem in n. 60, wo es darum geht, das Wesen des Hungers nicht aus dem Mangel (an Speise oder Sättigung) zu erklären, sondern aus dem Besitz des Verlangten: bei Eckhart hungern die Geschöpfe, weil sie schon im Sein gehalten werden, weil sie sind, nicht weil ihnen das Sein noch mangelt. Hungern nach Gott (= Seinsverlangen) und Seinsverleihung Gottes sind dasselbe [Mieth S. 225 f.].
31 Vielleicht sind in diesem Satz einige Worte ausgefallen, so daß er etwa folgendermaßen ergänzt werden muß: "... erlangt, so nimmt die der Form vorhergehende und auf sie vorbereitende Hitze ein Ende, und es entsteht die der Form folgende vollkommene Hitze" [S. 271, Anm. 1].
32 D.h. derselben Gattung [S. 280, Anm. 1].
33 Der am Wirtshaus aushängende Kranz zeigt an, daß Most oder junger Wein ausgeschenkt wird [S. 280, Anm. 2].
34 Ergänze: in den Geschöpfen [S. 281, Anm. 1].
35 Actus primus (erste Wirklichkeit) wird zunächst als das substanzielle Sein aufgefaßt, das die Wesensform verleiht, im folgenden Abschnitt (n. 56) aber auf den Bereich der (akzidentellen) Akte übertragen, die nach der aristotelischen Terminologie als "zweite Wirklichkeiten" zu bezeichnen sind. [S. 284, Anm. 1].
36 D.h. nach dem Anfang und dem Ende hin [S. 285, Anm. 1].
37 D.h. von Gott [S. 285, Anm. 2].
38 D.h. auch das geringste Geschöpf, das wir zum Gegenstand unseres Strebens machen, trennt uns von Gott; vgl. n. 57 [S. 285, Anm. 3].
39 D.h. der göttlichen Weisheit [S. 286, Anm. 1].
40 D.h. beides ist unendlich [S. 287, Anm. 1].
41 Vgl. n. 60 f [S. 287, Anm. 2].
42 Nach Thomas, von dem auch die eingeklammerten Worte stammen [S. 288, Anm. 1].
43 Also reine Bejahung; vgl. unten n. 63 [S. 289, Anm. 1].
44 Materie, Privation, Form. Entsteht ein Naturding, so verbindet sich nach Aristoteles die Materie mit einer bestimmten Wesensform. Das setzt aber voraus, daß sie ihrer bisherigen Wesensform beraubt wird. In der Beraubung kündigt sich also schon das Werden des neuen Dinges an [S. 290, Anm. 1].
45 Die folgende Auslegung «Wer in mir wirkt, wird nicht sündigen» (n. 62-67) bringt Eckharts Gedanken über die doppelte Verneinung, die im göttlichen Bereich gilt: in Gott ist zunächst alles anders, aber dann auch wieder anders als das andere, falls wir etwa meinen, wir könnten Gott einfach durch Verneinung an der Wirklichkeit «ablesen». Gott ist als Verneinen des Verneinens reine Bejahung (n. 63).
Ferner sieht man Eckharts Werklehre: wer mit Gott wirkt («in mir»), wirkt Gott gemäß (n. 64) und zugleich in Gott, d. h. in Wirkeinheit mit ihm (n. 65). In dieser Wirkeinheit hat er zugleich Anteil an der göttlichen Gerechtigkeit, die Gottes Sein ist (Rechtfertigungslehre, n. 67). Nebenbei: der Zweifel an der Gestalt des Teufels ist Eckhart nicht fremd (n. 65) [Mieth S. 240].
46 Als Ursprung der Zahlenreihe [S. 292, Anm. 1].
47 Das transzendentale Eine besagt die Ungeteiltheit, und, da Teilung eine Verneinung einschließt, bedeutet es Verneinung der Verneinung [S. 77, Anm. 2].
48 D.h. einer andern negativen Aussage über den himmlischen Lohn [S. 293, Anm. 2].
49 Licht geben von innen nach außen (n. 68. 69), ist das abschließende Thema der Vorlesung. Das Innere dieser Bewegung des Lichtes zum Leuchten ist die Bewegung vom Sein zum Leben: das verborgene Sein kommt zum Vorschein und erst in diesem Heraustreten (Offenbarung) macht es lebendig. Alles, was schon lebendig («weiß») geworden ist, muß also im Sein sein wahres Leben haben [Mieth S. 245].
50 Das Spiel mit den Worten praedica, prodic usw. läßt sich in der Übersetzung nicht nachahmen [S. 299, Anm. 1].
51 D.h. die Qualität weiß in abstracto [S. 300, Anm. 1].
Eigene
1 Vgl. Trostbuch n. 17.
2 Vgl. Quaestiones (I) n. 4 [S. 237, not. 8].
3 Vgl. Quaestiones (II) n. 5 [S. 240, not. 3].
4 Non exstat. Eine Auslegung dieser Bibelstelle ist bisher nicht überliefert resp. gefunden [S. 242, not. 4].
5 Non exstat. Vgl. Prol. gen. n. 4 [S. 243, not. 3].
6 Vgl. Prol. gen. n. 21 [S. 247, not. 1].
7 Non exstat, aber an anderen Stellen (In Gen., In Sap. und In Ioh.) ist Eckhart darauf eingegangen [S. 249, not. 6].
8 In Ioh. n. 475-476 [S. 256, not. 4]. S. Anm. dazu unter Datierung.
9 Von diesem Absatz sind zwei Eröffnungen überliefert.
10 Vgl. Prol. op. prop. n. 3 [S. 275, not. 2].
11 Vgl. Proc. col. I n. 2-7.27.29.30.41.42 [S. 282, not. 1].
12 Non exstat. Vgl. Prol. gen. n. 3. Das "Buch der Thesen" ist nicht überliefert.
13 Cicero: Darius [S. 283, not. 7].
14 Diese Bibelstelle ist Thema der Predigt 69.
15 Non exstat. Vgl. Prol. gen. n. 3. Das "Werk der Fragen" ist nicht überliefert.
Diese Seite entspricht dem Abdruck in: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Die lateinischen Werke Band II, Kohlhammer Stuttgart 1992, S. 230-300. Die Texteinschübe und Verweise auf Bibelstellen Kochs in () und Mieths in [] sind etwas eingerückt. Die Nummerierung entspricht dem Abdruck. Die im Text g e s p e r r t e n Textteile habe ich aus Bildschirmkompatibilitätsgründen (Umbruch) statt dessen farblich abgesetzt.
Die Anmerkungszählungen von Koch (die ich im Unterschied zum Original durchnummeriere) und von Mieth sind in (runde) sowie meine in [eckige] Klammern gesetzt.
Edition
Heinrich Denifle, [Denifle, Lehre], S. 563-597.
Sermones et lectiones super Ecclesiastici C. 24,23-31, herausgegeben und übersetzt in Verbindung mit Heribert Fischer von Josef Koch, LW II, S. 231-300.
Beschreibung
Diese Predigten und Vorlesungen sind in zwei Handschriften ganz (C, E) und in einer mit 21 Auszügen (K) überliefert. Was die inhaltliche Beschreibung betrifft, so hat Mieth (in den Anm. 1, 10, 21, 27, 45 und 49) ausführlich dazu Stellung genommen (s.a. die Anmerkungen unter Werk).
Datierung
Wie aus dem Beitrag unter Werk hervorgeht, wurden die erste Predigt und Vorlesung sehr wahrscheinlich am 8. September 1303 aus Anlaß von Eckharts Wahl zum ersten Provinzial der neugebildeten Ordensprovinz Saxonia [Eccli. 24,23-31 secundum ritum Ord. Fratr. Praed. in festo Nativitatis Mariae (die 8 Septembris) ut epistula legebatur - Koch, LW II, S. 231, Anm. 1] auf dem Provinzkapitel in Erfurt gehalten. Da für die zweite Predigt zwei unterschiedliche Eröffnungen überliefert sind, besteht Grund für die Vermutung, daß er diese und die zweite Vorlesung zu zwei verschiedenen Gelegenheiten hielt. Die erste bot sich womöglich - wie es das Explicit aussagt (das nur in der Hs. C enthalten ist) - auf dem Generalkapitel vom 16.-18. Mai 1304 in Toulouse (s. Acta n. 10), das seine Wahl bestätigte, und die zweite schließlich vorzugsweise auf dem zweiten Provinzkapitel der Saxonia am 8. September 1304 in Halberstadt (s. Koch), dass Eckhart zum ersten Mal als bestätigter Provinzial verantwortete.