Einleitung
Die Geschichte der Bibel ist vielleicht das umfassendste Thema, das man sich überhaupt vorstellen kann. Sowohl in theologischer als auch in praktischer Hinsicht, denn über die Bibel wurde über einen längeren Zeitraum hinweg vermutlich mehr geschrieben als über jedes andere Buch der Welt. Aus dem Mittelalter sind mehr Bibelhandschriften erhalten, ob vollständig oder in Fragmenten, als sonstige Artefakte. Die Bibel war das erste Buch von grundlegender Bedeutung, das
Johannes Gutenberg in
Mainz vermutlich 1455/56 druckte. Es ist glaubwürdig belegt, dass von diesem Buch seither mehr Exemplare veröffentlicht wurden als von irgendeinem anderen, und dass von der Bibel selbst heute noch mehr Kopien verkauft werden als von jedem anderen Druckerzeugnis. Sie ist der am weitesten verbreitete schriftlich verfasste Text, und es gibt weltweit vermutlich kaum jemanden, der nicht Zugang zu einem Exemplar, meist sogar in der eigenen Sprache, hätte, was sich von keinem anderen geschriebenen Text behaupten lässt. Viele der in der Bibel erzählten Geschichten sind Bestandteil unseres kulturellen Erbes, darüber hinaus ist die Bibel in ihren verschiedenen Teilen die Grundlage des Judentums, des Christentums und, in geringerem Ausmaß, der Vorgeschichte des Islams.
Die vorliegende Geschichte der Bibel ist keine theologische Auseinandersetzung mit dem Thema. Sie nimmt zur Kenntnis, dass viele Menschen, für welche die Bibel im Laufe ihrer langen Geschichte maßgebend war, ihren Inhalt als göttlich inspiriert betrachtet haben, und dass dies mit ausschlaggebend dafür war, dass die Bibel eine so weite Verbreitung erfuhr und eine so große Leserschaft anzog. Diese Tatsache zu unterschätzen wäre ein großer Fehler. Gleichzeitig gab es andere, die das Lesen der Bibel für gefährlich und sogar für subversiv hielten; sie wurde mitunter verbrannt oder mutwillig zerstört. Das vorliegende Buch bezieht nicht Stellung zu der Frage, ob die Bibel tatsächlich von Gott diktiert oder inspiriert wurde, oder ob ihre Verbreitung moralisch relevant oder bedeutungslos war und ist. Dies ist nicht Aufgabe des Historikers. Beim Verfassen dieses Manuskriptes wurde ich häufig gefragt, woran ich gerade arbeite. Hätte ich antworten können, dass ich mit Dantes Werk oder mit der Publikationsgeschichte der Werke Shakespeares beschäftigt bin, hätte man vermutlich interessiert, aber neutral reagiert. Als ich aber erwiderte, ich würde an einem Buch über die Bibel arbeiten, war eine plötzliche Spannung spürbar. War ich ein religiöser Fundamentalist? Wollte ich mich über die Bibel lustig machen? Welche Position vertrat ich? Warum interessierte ich mich überhaupt für die Bibel, wenn ich sie weder verteidigte noch angriff? Mit fast keinem anderen Thema würde man eine so intensive Anteilnahme hervorrufen. Dass das Thema "Bibel" selbst in unserem offenkundig säkularen Zeitalter in der öffentlichen Meinung nach wie vor so emotional besetzt ist, lässt vermuten, dass sie ein entscheidender Teil unseres weit zurückreichenden kulturellen Erbes ist.
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Quelle: Hamel, S. vii
Anfang des Prologs des hl. Hieronymus zur lateinischen Bibel in der gigantischen Bibel von Bury St. Edmunds, die in England von Meister Hugo illuminiert wurde, ca. 1135.
Cambridge, Corpus Christi College, MS. 2 |
- Die Bibel als Buch
Die vorliegende Arbeit erzählt die Geschichte der Bibel als Buch. Die Geschichte eines literarischen Artefakts. Es geht darin nicht um das ursprüngliche Verfassen der Bibel oder um die historischen Ereignisse im Nahen Osten und in Palästina, die in der Bibel selbst beschrieben werden. Der Titel, der sich während der Entstehung des Textes mehrmals änderte, lautet
Das Buch. Eine Geschichte der Bibel, er könnte aber auch heißen
Die Bibel. Eine Geschichte des Buches. Mein Buch setzt ein zu einer Zeit, als die Bibel bereits als Einheit erkennbar war. Die Bibel existiert in vielen Sprachen (darin unterscheidet sie sich von zahlreichen heiligen Texten anderer Religionen), doch der Text, wie wir ihn kennen, hat sich, bis auf wenige umstrittene Sätze oder eine leichte Verlagerung der Betonung in Tausenden von Jahren, kaum verändert. Dies wird all jene beruhigen, die sich heute auf die Bibel als Grundlage ihres Glaubens stützen. Eben dieser biblische Text ist jedoch im Laufe seiner Geschichte in vielerlei Gestalt in Erscheinung getreten. Er wurde auf Papyrusrollen, Pergament-Handschriften und gedruckten Büchern aus Papier reproduziert. Er erschien in Form Dutzender kleiner Bücher oder als ein einzelnes großes Konvolut. Gerade so, als ob ein und derselbe Gegenstand in jeder Phase der Geschichte eine neue Gestalt angenommen hätte. Die Bibel war immer schon sowohl ein öffentliches Symbol als auch ein Objekt ganz privater Andacht. Sie war unnahbar und heilig; gleichzeitig aber wurde sie in geradezu aggressiver Weise verbreitet. Sie wurde von Kaisern, Nonnen, Professoren, Knechten und Imperialisten zu höchst unterschiedlichen Zwecken benutzt, wobei alle von dem Glauben beseelt waren, dass ihre Interpretation die richtige sei. Sie wurde in Sprachen übertragen, die für die Menschen, welche die Bibel verwendeten und ihre Verbreitung förderten, nicht einmal verständlich waren; zugleich wurde sie in die Alltagssprache fast jedes Winkels der Erde übersetzt. Sie erschien mit oder ohne erklärende Kommentare. Sie war sündhaft teuer oder spottbillig oder wurde gratis verschenkt, jeweils aus gutem Grund. Die Bücher, aus denen sie sich zusammensetzt, wurden in verschiedenen Epochen völlig neu angeordnet, um den Bedürfnissen der Zeit zu entsprechen. Die Bibel kam schlicht und schmucklos daher oder wurde mit einigen der schönsten Werke westlicher Kunst illustriert. Die Bibel - ein und dieselbe Bibel - hat die gesamte Geschichte Europas überdauert, war zeitweise nahezu in Vergessenheit geraten, dann in einer endlosen Zahl von Formen und Strukturen wieder vorhanden, die jeweils unterschiedlichen Zwecken dienten, und bestand dabei immer aus dem identischen Originaltext. Gerade diese beständige Gestalt ein und desselben Textes macht die Bibel so faszinierend.
Das Wort "Bibel" stammt aus dem Griechischen und bedeutet "Buch" oder "Schriftrolle" (es stammt aus einer Zeit, als beide Begriffe noch austauschbar waren). Man muss nicht die ganze Bibel gelesen haben, um der Geschichte des vorliegenden Buches folgen zu können, doch sollte man wissen, dass die Bibel nicht eine einzige, fortlaufende Erzählung ist, sondern sich aus einer Reihe separater oder lose verbundener kleiner Bücher zusammensetzt. Wer mit dem Text vertraut ist, weiß, dass eine exakte Definition selbst dieser einzelnen Komponenten nicht immer einfach ist. Eine Auflistung der Bücher der Bibel findet sich auf
Seite 22-24 und auf
Seite 120. Es gibt Komponenten, die als Teil der Bibel allgemein anerkannt sind, wie beispielsweise die ersten fünf Bücher des Alten Testaments, Genesis bis Deuteronomium, oder die Psalmen. Diese stellen sowohl für die Juden als auch für die Christen offiziell einen Teil des biblischen Kanons dar. Die Bücher des Neuen Testaments hingegen sind ausschließlich christlich. Darüber hinaus gibt es auch Texte, die nicht in allen Bibeln enthalten sind, da sie einigen als zweifelhaft oder unecht gelten, die so genannten Apokryphen. Die Archäologie des zwanzigsten Jahrhunderts mag dem Text der herkömmlichen Bibel zwar wenig hinzugefügt haben, doch hat sie zahlreiche unbekannte Texte entdeckt, die auf beunruhigende Weise den uns vertrauten gleichen, aber nie in die heilige Anthologie aufgenommen wurden, die wir Bibel nennen. Wichtig ist zu wissen, dass die Bibel eine Sammlung von Texten ist, und dass die Einbeziehung oder der Ausschluss bestimmter Bücher sowie die Anordnung ihrer Bestandteile in einer bestimmten Reihenfolge Teil ihrer Geschichte sind.
- Chronologisches
Es versteht sich von selbst, dass keine Darstellung der Verbreitung der Bibel Anspruch auf Vollständigkeit erheben, jede bekannte Handschrift, gedruckte Ausgabe oder gar Übersetzung aufführen kann, denn es gibt Tausende davon. Ein solcher Text wäre unlesbar. Wir können uns deshalb nur auf bestimmte Hauptthemen konzentrieren, die für die Bibel in bestimmten Abschnitten ihrer großen Reise durch die Zeit repräsentativ sind. Diese Themen geben einen erzählerischen Faden vor, der annähernd chronologisch verläuft. Ausgangspunkt ist das vierte Jahrhundert. Damals existierte die Bibel bereits mehr oder weniger in ihrer heutigen Form mit den anerkannten Texten des Alten und Neuen Testaments. Ab dieser Zeit zeigt die Bibel eine ungebrochene Tradition, was für jede Epoche aufgrund noch erhaltener Handschriften oder gedruckter Ausgaben belegt werden kann. Ein Blick in die altgriechische und hebräische Bibel lässt uns nachvollziehen, wie der heilige
Hieronymus die Originaltexte ins Lateinische übertragen hatte und wie die Bibel in dieser Version nach anfänglicher Zurückhaltung vom frühen Mittelalter bis in die Zeit Karls des Großen überliefert wurde. Im elften Jahrhundert wurde das Format der Bibelhandschriften größer und umfangreicher als je zuvor, bis sie schließlich so schwer waren, dass man sie kaum noch hochheben konnte. Im dreizehnten Jahrhundert wiederum wurden die Bibeln sehr klein. Dies war vermutlich ein Wendepunkt ihrer Geschichte, da die Bibel damals zum ersten Mal jenes Format und jene Anordnung zeigte, die wir auch heute noch kennen. Anhand von Kommentaren und biblischen Bildern werden wir das mittelalterliche Bibelverständnis untersuchen. Zumindest in Westeuropa war die Bibel nach wie vor in lateinischer Sprache verfasst, die damals allerdings immer weniger Menschen verstanden. Diese Tatsache verlieh ihr zum einen den Nimbus der Autorität, ließ sie aber auch kryptisch und geheimnisvoll wirken. Hier setzten die geradezu revolutionären Versuche ein, die Bibel in die jeweiligen Landessprachen zu übersetzen. Dies rief besonders in England das Misstrauen der etablierten Kirche hervor, welche die so genannten englischen Wyclif-Übersetzungen rasch als illegal und häretisch erklärte. Wer sie besaß, wurde samt Buch auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts erfand
Johannes Gutenberg den Buchdruck mit beweglichen Lettern. Seine wichtigste Publikation war zweifellos die Bibel, mit der wir uns ausführlich beschäftigen werden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Schreiber jedes einzelne Exemplar der Bibel von Hand kopiert, was unweigerlich Fehler und Irrtümer nach sich zog. Zumindest theoretisch waren die Bücher einer gedruckten Ausgabe identisch. Gutenberg schuf eine Flut gedruckter Texte, die von den ersten Protestanten vereinnahmt und für ihre Zwecke benutzt wurden. Mit seiner deutschen Übersetzung der Bibel gab Martin Luther der Reformationsbewegung entscheidenden Antrieb. Durch seine Übersetzung der griechischen und hebräischen Originaltexte gewann die Bibel eine Autorität, die noch über jene der lateinischen Bibel hinausging. Zudem nutzte Luther die neu entwickelte Drucktechnik zur Verbreitung der Heiligen Schrift. Sowohl die deutsche Luther-Bibel als auch die englische Bibelübersetzung von 1611 waren Meilensteine in der Entwicklung der modernen Literatursprache. Allerdings hatte die englische Übersetzung mit urheberrechtlichen Problemen zu kämpfen, denn nach der Erklärung der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1776 widersetzten sich die Amerikaner allen Restriktionen, wodurch die Bibel in den Vereinigten Staaten erstaunlich rasche Verbreitung fand. In der Zwischenzeit sorgten evangelische Missionare mit ihren Bibelübersetzungen weltweit für die Verbreitung des Christentums. Die Bibel hatte somit Anteil am Siegeszug und der Schuld des Kolonialismus. Im neunzehnten Jahrhundert wurde die historische Authentizität der Bibelgeschichten zum ersten Mal ernsthaft in Frage gestellt. Unter anderen zog Darwin die biblische Version der Genesis in Zweifel, und viele suchten neue Gewissheit in der Archäologie. Mit ihrer Hilfe fand man in Ägypten und rund um das Tote Meer Texte und Fragmente von Originalhandschriften, welche die Geschichte der Bibel zurück bis in die Epoche des Neuen Testaments, also weit vor die Zeit des heiligen
Hieronymus, belegten. Das grenzenlose öffentliche Interesse an relativ kleinen Funden ist ein typisches Phänomen der Moderne. Kein mittelalterlicher Theologe wäre an den Schriftrollen von Qumran interessiert gewesen. Die Entstehungsgeschichte der Bibel mag zwar bereits 400 n. Chr. begonnen haben, aber die geradezu sklavische Abhängigkeit von historischen Ursprüngen ist typisch für das zwanzigste Jahrhundert.
Die Bibel ist in ihrer Geschichte internationaler als jeder andere literarische Text. Unser Kapitel 1 durchquert die westliche Welt von Betlehem bis nach Jarrow und dringt südlich und westlich bis nach Neapel und Spanien vor. Der Schwerpunkt von Kapitel 2 ist im östlichen Mittelmeerraum angesiedelt. Kapitel 3 beschäftigt sich vorwiegend mit Italien und Mitteleuropa. Kapitel 5 konzentriert sich auf Paris, die damals größte Stadt Europas. Kapitel 4 und 6 führen uns durch das restliche Europa, insbesondere nach Frankreich. Kapitel 7 ist in England angesiedelt. Der Großteil von Kapitel 8 und 9 beschäftigt sich mit Ereignissen, die in Deutschland ihren Anfang nahmen. Weite Teile von Kapitel 10 behandeln Nordamerika, Kapitel 11 den Fernen Osten, den südlichen Pazifik und Afrika. Das letzte Kapitel konzentriert sich auf Ägypten und den Nahen Osten.
Unsere Geschichte beginnt mit den Kopisten, welche die Bibeltexte eigenhändig abgeschrieben haben, und sie endet mit der Informationstechnologie. Die Bibel ist jedoch seit jeher ein Text, der immer wieder die Grenzen von Raum und Zeit überwunden hat. Um nur ein Beispiel aus dem katholischen Bereich zu erwähnen: Im September 1998 gab das Benediktiner-Kloster St. John's in Collegeville, Minnesota, eine Bibel in Auftrag. Es handelt sich um eine Handschrift. Das Gesamtwerk soll sieben große Bände im Format 635 x 405 mm umfassen, zweispaltig, zu je 54 Zeilen. Mit der Abschrift wurde der britische Kalligraph Donald Jackson beauftragt. Geschrieben wird auf Pergamentpapier. Sechs Jahre sind für die Fertigstellung der handschriftlichen Fassung veranschlagt. Das Buch beinhaltet wunderschöne Illuminationen, die auch Themen der Moderne aufgreifen. St. John's ist sowohl eine Universität als auch ein Kloster und wurde international bekannt für die angegliederte Hill Monastic Manuscript Library, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, mittelalterliche Bücher mittels Fotografie und nunmehr auch digital zu archivieren. Es hat etwas sehr Tröstliches, dass eine religiöse Gemeinschaft, der alle technischen Möglichkeiten zum Studium mittelalterlicher Bücher zur Verfügung stehen, sich entschieden hat, ihre modernste Bibel in der alten Form einer Handschrift in Auftrag zu geben.
Ich selbst habe mich 1964 im Alter von dreizehn Jahren in Dunedin, Neuseeland, für antiquarische Bücher zu interessieren begonnen. Mein Mentor war Mr. A. H. Reed, der spätere Sir Alfred Reed (1876-1975), der im Sinne eines christlichen Interesses Bibeln gesammelt und diese Sammlung der Dunedin Public Library vermachte. Ich war begeistert von diesen ehrwürdigen Büchern. Mr. Reed ermunterte mich, die Glaskästen zu öffnen und mir die Bücher genauer anzusehen. Die Sammlung enthält keine Glanzstücke von Weltrang, umspannt aber weitgehend die Epochen, die auch das vorliegende Buch behandelt. Sie umfasst u.a. ein Pergamentfragment, das erste, das ich je zu Gesicht bekommen habe, sowie Musterblätter eines Evangeliars aus dem neunten Jahrhundert und große romanische Pult-Bibeln. Außerdem vier Vulgata-Bibeln aus dem dreizehnten Jahrhundert und ein schönes Wycliff-Evangelienbuch (Abb. 134). Darüber hinaus enthält sie ein einzelnes Blatt einer Gutenberg-Bibel und die verschiedensten gedruckten Bibeln aus der Zeit der Reformation und der frühen Missionen, etwa jener nach Neuseeland in den frühen 1940er Jahren. Die Sammlung war entstanden, um die Geschichte des Wortes Gottes zu illustrieren, mir aber eröffnete sie die weite Welt der Handschriften, Kopisten und Illuminatoren, die Welt des Buchdrucks und der Buchbinderei sowie des Sammelns und der Geschichte der Sprache, der Literatur, der Handwerkskunst und der Kunst, kurz, der westlichen Zivilisation. Ich widme dieses Buch dem Andenken der anregenden Stunden, die ich mit A. H. Reed verbracht habe.
Einleitung, S. vi-xi
1. Kapitel: Lateinische Bibeln von Hieronymus bis zu Karl dem Großen
Am Anfang, im späten vierten Jahrhundert, übersetzte der heilige
Hieronymus die Bücher der Bibel aus dem Hebräischen und Griechischen ins Lateinische. Er brachte die verschiedenen Texte in eine bestimmte Reihenfolge und übersetzte sie in die damals in Westeuropa gebräuchliche Alltagssprache. Die Übersetzung des heiligen Hieronymus wurde über tausend Jahre lang, als das Lateinische als Alltagssprache längst verschwunden war, nahezu unverändert verwendet und war von der Antike his zur Renalssance des sechzehnten Jahrhunderts maßgeblich. Natürlich war Hieronymus nicht der Autor der Bibel. Jedes einzelne ihrer Worte, wie wir es heute kennen, existierte zur Zeit von Hieronymus bereits in hebräischer und griechischer Sprache, ja sogar in lateinischer Rohübersetzung. Die tatsächlichen Anfänge des Bibeltextes reichen bis weit vor das vierte Jahrhundert zurück. Die Schriften des hebräischen Alten Testaments wurden über einen großen Zeitraum hinweg gesammelt, Teile davon bereits tausend Jahre vor Hieronymus, in den Wüsten und Städten des Nahen Ostens. Die heiligen Schriften des Judentums wurden dann um die vier Evangelien und andere Bücher des Neuen Testaments erweitert, die von verschiedenen Autoren noch innerhalb des Jahrhunderts, in dem Christus lebte, verfasst worden waren. Diese Texte, das Alte und das Neue Testament der christlichen Bibel, waren zur Zeit des Hieronymus also bereits in Umlauf.
Weite Teile der frühen Geschichte der Bibel werden durch Legenden und Behauptungen verzerrt, die eher religiösen Motiven als einer historischen Perspektive zu verdanken sind. Seit dem vierten Jahrhundert existiert die Bibel als in sich geschlossener Text in kontinuierlicher, ungebrochener Überlieferung. Für jede Epoche ihrer Geschichte findet sich eine repräsentative Handschrift. Zur Vermeidung weiterer Legendenbildungen wollen wir mit einer realen Person beginnen. Hieronymus hat tatsächlich gelebt. Als Einstieg in dieses umfangreiche Epos wählen wir daher einen auch heute noch existierenden Text und eine historisch eindeutig identifizierbare Person.
- Hieronymus
Eusebius
Hieronymus, der hl. Hieronymus, wurde etwa 342 n. Chr. in der Nähe von Aquileia geboren. Aquileia, in Dalmatien im äußersten Nordosten Italiens gelegen, war damals eine bedeutende römische Stadt und das Zentrum einer frühen christlichen Diözese, die angeblich vom hl. Markus gegründet worden war. Das Römische Reich war zu dieser Zeit im Zerfall begriffen und an seinen nördlichen und östlichen Grenzen dem Ansturm der Barbaren ausgesetzt. Dreihundert Jahre lang, ab der christlichen Zeitrechnung, hatte sich das Christentum als Religion rund um das Mittelmeer und entlang der Handelsrouten in den römischen Provinzen ausgebreitet. Bisweilen waren die Christen grausamen Verfolgungen ausgesetzt, die frühen Anhänger der neuen Religion mussten in Katakomben und anderen Verstecken ausharren. Als sich das Römische Reich aufzulösen begann, verloren die Herrscher das Selbstvertrauen und die Autorität, die sie zur Unterdrückung des Christentums benötigt hätten. Stattdessen erkannten sie, dass sie nur durch seine Tolerierung die Einigung der römischen Welt noch erreichen würden, die mittlerweile um ihr Überleben kämpfte. Kalser Konstantin der Große, der von 312-337 n. Chr. regierte, entschied sich, kurz vor der Geburt des hl. Hieronymus, für eine christenfreundliche Politik. Mitte des vierten Jahrhunderts wurde das Christentum die Staatsreligion des späten Römischen Reiches.
- Griechisch
Die Muttersprache des hl.
Hieronymus war vermutlich Griechisch, doch waren damals sowohl Griechisch als auch Latein Alltagssprache. Hieronymus wurde im Alter von etwa zwölf Jahren nach Rom geschickt, wo er bei dem berühmten Grammatiker Donatus Latein studierte. Das von Donatus verfasste Lehrbuch entwickelte sich zur bekanntesten lateinischen Sprachfibel des Mittelalters. Als Gutenberg viele Jahrhunderte später die Kunst des Buchdrucks erfand, hatte er beim Druck des ersten Buches in Europa die Wahl zwischen der Grammatik des Donatus und der großen Bibelübersetzung von Hieronymus. Hieronymus selbst schrieb ein klares und flüssiges Latein, und es mag etwas über den Erfolg seines literarischen Stils aussagen, dass sein Lehrer Donatus mit seiner Grammatik fast jedem Bibelleser in Europa mehr als tausend Jahre lang das erste Lateinwissen vermittelte.
- Latein
Als er Latein beherrschte, ging
Hieronymus auf Reisen, um seine Studien in anderen Teilen des Römischen Reiches fortzusetzen. Er besuchte Palästina und den Nahen Osten, wo er seinem Griechisch den letzten Schliff gab und Hebräisch zu studieren begann. Viele Gemälde des Mittelalters und der Renalssance zeigen ihn als Einsiedler in der syrischen Wüste mit einem Löwen zu seinen Füßen und von Büchern umgeben. Der Löwe als sein Begleiter ist - ebenso wie die Behauptung, dass Hieronymus Kardinal war - eine rührende Erfindung des Mittelalters. Hieronymus-Bilder zeigen oft, entweder auf dem Boden liegend oder an einem Haken hängend, einen mittelalterlichen roten Kardinalshut. Belegt ist, dass Hieronymus bald nach seiner Ausbildung eine Art Kanzlei in der päpstlichen Residenz in Rom hatte, offenbar war er Sekretär des Papstes Damasus, der von 366-384 n. Chr. Bischof von Rom war. Der Papst hatte sich damals bereits als Oberhaupt des Christentums etabliert. Damasus selbst arbeitete unermüdlich daran, die Stadt Rom zur christlichen Hauptstadt Europas zu machen. Er ließ Kirchen und andere Gebäude in der Stadt erbauen und ehrte die ersten römischen Märtyrer. Hieronymus stand etwa im Jahr 382 n. Chr. im Dienste von Damasus und scheint während seiner Zeit in Rom mit der Revision des Bibeltextes begonnen zu haben.
- Vorrede
In vielen lateinischen Evangelienhandschriften des Mittelalters ist noch die Vorrede des
Hieronymus an den "gesegneten Papst Damasus" erhalten, in der er erwähnt, dass Damasus ihm den Auftrag erteilt hatte, den Text der vier lateinischen Evangelien zu überarbeiten. Zu jener Zeit waren in Rom bereits verschiedene Übertragungen der Evangelien ins Lateinische verfügbar. Diese waren jedoch so oft abgeschrieben worden, dass sich unzählige kleinere Abweichungen in den Text eingeschlichen hatten. In seiner Vorrede teilt Hieronymus dem Papst Damasus mit, dass es so viele Versionen der Evangelien gebe wie Handschriften. Hieronymus übertrieb jedoch, denn die Handschriften wiesen zweifelsohne nur geringfügige Abweichungen auf. Die Vorrede führt jedoch ein immer wiederkehrendes Thema in die Geschichte der Bibel ein. Fast jeder, der von Hand einen so langen oder so komplizierten Text wie die Bibel abschreibt, wird gelegentlich das eine oder andere Wort missdeuten oder beim Versuch, vermeintlich falsche Transkriptionen eines früheren Kopisten zu korrigieren, den Text unabsichtlich verfälschen. Der nächste Schreiber hat dann diese Fehler vermutlich übernommen und wiederum neue produziert. Ein endloser Prozess, der zur Folge hat, dass uns das Thema der sich vervielfachenden Abweichungen zumindest bis zur Erfindung des Buchdrucks in den folgenden Kapiteln immer wieder beschäftigen wird.
- Evangelien-Versionen
Im päpstlichen Haushalt von Damasus befanden sich damals vermutlich die zwei wichtigsten Evangelienversionen. Eine war wahrscheinlich in Griechisch verfasst, der Sprache, in der die Texte ursprünglich geschrieben worden waren. Rom war eine kosmopolitische Stadt, und die ersten Christen in Rom haben vermutlich Griechisch gesprochen (im Vertrauen darauf, dass man ihn verstehen würde, hat der hl. Paulus seinen Brief an die Römer in Griechisch verfasst). An den Rändern des westlichen Reiches, von den Küsten Afrikas bis nach Spanien und Gallien, kamen im Laufe der Zeit verschiedene lateinische Versionen von Büchern der Bibel auf, denn die Neubekehrten sprachen kein Griechisch. Die größte Verbreitung fand die so genannte "altlateinische" Version. Die übersetzung war jedoch bieder, wenig elegant und außerdem uneinheitlich. Von Schriftstellern wie dem hl. Zyprianus (gest. 258 n. Chr.), der Bischof von Karthago in Nordafrika war, wissen wir, dass im dritten Jahrhundert alle Teile der Bibel in den altlateinischen Versionen verfügbar waren. Papst Damasus selbst war spanischer Abstammung und kannte die altlateinischen Evangelientexte zweifelsohne seit seiner Kindheit. Als sich im Römischen Reich das Christentum durchsetzte und die Päpste Rom erneut die Vorherrschaft im Reich sicherten, war das Bedürfnis nach einer Bibel in der Sprache der Regierungshauptstadt verständlich. Das Altlateinische sollte diesem Wunsch gerecht werden. Gerade diesen altlateinischen Text jedoch fand
Hieronymus besonders misslungen und verfälscht, und so forderte er eine Neuübersetzung in akkurates und idiomatisch korrektes, römisches Latein.
- Handschriften
Eine Reihe von Fragmenten und beschädigten Handschriften der altlateinischen Evangelien aus der Zeit des
Hieronymus sind erhalten geblieben. Sie vermitteln uns eine Vorstellung davon, welche Art von Handschriften er verwendet haben könnte. Eine der beschädigten Handschriften altlateinischer Evangelien, der so genannte Codex Vercelli, befindet sich nach wie vor in der Bibliothek der Kathedrale von Vercelli. Sie wurde dort als Reliquie des hl. Eusebius von Vercelli aufbewahrt, der angeblich selbst als Schreiber tätig war. Dem Schrifttyp nach kann das Buch alt genug sein, um es Eusebius, der im Jahr 371 n. Chr. starb, zuzuschreiben; somit stammt es auch aus der Zeit von Hieronymus und Papst Damasus. Eine weitere Handschrift desselben Textes ist nur in Form loser und verkohlter Blätter in der Biblioteca Nazionale in Turin erhalten (Cod. G. VII. 15). Sie befand sich einst in der Klosterbibliothek von Bobbio und stammt ebenfalls aus dem späten vierten Jahrhundert. Vermutlich war sie von Nordafrika nach Italien gelangt.
- Altlatein
Bücher wie dieses waren, wenn wir sie uns unversehrt vorstellen, die Art altlateinischer Handschriften, die
Hieronymus in Rom im Jahre 380 n. Chr. vorfand: Kleinformatige, fast rechteckige Bände aus dünnem Pergamentpapier, das in eher unordentlicher Schrift, nahezu ohne Interpunktion oder Wortzwischenräume beschrieben war. Die Schrift ist als "Unzialschrift" bekannt, die eine Übergangsschrift von der römischen Großbuchstabenschrift zur Minuskel war. Das Fehlen der Wortzwischenräume wirkt heute befremdlich, nur durch lautes Lesen lässt sich die Bedeutung der Sätze erfassen. Die Textabweichungen bei Fragmenten wie diesen scheinen Hieronymus' Bemerkung zu bestätigen, dass es ebenso viele Varianten wie Handschriften gab. Zur Veranschaulichung ein kleines Beispiel, das aus den allgemein bekannten Bildtafeln dieser zwei Handschriften willkürlich ausgewählt wurde:
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Quelle: Hamel, S. 16
Diese Detailansicht des Codex Vercelli (fragm. Hs. 2. Hälfte 4. Jh.) zeigt in der vierten und fünften Zeile oben rechts den Text von Matthäus 10,21.
Vercelli, Biblioteca Capitolare, S. N. |
In der Vercelli-Handschrift von Matthäus 10,21 heißt es: "Es wird aber der Bruder den Bruder in mortem (zum Tode) überliefern" (Abb. 4), während in der Turiner Handschrift an der gleichen Stelle "ad mortem" steht: Die Bedeutung ist dieselbe, die Worte aber weichen leicht voneinander ab. Hieronymus entschied sich für in mortem. Darüber hinaus verwechselte der Kopist der Turiner Handschrift offenbar ein "f" der Unzialschrift mit einem "e" und schrieb "der Bruder (frater) wird den eratrem ad mortem überliefern", was natürlich Unsinn ist, außer Eratres wäre der Name einer Person. Der Name ist ungewöhnlich, doch in den Evangelien tauchen zuhauf Namen auf, die im Italien des vierten Jahrhunderts nicht gebräuchlich waren. Zudem gab es keine Großbuchstaben, die den Beginn eines Eigennamens angezeigt hätten. Da die Wortzwischenräume fehlen, könnte der Leser erat sogar für ein Verb halten, wonach rem ein eigenes Wort wäre, eine zwar grammatikalisch seltsame und sinnlose Kombination, aber immerhin aus erkennbaren lateinischen Wörtern zusammengesetzt. Das Beispiel macht deutlich, wie leicht sich selbst in einen einfachen kurzen Vers eine kleine, aber vielleicht folgenreiche Abweichung einschleichen konnte.
- Kanon-Tafeln
Der hl.
Hieronymus könnte die Bedeutung von Matthäus 10,21 natürlich auch anhand des gleichen Satzes in einer griechischen Handschrift überprüft haben. Im Rom des vierten Jahrhunderts kann es keinen Mangel an griechischen Evangelienbüchern gegeben haben. Wir wissen, dass Hieronymus sich auf einige der spätesten griechischen Texte stützte, weil er eine ihrer innovativen Besonderheiten übernahm und übersetzte.
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Quelle: Hamel, S. 17
Kanontafeln aus einem lateinischen Evangelienbuch Mitte des achten Jahrhunderts. Die Abschrift wurde von dem Kopisten Lupo in Süditalien angefertigt.
London, BL, ADD. MS. 5463 |
Dies waren die Kanontafeln nach Eusebius von Cäsarea (ca. 260-340 n. Chr), die dieser kurz davor erfunden hatte. In seiner Vorrede an Papst Damasus erläutert Hieronymus den Zweck dieser Tafeln. Jedes der vier Evangelien erzählt in leicht abweichender Form eine ähnliche Geschichte. Die Tafeln enthalten eine Reihe kolorierter Diagramme, die wie Arkadenbögen einer frühen Kirche gezeichnet sind. Zwischen den Säulen befanden sich nummerierte Kapitelverweise auf Parallelstellen der Evangelien. Der Leser konnte auf diese Weise mühelos Querbezüge zu vergleichbaren Textstellen in den anderen Evangelien herstellen. Viele Jahrhunderte hindurch waren die Kanontafeln für die Leser der Evangelien eine praktische Hilfe.
- Psalterium romanum
Wenn
Hieronymus bei Papst Damasus von 382 n. Chr. bis zu dessen Tode im Jahr 384 n. Chr. in Dienst stand, hat er für intensive Bibelstudien vermutlich nur wenig Zeit gehabt. Offenbar vollendete er in diesen Jahren einen lateinischen Text der Evangelien und arbeitete auch intensiv am Psalter. Die lateinische Version, die er von den Psalmen anfertigte, ist mit großer Sicherheit jene, die unter dem Namen "Psalterium Romanum" erhalten ist, weil sie vom frühmittelalterlichen Papsthof in Rom übernommen wurde. Es ist möglich, wenngleich nicht erwiesen, dass Hieronymus zu dieser Zeit mit der Überarbeitung anderer Teile des Neuen Testaments, von der Apostelgeschichte bis zur Offenbarung, begonnen hat.
- Betlehem
Nach dem Tod von Papst Damasus nahm
Hieronymus seine Studienreisen nach Nordafrika, Antiochien und Palästina wieder auf. Im Jahre 386 n. Chr. ließ er sich schließlich in Betlehem nieder. Dort übernahm er die Leitung eines Klosters, in dem er über dreißig Jahre lang lebte und an einer umfassenden Bibelübersetzung arbeitete. In seinen Briefen erwähnt Hieronymus, dass er Zeit seines Lebens Handschriften gesammelt hatte. Gewiss war er in Betlehem von zahlreichen Büchern umgeben, besaß mit Sicherheit zahlreiche Abschriften der Bibel in griechischer Sprache. Das Neue Testament war im Original in griechischer Sprache verfasst. Das Alte Testament, die Bibel des Judentums, war ursprünglich in hebräischer Sprache geschrieben, wurde aber für die griechisch sprechenden jüdischen Gemeinden im dritten und zweiten Jahrhundert vor Christus ins Griechische übersetzt (im nächsten Kapitel werden wir darauf zurückkommen). Hieronymus besaß auch weitere griechische Übersetzungen aus dem Hebräischen, die Aquila, Symmachus und andere Schriftsteller des zweiten Jahrhunderts angefertigt hatten, von denen nur der Name überliefert ist. Hieronymus verfügte über Abschriften ihrer Übersetzungen in einer riesigen sechsbändigen Bibelhandschrift, der so genannten
Hexapla, die der berühmte griechische Gelehrte und Theologe
Origenes (ca. 185-251 n. Chr.) ausgearbeitet hatte. Die erste Spalte war in hebräischer Sprache und Schrift verfasst. Die zweite war ebenfalls in hebräischer Sprache verfasst, allerdings in griechischer Transcription. Die Spalten drei bis sechs enthielten vier verschiedene griechische Übersetzungen desselben Textes. Dieses Buch, das leider verloren gegangen ist, scheint bemerkenswert gewesen zu sein und viele Bibelforscher hätten es für ihre Studien sicher gern zur Verfügung gehabt. Hieronymus berichtet, er habe die Originalhandschrift dieses monumentalen Werkes in Cäsarea, an der Mittelmeerküste Palästinas, gefunden, und sie nach Betlehem zurückgebracht.
- At, Kommentare
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Quelle: Hamel, S. 19
Hieronymus fertigte drei unterschiedliche lateinische Übersetzungen der Psalmen an. Diese Handschrift der lateinischen Vulgata aus dem frühen dreizehnten Jahrhundert enthält zwei davon als Paralleltexte, das sogenannte "Psalterium Gallicanum" und das "Psalterium juxta Hebraeos".
Privatsammlung |
Ende der 380er Jahre begann
Hieronymus mithilfe seiner umfangreichen Handschriftensammlung erneut mit der Überarbeitung der gesamten Bibel, wobei er sich nun besonders auf das Alte Testament konzentrierte. Zu den einzelnen Büchern der Bibel verfasste er auch ausführliche Kommentare, die in
Kapitel 4 beschrieben werden. Die Bedeutung dieser Kommentare für die Rekonstruktion der Tätigkeit des Hieronymus liegt darin, dass er die Bibel in seinem Text häufig zitiert. Durch das Sammeln und Ordnen dieser Zitate lässt sich die Beschaffenheit der Bibelversion annähernd rekonstruieren, auf die Hieronymus sich damals gestützt hatte.
Er hatte vermutlich für seinen eigenen Gebrauch eine zweite Fassung des Psalmentextes angefertigt, die er mit dem griechischen und dem Hexapla-Text verglich, diese mit dem griechischen verglichene Version ist unter der Bezeichnung "Psalterium Gallicanum" (da in Gallien weit verbreitet) noch erhalten. Nach ähnlichen Prinzipien hatte Hieronymus das Buch Ijob und vermutlich auch die Bücher der Chronik und die Weisheit Salomos überarbeitet.
- Hebräisch
Um etwa 390 erkannte Hieronymus, dass es vergeudete Zeit wäre, eine definitive lateinische Version des Alten Testaments aus dem Griechischen anzustreben. Er sah ein, dass diese Version sich auf der Grundlage des griechischen Textes nicht erstellen ließ. Eine größere Authentizität war nur erreichbar, wenn er sich von allen griechischen Versionen lösen und direkt aus dem hebräischen Original übersetzen würde. Ab dieser Zeit widmete er sich etwa fünfzehn Jahre lang dieser großen Aufgabe. Dazu gehörte auch die dritte Übersetzung der Psalmen auf der Grundlage der hebräischen Version. An diesem Punkt können wir uns nur auf Hieronymus' Bericht über seine Quellen verlassen, denn hebräische Bibelhandschriften aus der Zeit zwischen der Abfassung der Qumran-Rollen (die zu Hieronymus' Lebzeiten natürlich unbekannt waren) und dem neunten oder zehnten Jahrhundert existieren nicht mehr. Wir können also nicht überprüfen, welche hebräischen Texte Hieronymus zur Verfügung standen, dürfen jedoch davon ausgehen, dass Hieronymus, der mittlerweile fließend Hebräisch sprach, seine hebräischen Quellen sorgfältig und gewissenhaft übersetzte. Nach späteren hebräischen Handschriften desselben Textes zu urteilen, entsprachen Hieronymus' Übertragungen in ihrer Zuverlässigkeit der Genauigkeit der hebräischen Bibeln, auf die er sich bezogen hatte.
- Kanon-Texte
Hieronymus' wachsendes Vertrauen in die hebräische Heilige Schrift bringt uns zu einem weiteren wichtigen und komplizierten Aspekt unseres Vorhabens, die Geschichte der Bibel nachzuzeichnen. Gemeint ist das Problem der Definition, welche Texte als Teil der Bibel zu betrachten sind und welche nicht. Heute gehen die meisten Menschen von der Bibel als einer Einheit aus, die Gültigkeit ihrer verschiedenen Komponenten wird selten in Frage gestellt. Entweder man akzeptiert den ganzen Textkorpus oder man lehnt ihn ab. Frühe Leser der Bibel hatten diese Gewissheit nicht. Die Gelehrten rangen verzweifelt um die Entscheidung, welche Teile als heilig, also auf die eine oder andere Weise von Gott inspiriert betrachtet werden sollten, und welche lediglich von Frömmigkeit diktiert waren. Die Frage wird uns in Kapitel 12 wieder beschäftigen, wenn wir die Vielzahl befremdlicher Texte untersuchen, die Teilen der Bibel verwirrend ähnlich sind und in der frühchristlichen Kirche offenbar verbreitet waren.
- Apokryph
Hieronymus fand heraus, dass die hebräischen Schriften die Bücher Tobit, Judit, Weisheit, Ecclesiasticus, I-II Makkabäer und Baruch nicht enthielten, die in der verbreiteten griechischen übersetzung enthalten waren. Er hatte Texte von Tobit und Judit bereits aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen. Nun jedoch strich Hieronymus diese Bücher aus seiner definitiven Ausgabe des Alten Testaments und stufte sie als apokryph ein. "Apokryph" bedeutet eigentlich "verborgen", die apokryphen Bücher sind Texte, die nicht in den Kanon der Bibel aufgenommen wurden. Ähnlich stellte er die Echtheit von Teilen anderer Bücher in Frage, darunter Esther 10,4 bis 16,24 und die Kapitel 13 und 14 des Buches Daniel. Hieronymus betrachtete den hebräischen Text als verbindliche Grundlage und verwarf alle Teile der Bibel, die er darin nicht gefunden hatte. Teilweise ordnete er die Bücher des Alten Testaments auch neu an, um sie mehr oder weniger der Reihenfolge der Hebräischen Bibel anzupassen.
- Canon Muratori
Die Bestandteile des Neuen Testaments dagegen waren zur Zeit
Hieronymus' weniger umstritten. Der "Canon Muratori" (ein früher christlicher Text, benannt nach dem Gelehrten, der ihn publizierte) zeigt, dass weite Teile des so genannten Neuen Testaments von den Christen bereits Ende des zweiten Jahrhunderts als echt angesehen worden waren. Die Briefe von Jakobus und Petrus jedoch waren damals noch nicht in die Liste der offiziellen Texte aufgenommen. Erst zu Hieronymus' Zeit hatten sie darin ihren sicheren Platz. Insgeheim zweifelte er zwar, wie Bibelforscher heute noch, an der Echtheit des Briefes an die Hebräer, akzeptierte und billigte jedoch im Großen und Ganzen das Neue Testament in der überlieferten Form.
Hieronymus konzentrierte sich beim Übersetzen in erster Linie auf die Evangelien. Er hatte sie Anfang der 80er Jahre des vierten Jahrhunderts für Papst Damasus ins Lateinische übertragen und bearbeitete diese übersetzung während seiner Jahre in Betlehem weiter. Es ist jedoch nicht bekannt, ob er auch die restlichen Teile des Neuen Testaments übersetzt hatte. Der lateinische Text in der Form, wie er aus der Zeit des Hieronymus erhalten ist, könnte in Wirklichkeit das Werk von einem oder mehreren anonymen römischen Bearbeitern sein. Selbst bei Texten, die mit Namen und Lebensdaten von Hieronymus versehen sind, besteht keine Sicherheit darüber, ob Hieronymus ganz allein daran gearbeitet hat.
Hieronymus starb 420 n. Chr. im Alter von fast achtzig Jahren. Abschriften seiner Texte kursierten bereits zu seinen Lebzeiten und waren in ganz Europa verbreitet. Hieronymus selbst oder mit ihm befreundete Schriftsteller (deren gab es viele) brachten seine Bibelrevisionen in die von ihm vorgesehene Reihenfolge. Diese Fassungen zeigten die gültigsten und authentischsten Bibeltexte der damaligen Zeit in einer exzellenten und flüssigen lateinischen übersetzung. Die Anmerkungen und editorischen Kommentare von Hieronymus waren Ausdruck seiner Autorität.
- Prologe
Bereits sehr früh, vermutlich noch zu
Hieronymus' Lebzeiten, wurden dem Text Prologe hinzugefügt, die allerdings nicht den Anspruch erheben, Teil der Bibel zu sein. Es handelt sich dabei um kurze Einführungen in jedes Buch der Bibel bzw. in jede zusammenhängende Gruppe von Büchern. In den meisten lateinischen Bibeln werden diese Prologe explizit und namentlich Hieronymus zugeschrieben. Dies ist zwar korrekt, doch hat Hieronymus sie meist aus anderen Büchern exzerpiert und nicht eigens für die Bibel verfasst. Bei manchen handelt es sich um Auszüge aus Briefen, die Hieronymus an seinen Schüler Bruder Ambrosius geschrieben hatte (Briefe 52-53 in gedruckten Ausgaben). Andere stammen aus Hieronymus' Buch über berühmte Schriftsteller
De Viris Illustribus. Wie die Kanontafeln nach Eusebius waren diese Bibel-Prologe als Hilfestellung für den Leser gedacht, dem sie das Verständnis des Kontextes und der Urheberschaft jedes Buches erleichtern sollten. Die Prologe erläutern kurz das Thema der Bücher, erörtern häufig auch die Gründe, warum Hieronymus diejeweiligen Bücher als authentisch betrachtete oder aber ablehnte, und erklären die unterschiedliche Anordnung der Texte in den Fassungen verschiedener alter Sprachen. Im Prolog zu den Büchern der Könige äußert er sich beispielsweise über seine Ablehnung der als Apokryphen bezeichneten Texte, die er im hebräischen Original nicht vorfand.
- Ironie des Schicksals
Die weitere Geschichte der lateinischen Bibel des
Hieronymus lässt sich nur als Ironie des Schicksals bezeichnen. Hieronymus' größte Leistung bestand in der Bewertung der textlichen Authentizität, der Streichung von Büchern und Passagen, die er als nicht authentisch betrachtete. Hieronymus' Bibel war ein Muster an wissenschaftlicher Akribie und Sorgfalt. Seine Ansichten und Entscheidungen sind nach wie vor von großer Bedeutung. Doch in allen darauffolgenden Epochen sträubten sich Teile der bibellesenden Gemeinde dagegen, vertraute Passagen einer textlichen Säuberung zu opfern, so sehr diese Streichungen auch gerechtfertigt sein mochten. Bei jedem heiligen Text wurden lieber zweifelhafte Hinzufügungen akzeptiert, als dass man das Risiko einging, authentische Passagen zu verlieren. Die Aufnahme von Textstellen, deren Authentizität nicht bewiesen war, schien immer noch sicherer als Gefahr zu laufen, Passagen vielleicht göttlichen Ursprungs zu verlieren.
Die nach dem Vorbild des hebräischen Originals gekürzte Bibel des Hieronymus war zu puristisch, um allgemein akzeptiert zu werden. Im Zuge des vielfachen Abschreibens der Bibel und ihrer Einbindung in das Leben der lateinisch sprechenden Kirche fanden schon sehr bald sämtliche von Hieronymus ausgeschlossenen Bücher und Passagen erneut Eingang in den Textkorpus. Aber es kam noch schlimmer. Die Gebeine des hl. Hieronymus würden sich vermutlich in ihrem Reliquienschrein umdrehen, wenn er erführe, was dann geschah. Nicht nur, dass die von ihm als apokryph festgestellten Texte an ihren alten Platz zurückfanden, darüber hinaus wurden sie auch noch im archaischen Altlatein in die Bibel aufgenommen, denn Hieronymus hatte diese Teile ja nicht übersetzt. Das Buch der Weisheit, Ecclesiasticus, I-II Makkabäer und andere Texte kehrten im Wortlaut jener schlechten übersetzung, die Papst Damasus seinerzeit bewogen hatte, seinen Sekretär mit einer Revision zu beauftragen, in die Ausgabe des Hieronymus zurück. Große Teile des altlateinischen Textes konnten allein aus dem Grund überdauern, dass Hieronymus sie definitiv ausgeschlossen hatte.
- Vulgata
Die endgültige lateinische Bibel, bekannt als die "Vulgata", ist somit tatsächlich in sich ungleichartiger als ihr Ruf vermuten ließe. Der Name bedeutet die "allgemein Verbreitete". Wenngleich keineswegs sicher ist, dass
Hieronymus für alle Teile des Werks allein verantwortlich zeichnet, wurde die Vulgata in den meisten Handschriften ihm allein zugeschrieben. Während des gesamten Mittelalters wurde die monumentale Vulgata-Ausgabe der lateinischen Bibel vom Großteil der westlichen Christenheit verwendet, sie wurde von Gutenberg erstmals gedruckt und ist nach wie vor verbreitet. Heute ist sie selbst im Internet zugänglich.
Tabelle zur Vulgata
Prolog zur gesamten Bibel des Hieronymus, beginnend mit "Frater Ambrosius ..." |
Prolog zum Pentateuch von Hieronymus, beginnend mit "Desiderii mei ..." |
Genesis
Exodus
Levitikus
Numeri
Deuteronomium
|
von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt |
Prolog zu Josua, von Hieronymus, beginnend mit "Tandem finito ..." |
Josua
Richter
Rut
| von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt |
Prolog zu Könige, von Hieronymus, beginnend mit "Viginti et duas ..." |
I Samuel (I Könige in Latein)
II Samuel (II Könige in Latein)
I Könige (III Könige in Latein)
II Könige (IV Könige in Latein)
| von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt |
Prolog zu Jesaja, von Hieronymus, beginnend mit "Nemo cum prophetas ..." |
Jesaja |
von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt |
Prolog zu Jeremia, von Hieronymus, beginnend mit "Ieremias propheta ..." |
Jeremia
Klagelieder
Baruch
|
beide von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt
von Hieronymus verworfen, unverändert aus dem Altlateinischen übernommen |
Prolog zu Ezechiel, von Hieronymus, beginnend mit "Ezechielpropheta ..." |
Ezechiel |
von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt |
Prolog zu Daniel, von Hieronymus, beginnend mit "Daniel prophetam ..." |
Daniel |
von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt |
Prolog zu Hosea, von Hieronymus, beginnend mit "Non idem ordo ..." |
Die zwölf kleinen Propheten
|
alle von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt;
mit Prologen von Hieronymus zu Joël (beginnend mit "Joel filius ..."), Amos (beginnend mit "Amos propheta ..."), Obadja (beginnend mit "Abdias qui interpretatur ..."), Jona (beginnend mit "Jonas columba ..."), Micha (beginnend mit "Micheas de Morasti ..."), Nahum (beginnend mit "Nahum consolator ..."), Habakuk (beginnend mit "Habacuc luctator ..."), Zefanja (beginnend mit "Aggaeus festivus ..."), Sacharja (beginnend mit "Zacharias memor ...") und Maleachi (beginnend mit "Malachias aperte ..."). |
Zwei Prologe zu Ijob von Hieronymus, beginnend mit "Cogor per singulos ..." und (im Allgemeinen) "Si autem ..." |
Ijob |
von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt |
Prolog zu den Psalmen, von Hieronymus, beginnend mit "Psalterium Rome ..." |
Die Psalmen |
Das "Psalterium Gallicanum", die zweite von Hieronymus' drei Versionen, wurde aus dem Griechischen und nicht aus dem Hebräischen übersetzt; seine dritte und letzte "hebräische" Psalter-Fassung, die Teil der Ausgabe werden sollte, ist in einer Parallelspalte neben dem Gallischen, allerdings nicht als eigenständiger Psalmentext, zu finden. |
Prolog zu den Büchern Salomo, von Hieronymus, beginnend mit "Tres libros Salomonis..." |
Prolog zu Sprichwörter, von Hieronymus, beginnend mit "Iungat epistola ..." |
Sprichwörter |
von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt |
Prolog zu Ecclesiastes, von Hieronymus, beginnend mit "Memini me ..." |
Ecclesiastes (= Prediger)
Das Hohelied
Weisheit
Ecclesiasticus
| beide von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt
von Hieronymus verworfen, unverändert aus dem Altlateinischen übernommen |
Prolog zu I Chronik, von Hieronymus, beginnend mit "Si septuaginta ..." |
I Chronik
II Chronik
|
beide von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt |
Prolog zu Esra, von Hieronymus, beginnend mit "Utrum difficilius ..." |
Esra (I Esdras in Latein)
Nehemia (II Esdras in Latein)
III Esdras
IV Esdras
| beide von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt
von Hieronymus verworfen, unverändert aus dem Altlateinischen übernommen |
Prolog zu Ester, von Hieronymus, beginnend mit "Librum Esther ..." |
Ester |
von Hieronymus aus dem Hebräischen übersetzt |
Prolog zu Tobit, von Hieronymus, beginnend mit "Chromati et Heliodoro ..." |
Tobit |
von Hieronymus aus dem Griechischen übersetzt, später aber verworfen |
Prolog zu Judit, von Hieronymus, beginnend mit "Apud Hebreos ..." |
Judit |
von Hieronymus aus dem Griechischen übersetzt, später aber verworfen |
I Makkabäer
II Makkabäer
|
von Hieronymus verworfen, unverändert aus dem Altlateinischen übernommen |
An Papst Damasus gerichteter Prolog zu den Evangelien, von Hieronymus, beginnend mit "Beatissimo papae Damaso ..." |
Prolog zu den Evangelien, von Hieronymus, beginnend mit "Plures fuisse ..."
Kanon-Tafeln zu den Evangelien, übersetzt von Hieronymus nach Eusebius von Cäsarea |
Matthäus
Markus
Lukas
Johannes
|
alle von Hieronymus aus dem Griechischen übersetzt |
Prolog zur Apostelgeschichte, von Hieronymus, beginnend mit "Actus apostolorum nudam ..." |
Apostelgeschichte |
aus dem Griechischen übersetzt, möglicherweise von Hieronymus, vermutlich aber von einem unbekannten Übersetzer |
Die kurzen Prologe zu allen folgenden Büchern wurden in den Handschriften im Allgemeinen Hieronymus zugeschrieben, sind jedoch keine authentischen Bestandteile irgendeines Textes von Hieronymus. |
Jakobus
I Petrus
II Petrus
I Johannes
II Johannes
III Johannes
Judas
Offenbarung (Apokalypse in Latein)
Römer
I Korinther
II Korinther
Galater
Epheser
Philipper
I Tessalaonicher
II Tessalonicher
Kolosser
I Timotheus
II Timotheus
Titus
[ Laodizeer ]
Philemon
Hebräer
|
|
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Handschriften der lateinischen Vulgata im Mittelalter eine komplizierte Reihe von Paralleltexten umfassen, die zum Großteil auf der Arbeit von
Hieronymus basieren. Die Liste auf den vorhergehenden Seiten veranschaulicht deren charakteristische Bestandteile. Je nach Handschrift kann die Reihenfolge leicht variieren, insbesondere was die Anordnung der Texte betrifft, die Hieronymus nicht selbst übersetzt oder als apokryph verworfen hatte.
- Anfeindungen
Da
Hieronymus' monumentale lateinische Übersetzung zweifelsohne der bislang authentischste Bibeltext und sein Ruf als Gelehrter und Kirchenlehrer untadelig waren, hätte man erwarten können, dass sich der lateinische Westen seinen Text ohne Zögern zu Eigen macht. Es kam jedoch anders. Die Balance zwischen der exakten Rekonstruktion eines Textes und der Abänderung heiliger Worte, die jedem Bibelleser von Kindesbeinen an vertraut sind, war zu allen Zeiten schwierig. Kein anderer Text war und ist in der Lage, in Europa ein solches Misstrauen gegenüber Textkorrekturen zu wecken wie die Bibel, und doch besteht bei keinem anderen Text theoretisch so große Einigkeit darüber, dass seine Authentizität mit größtmöglicher Akribie zu erforschen ist. Dazwischen ist nur wenig Raum für einen Kompromiss. Diese Tatsache kennzeichnet jede einzelne Bibelausgabe. In seiner Vorrede an Damasus beschreibt Hieronymus selbst, dass seine in Rom verfasste Revision der Evangelien vielen Anfeindungen ausgesetzt war, weil es als Sakrileg betrachtet wurde, dass er sich mit den Worten der Heiligen Schrift auseinander setzte.
Hieronymus schrieb das Latein seiner Zeit, die Sprache, die im Weströmischen Reich des späten vierten und frühen fünften Jahrhunderts verwendet wurde. Es ist merkwürdig, dass in der Geschichte der Bibel zeitgenössische Übersetzungen immer wieder auf Unbehagen stießen. Die Worte der altlateinischen Übersetzung müssen zu Hieronymus' Zeiten archaisch geklungen haben, und schienen gerade deshalb vielen Leuten besser zu einem Bibeltext zu passen. Interessant ist, dass man die Vulgata erst dann wirklich akzeptierte, als auch ihre Sprache als archaisch empfunden wurde. Im Mittelalter, als das Lateinische als Alltagssprache verschwunden war, wurde die Vulgata am fanatischsten verteidigt.
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Quelle: Hamel, S. 25
Ein Fragment der Evangelien in der Übersetzung von Hieronymus. Es wurde in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts, vermutlich zu Lebzeiten von Hieronymus, geschrieben und vielleicht sogar von ihm selbst mit Anmerkungen versehen.
St. Gallen, Stifts-Bibliothek, Cod. 1395 |
Nach dem Tod von Hieronymus im Jahre 420 n. Chr. kämpfte der Vulgata-Text Jahrhunderte lang tatsächlich um seinen Fortbestand. Sehr frühe Handschriften sind Raritäten. Die älteste ist eine Abschrift der Vulgata-Evangelien, die Anfang des fünften Jahrhunderts in Italien entstand, vermutlich zu Hieronymus' Lebzeiten. Sie ist als Sammlung von etwa 110 Blättern und Fragmenten erhalten, die zum Großteil in der Bibliothek St. Gallen in der Schweiz (Cod. 1395 und andere) aufbewahrt werden. Die originalen Marginalien weisen auf verschiedene Auslegungen in lateinischer und griechischer Sprache hin, und man geht generell davon aus, dass das Buch eher für den persönlichen als für den allgemeinen oder liturgischen Gebrauch gedacht war. Vermutlich befand es sich im Besitz eines Bibelgelehrten. Möglicherweise stammen die Anmerkungen sogar von Hieronymus selbst. Ein weiteres sehr frühes Evangelienbuch in der Übersetzung von Hieronymus ist die unversehrt gebliebene und in London aufbewahrte Handschrift aus dem sechsten Jahrhundert mit der Signatur BL, Harley MS. 1775. Es handelt sich um ein kleinformatiges, dickes, etwa 166mm hohes Buch mit großem Zeilenabstand, das mit blassbrauner Tinte geschrieben wurde. Es ist sehr handlich und wurde vermutlich zum Privatgebrauch angefertigt.
Für viele der großen Evangelienbücher, die für öffentliche Zeremonien angefertigt wurden und teilweise Jahrhunderte später entstanden, wurde hingegen nach wie vor der offenkundig fehlerhafte und archaische altlateinische Text verwendet. [S. 12-26, weiter S. 29]
- Entwicklung der Vulgata
Nach und nach wurden die altlateinischen Handschriften ausgesondert und durch Vulgata-Texte ersetzt. Es sollte mehrere Jahrhunderte dauern, bis die Vulgata aus der Zeit des
Hieronymus Patina angesetzt hatte und ihre Sprache als archaisch empfunden wurde. Zu jener Zeit war das Römische Reich bereits zerstört und Latein nicht länger die Alltagssprache. Aus der Zeit vor 800 n. Chr. sind etwa 370 Bibelhandschriften oder -fragmente in lateinischer Sprache erhalten. Im fünften Jahrhundert, etwa hundert Jahre nach der Übersetzung des Hieronymus, bestand nur mehr etwa ein Drittel der erhaltenen Handschriften aus Teilen der Vulgata. Mitte des sechsten Jahrhunderts waren schon mehr als doppelt so viele Vulgata-Handschriften wie altlateinische im Umlauf, im siebten Jahrhundert bereits sechs Mal so viele, im achten Jahrhundert zwölf Mal so viele. Dennoch war das Altlateinische nicht ganz ausgestorben. Der gewaltige, mysteriöse Codex Gigas in Stockholm (Kungliga Biblioteket, MS. A. 148), der Ende des zwölften Jahrhunderts in Böhmen entstand - einer alten Überlieferung zufolge stammt die Abschrift vom Teufel selbst -, verwendet das Altlateinische noch in der Apostelgeschichte und der Apokalypse.
- Liturgie
Die Verwendung in der so genannten Liturgie, den Lesungen während der Gottesdienste in den Kirchen, zog für die Vulgata-Version der Bibel einen enormen Zuwachs an Bedeutung nach sich. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Bibel als liturgischen Text, denn so erfahren wir etwas über die Geschichte der frühen Bibeln und die Art ihrer Verwendung. Die öffentliche Lesung und Exegese der Heiligen Schrift reicht zurück bis in die Anfänge des organisierten Christentums. Diese Praxis wird im ersten Brief an Timotheus 4,13 erwähnt und war im zweiten Jahrhundert zweifelsohne gang und gäbe. Einige frühe Fragmente des altlateinischen Textes, wie das zuvor erwähnte Buch der Propheten aus dem fünften Jahrhundert, das Hiltiger nach Reichenau brachte, scheinen, nach Marginalien aus der damaligen Zeit zu schließen, für die Rezitation während der Liturgie bearbeitet worden zu sein. Die Evangelien hatten eine besondere liturgische Funktion. Die Lesung von Kapiteln aus den Evangelien war immer integraler Bestandteil der christlichen Eucharistie (der Feier des Abendmahls), und die Evangeliumslesung im Anschluss an die Briefe oder andere Bibelstellen stellte zugleich den Höhepunkt des Gottesdienstes dar. Gewöhnlich trug ein Diakon, begleitet von einer Prozession, das Evangelienbuch zu einer erhöhten Plattform oder (später) zu einem Lesepult, wo er vor der stehenden Kirchengemeinde einen für den Tag bestimmten Text las oder sang. Im Laufe des fünften und sechsten Jahrhunderts wurde der Zyklus der ausgewählten Evangelienlesungen, zumindest innerhalb des von der Kirche Roms kontrollierten Gebietes, allmählich standardisiert. Die Benediktregel (ca. 540 n. Chr.) sah Lesungen aus der Hl. Schrift während der Mahlzeiten und des Stundengebets ("Offizium") in den Klöstern vor. Spätestens im siebten Jahrhundert hatte sich die Praxis entwickelt, dass, zusätzlich zu den Evangelienlesungen in der Messe, im Zyklus der Jahreszeiten die gesamte Bibel in der Kirche gelesen wurde. Man begann mit der Genesis an den Sonntagen vor der Fastenzeit und teilte den Text nach Möglichkeit so auf, dass die Lesungen mit den Themen der jeweiligen Jahreszeit korrespondierten, wie etwa Jeremia und die Klagelieder während der Fastenzeit und Jesajas Prophezeiung des Messias im Advent. Die in dieser Liturgie verwendete Bibelversion war die Vulgata.
Die Auswirkungen dieser liturgischen Verwendung der Heiligen Schrift auf die Geschichte der Bibelhandschriften waren von großer Tragweite. Mehr als die Hälfte aller Bibelhandschriften aus der Zeit vor dem neunten Jahrhundert sind Handschriften der vier Evangelien, was nicht bedeutet, dass den Evangelien größeres Interesse zuteil wurde als anderen Teilen der Bibel, sondern dass sie ein wesentlicher Bestandteil der Messe waren. Vielleicht ist es auch nur dem Zufall zu verdanken, dass sie erhalten blieben, oder die Bibliothekare hatten über die Jahrhunderte hinweg eine besondere Scheu davor, so heilige Bücher wie die Evangelien zu vernichten. Viele Bibelhandschriften weisen Markierungen auf, die dem Beginn und dem Ende liturgischer Lesungen entsprechen, wertvolle Anhaltspunkte dafür, wie die Bücher verwendet wurden. Ein Vulgata-Evangelienbuch aus dem sechsten Jahrhundert, das sich heute in Mailand befindet, wurde im siebten Jahrhundert mit Sicherheit in der Liturgie verwendet, denn es weist Marginalien auf, die auf einen Gebrauch in der Diözese von Aquileja (Biblioteca Ambrosiana, Cod. C. 39. inf.) schließen lassen. Es mag ein trefflicher Zufall sein, dass auch
Hieronymus in dieser Gegend geboren wurde. Ebenfalls in Mailand wird ein aus Bobbio stammendes Evangelienbuch aus dem siebten Jahrhundert aufbewahrt, das nach den handschriftlichen Markierungen für die Schriftlesungen der Heiligen Woche zu urteilen, offenbar bis zum späten vierzehnten Jahrhundert liturgisch verwendet wurde (Biblioteca Ambrosiana, Cod. I. 61. sup.).
Der Triumph des Vulgata-Textes über die altlateinische Version hatte viel mit der von Italien ausgehenden Verbreitung der römischen Liturgie zu tun. Dies ist ein wesentlicher Punkt. Die Vulgata wurde die Übersetzung der italienischen Missionare. (..) Als die Vulgata-Übersetzung aufgrund der liturgischen Gesänge vertraut geworden war, begann ihre Wanderschaft durch ganz Europa.
- Evangelien
Die Evangelien waren im Allgemeinen in einem einzigen Band vereint, der alle vier Texte enthielt. Ihre Verbreitung ist größer als die aller anderen frühen Handschriften. Handschriften von anderen Teilen der Bibel zirkulierten meist auch als gesonderte Bücher oder Büchergruppen, wie etwa der Oktateuch (die acht ersten Bücher, von Genesis bis Rut), die Weisheit Salomos, die Bücher der Propheten oder die Briefe. Die Apostelgeschichte war oft mit der Apokalypse in einem Buch vereint. Die Psalter erschienen meist als gesonderte Bände; sie fanden im siebten und achten Jahrhundert zunehmend Verbreitung, was Rückschlüsse auf den privaten Gebrauch zulässt. Zwischen dem fünften und dem achten Jahrhundert wurden die Bibelhandschriften allmählich großformatiger, eine Tendenz, die sich allgemein abzeichnete, die aber auch die zunehmende Verwendung des Bibeltextes in öffentlichen Lesungen spiegeln könnte.
Handschriftliche Texte werden oft zunehmend ungenauer, da sich bei jeder Abschrift Fehler einschleichen. Zwar lassen sich grob lokale Textfamilien einteilen, allerdings kreuzten sich die Texttraditionen häufig, da ein Text möglicherweise von einer Quelle kopiert und dann anhand einer anderen überprüft wurde. Außerdem sind Handschriften leicht zu transportieren, weshalb sie problemlos ihren Weg quer durch Europa fanden und sich nicht eindeutig diesem oder jenem Raum zuordnen lassen, eine Häufung abweichenden Textverständnisses kann aber manchmal auf eine lokale Textfamilie hindeuten.
Zu bestimmten Zeiten versuchten mittelalterliche Gelehrte, die Reinheit und Einheit des Vulgata-Textes wiederherzustellen. Es gibt eine alte Überlieferung, wonach ein Peregrinus, ein Fremdling, im Spanien des fünften Jahrhunderts die Vulgata überarbeitete. Abgesehen von der Tatsache, dass Hunderte Jahre später eine unbekannte Textfamilie spanischer Vulgata-Bibeln Aufsehen erregte, wissen wir nichts über seine Tätigkeit. Victor, von 541-554 n.Chr. Bischof von Capua (nördlich von Neapel), ersann eine faszinierende Zusammenstellung der Evangelien, in der alle vier Erzählungen zu einer einzigen verschmolzen. Sie bestand aus umfangreichen Exzerpten aus allen vier Evangelien des Vulgata-Textes, die so angeordnet waren, dass ein Bibelzitat auf das andere folgte und sich zu einer einzigen Erzählung verband. Seine eigene Handschrift, datiert auf 546-547, gelangte später in den Besitz des hl. Bonifatius (680-754 n. Chr.), der sie kommentierte; die Handschrift ist noch erhalten und befindet sich unter den Reliquien dieses Heiligen (Fulda, Landesbibliothek, Cod. Bonifatianus 1). Dies ist die älteste datierte, lateinische Bibelhandschrift, die wir kennen.
- Cassiodorus
Über die Tätigkeit von Cassiodorus (ca. 485-580 n. Chr.) als Herausgeber und Förderer des Vulgata-Textes wissen wir mehr. Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus war ein römischer Senator, der sich im Alter von etwa 55 Jahren aus dem Staatsdienst zurückzog und in der Nähe von Neapel auf den Besitzungen seiner Familie ein Kloster gründete. Es wurde nach den bewässerten Gärten
Vivarium (Fischteich) genannt. Er stattete das Kloster mit drei kompletten Büchersammlungen der lateinischen Bibel aus. Cassiodorus hat den Text als solchen vermutlich nicht verändert, doch ist anzunehmen, dass er die Übersetzungen mit Sorgfalt auswählte, Grammatik und Schreibweise vereinheitlichte und jeder der drei Sammlungen unterschiedliche Formate gab. In den
Institutiones, einem von ihm verfassten Lehrbuch über christliche Erziehung, geht er näher auf diese Sammlungen ein. Die erste bestand aus neun Bänden, die sich vermutlich an den Standardtext der Vulgata hielten. Die zweite nannte er seinen
Codex Grandior, den "größeren Codex". Sie war in großer Schrift verfasst und enthielt die gesamte Bibel mit dem Alten Testament in
Hieronymus' Zwischenversion (die eher aus dem Griechischen als aus dem Hebräischen übertragen wurde). Laut Beschreibung besteht dieses Buch aus 95 Lagen zu je acht Blättern, also insgesamt 760 riesigen Blättern (1520 Seiten), und enthielt einen Plan des Tempels von Jerusalem sowie ein Diagramm, das die verschiedenen Möglichkeiten der Anordnung der Bibelbücher zeigt. Das dritte Buch war eine einbändige Bibel, vermutlich wiederum die Vulgata, in kleiner Schrift, bestehend aus 53 Lagen zu sechs Blättern, also insgesamt 318 Blättern. All diese Details sind in den
Justitutiones genau aufgelistet.
Wie viele andere ideologische Institutionen überdauerte das
Vivarium den Tod seines Gründers nicht lange. Die Finanzquellen versiegten, und innerhalb von dreißig, vierzig Jahren hatte sich die Bruderschaft aufgelöst. Die für Cassiodorus angefertigten Handschriften scheint Benedikt Biscop (gest. 690 n. Chr.), ein Engländer, der Rom im siebten Jahrhundert besuchte, erworben und nach Northumbrien im hohen Norden Englands zurückgebracht zu haben. Der Biografie Ceolfrids (gest. 716), des Abtes von Jarrow-Wearmouth, zufolge wurden drei umfangreiche Handschriften nach diesem Vorbild angefertigt, jeweils eine für die zwei Klöster von Ceolfrid und eine für den Papst in Rom. Ceolfrid selbst brach im Juni 716 auf, um die Abschrift des Papstes nach Italien zu bringen, doch starb er während der Reise. Die Handschrift hat ihn überlebt. Sie ist bekannt als
Codex Amiatinus (Florenz, Biblioteca Medicea-Laurenziana, Cod. Amiat. 1). So besitzen wir heute zumindest eine Handschrift in dem Format und der Gestaltung, die auf der Ausgabe des Cassiodorus basieren. Sie enthält sogar Kopien jener Diagramme, die Cassiodorus so sorgfältig beschrieben hatte.
- Codex Amiatinus
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Quelle: Hamel, S. 33
Der Beginn der Genesis im Codex Amiatinus, jener englischen Handschrift der gesamten lateinischen Bibel aus dem frühen achten Jahrhundert, die auf der Vorlage des Codex Grandior von Cassiodorus basiert.
Florenz, Biblioteca Medicea-Laurenziana, Cod. Amiatino 1 |
Der
Codex Amiatinus ist eine der genauesten und besten Kopien der Vulgata. Vom sechzehnten Jahrhundert an haben Bearbeiter von
Hieronymus' Übersetzung diesen Codex als die verlässlichste Handschrift betrachtet. Zwei wichtige Punkte sind hier festzuhalten. Zum einen handelt es sich hier um eine Vollbibel bzw. ein Pandekt, ein Begriff, der in den ersten Kapiteln unserer Geschichte noch oft vorkommen wird. Er leitet sich ab von den griechischen Wörtern
pan (alles) und
dekhesthai (empfangen), ein Pandekt ist demnach eine Bibel, welche die vollständigen Texte aller Bücher in einem einzigen Band vereint. Vollbibeln, wie wir sie heute kennen, mit allen Büchern des Alten und Neuen Testaments in einem einzigen Band, waren damals fast unvorstellbar. Die Bücher der Bibel zirkulierten im Allgemeinen in zahlreichen Einzelbänden. Manchmal wurden sie als zusammengehörige Buchreihe konzipiert, wie etwa in Bobbio im siebten Jahrhundert (Vorsatzblätter in Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cod. D. SO. inf, und Cod. D. 84. inf.).
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Quelle: Hamel, S. 34
Das Frontispiz des Codex Amiatinus zeigt Esra vor einem Bücherschrank, auf dem eine neunbändige Bibel liegt.
Florenz, Biblioteca Medicea-Laurenziana, Cod. Amiatino 1 |
Das berühmte Frontispiz des Codex Amiatinus zeigt den Schreiber Esdras vor einem Bücherschrank sitzend, auf dem die neunbändige Bibel steht, die zweifelsohne Cassiodorus' neunbändige lateinische Bibel widerspiegelt. Der Codex Amiatinus hingegen ist ein einziger umfangreicher, 505 x 340mm großer Band, der aus 1030 Blättern (2060 Seiten) besteht und alle Bücher der Bibel umfasst. Er enthält ein Diagramm, das den Heiligen Geist als Taube zeigt, die mit ihrem Schnabel ein Netz hält, ein Sinnbild für das Wort Gottes als einer einzigen Einheit. Es ist die älteste erhaltene, einbändige Handschrift der lateinischen Bibel in einem Band. Sie entstand drei Jahrhunderte nach der Originalübersetzung von Hieronymus und stellt nicht nur einen Wendepunkt der Buchproduktion dar, sondern auch eine Wandlung des Konzepts der Bibel zu einer gebündelten Einheit.
Zum zweiten ist bedeutsam, dass der Codex Amiatinus in England verfasst wurde. Die Idee eines einbändigen Pandekten der Bibel wurde von Cassiodorus offenbar aus Süditalien übernommen, englische Schreiber griffen das Konzept auf und vervielfältigten den Text. Der Text des Codex Amiatinus wurde schließlich zur direkten Vorlage der Lindisfarne Gospels (London, BL. Cotton MS. Nero D. IV) und anderer Bibeln, die im achten Jahrhundert von angelsächsischen Missionaren in Nordeuropa verbreitet wurden. Das Echternacher Evangelienbuch (Paris, BNF, Ms. lat. 9389), vermutlich in Lindisfarne nördlich von Jarrow angefertigt, weist eine seltsame Inschrift auf, die besagt, dass es nach einem Codex korrigiert wurde, der Hieronymus selbst gehörte und sich im Jahr 558 n. Chr. in der Bibliothek des Priesters Eugippius befand. Dieser Priester wurde als Abt eines Klosters in der Nähe von Neapel identifiziert. Die Behauptung ist mit Vorbehalt zu betrachten, doch gibt es Belege dafür, dass Schreiber aus Northumbrien versuchten, möglicherweise durch eine Quelle in Süditalien, eine reine Version eines alten Textes zu rekonstruieren. Eine weitere höchst bedeutende süditalienische Handschrift ist eine zweisprachige Kopie der Apostelgeschichte in Griechisch und Altlatein aus dem sechsten oder siebten Jahrhundert. Da sie viele Auslegungen mit dem von Beda Venerabilis (ca. 673-735) zitierten Text der Apostelgeschichte gemein hat, kann man davon ausgehen, dass auch diese Handschrift nach Northumbrien gebracht wurde, wo Beda sie verwendete (Oxford, Bodleian Library, MS. Laud Gr. 35). Zwar wissen wir wenig darüber, doch dürfte es im Nordosten Englands eine genaue Regelung für das Quellenstudium des Bibeltextes gegeben haben. Northumbrien scheint bei der Verbreitung von Hieronymus' Übersetzung eine bedeutende Rolle gespielt zu haben. Man ist versucht, Beda Venerabilis, der wie Hieronymus zu den Kirchenvätern zählt, eine Rolle bei der Verbreitung der Vulgata zuzuschreiben. [S. 29-35, weiter S. 38]
- Zusammenfassung
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Quelle: Hamel, S. 39
Eine ganzseitige Illustration aus der ersten Bibel Karls des Kühnen, Tours, ca. 846, zeigt den hl. Hieronymus bei der Übersetzung und Verteilung der lateinischen Bibel.
Paris, BNF, MS. Lat. 1 |
Fassen wir zusammen: Einige Jahrhunderte sah es so aus, als könne sich die Bibelübersetzung des Hieronymus nur schwer gegen die konservativen altlateinischen Ausgaben der Heiligen Schrift behaupten. Schließlich jedoch wurde die Vulgata in der Liturgie Westeuropas überall verwendet. Erst dadurch erlangte sie ihre Bedeutung. Zwischenzeitlich wurden immer wieder Versuche unternommen, die Bibeltexte zu revidieren und aufeinander abzustimmen. Doch erst in der Zeit Karls des Großen entwickelte sich die Bibel zu einer zusammenhängenden Einheit basierend auf der Übersetzung von Hieronymus. Beenden wir das erste Kapitel mit einer Miniatur aus der ersten Bibel von Karl dem Kühnen, die auch die Vivian-Bibel genannt wird und vermutlich um 846 n. Chr. in Tours entstand (Paris, BNF, Ms. lat 1). Eine der ganzseitigen, einleitenden Illustrationen zeigt den hl. Hieronymus, wie er, umgeben von einem goldenen Heiligenschein, in Richtung Osten aufbricht, um an der Bibel zu arbeiten; auf dem nächsten Bild sehen wir, wie er sie seinen Schülern erklärt, die mit der Abschrift beginnen, und schließlich Hieronymus, wie er, ähnlich Moses am Berg Sinai, Handschriften an die Mönche zu seiner Linken und Rechten verteilt, die mit ihren einbändigen Bibeln zurück in ihre Kirchen eilen. Es war ein weiter Weg von dem, was damals in Betlehem im späten vierten Jahrhundert begann, bis zur Zeit Karls des Kühnen, doch die lateinische Bibel lag nun in einer Form vor, in der sie uns durch das restliche Mittelalter begleiten wird.
4. Kapitel: Kommentare zur Bibel
Bisher haben wir uns mit der Bibel als Artefakt beschäftigt. Die Bibel wurde häufiger kopiert und weiter verbreitet als jeder andere Text in der Geschichte des geschriebenen Wortes. Wer nie zuvor von der Bibel gehört hat, wird sich fragen, was es mit diesem Buch auf sich hat und warum diese Sammlung von Schriften, mehr als alle anderen Texte, ein so brennendes Interesse hervorrief. Eine Inhaltsangabe oder Zusammenfassung des Textes der Bibel würde natürlich den Rahmen dieses Buches sprengen. Die Geschichten der Bibel sind jedoch nach wie vor Teil unserer Kultur. Selbst heute wissen die meisten Menschen, dass das Alte Testament mit einer Erzählung von der Erschaffung der Welt beginnt und dass es insgesamt die Geschichten und Riten der Israeliten, ihre besondere Beziehung zu Gott, ihre Reisen, Kriege, Lobpreisungen und Prophezeiungen eines künftigen Messias beinhaltet. Das Neue Testament enthält vier parallele Erzählungen, die Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi beschreiben, der von etwa 4 v. Chr. bis etwa 33 n. Chr. in Palästina lebte: Die Evangelien schildern die Erfüllung der messianischen Prophezeiungen und die spirituelle Erlösung der Menschheit durch seine Person. Das Neue Testament wird fortgeführt mit Berichten von der anfänglichen Verbreitung des Christentums zur Zeit des hl. Paulus und mit den mahnenden Briefen an die frühen christlichen Gemeinschaften sowie einem visionären Bericht über das bevorstehende Ende der Welt.
Die Bibel ist von Anfang bis Ende relativ einfach zu lesen, der Großteil des Textes ist narrativ. Er erstreckt sich über eine immense Zeitspanne und behandelt eine Vielzahl von Themen. Zu allen Zeiten jedoch haben sich die Menschen die Frage gestellt, was die Bibel wirklich bedeutet, und ob hinter ihren Worten ein verborgener Sinn zu finden ist. Sie enthält zahlreiche Verweise auf Namen und Orte, die späteren Lesern nicht mehr vertraut sind. Selbst einige der erzählenden Passagen sind rätselhaft und nur schwer zu verstehen. Die Bibel ist nicht nur ein aus vielfältigen Teilen zusammengesetzter Text, sondern ihrem Wesen nach oft auch geheimnisvoll, besonders wenn von der Hingabe an Gott oder von Prophezeiungen die Rede ist. Es gibt viele verschiedene Ansätze des Textverständnisses, und man kann die Geschichte der Bibel nicht nachzeichnen, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie der Text in den verschiedenen Perioden seiner Geschichte interpretiert und verwendet wurde. Das Bestreben, die Heilige Schrift zu erläutern, geht weit in die Frühgeschichte der Bibel zurück. Dem Neuen Testament zufolge hat Christus selbst im Tempel das Gesetz gelesen und interpretiert, und die Autoren der Evangelien und der Paulusbriefe zitieren Prophezeiungen aus dem Alten Testament, die sie mit bestimmten Ereignissen im Neuen Testament in Zusammenhang bringen, was eigentlich bereits eine Form von Bibelkommentar darstellt. Die auf einem Bibelzitat basierende Predigt wurde bereits in den Anfängen des Christentums eingeführt und hat sich im Wesentlichen seither nicht verändert. Es handelt sich dabei um eine alte rhetorische Lehrmethode, die in der klassischen Antike begründet wurde und weltweit auf den Kanzeln der christlichen Kirchen bis heute überdauert hat. Häufig ist eine Predigt einfach nur der mündliche Kommentar zu mehreren Sätzen aus der Bibel. Als das Römische Reich zum Christentum konvertierte, waren die Lektüre und der Versuch einer Erklärung der verschiedenen Teile der Bibel, sowohl in den mündlichen Predigten als auch in schriftlicher Form, vermutlich zentraler Bestandteil der christlichen Andacht. Die meisten frühchristlichen Schriften befassen sich in mehr oder minder großem Ausmaß mit Zitaten und Interpretationen von Bibelstellen.
- Bibelkommentare
Während des Mittelalters gab es in Europa mehr Bibelkommentare als andere literarische Textformen, und die meisten mittelalterlichen Bibliotheken besaßen mit Sicherheit mehr Handschriften von Bibelkommentaren als von der Bibel selbst. Ein großes karolingisches oder romanisches Kloster war vielleicht im Besitz von zwei oder drei Bibeln oder Teilen biblischer Bücher, besaß aber bestimmt mehrere Dutzend Kommentare. Ein Mönch des elften oder zwölften Jahrhunderts bezog sein Wissen über die Heilige Schrift größtenteils nicht aus einer der monumentalen Riesenbibeln, sondern durch das Anhören der für den Gottesdienst vorgesehenen Bibelstellen und der anschließenden Lektüre und kontemplativen Ergründung der Predigten und Kommentare von
Augustinus,
Hieronymus,
Gregor,
Beda Venerabilis und anderen. In den jeweiligen Kommentaren tauchte mehr oder weniger jedes Wort der Heiligen Schrift auf, das heißt, im Mittelalter hätte ein Leser, dem nur die Kommentare bekannt waren, allein dadurch Zugang zu allen Worten der Bibel gehabt; im zwölften Jahrhundert erfuhr der Bibeltext durch die zwar fragmentierten, aber fortlaufenden Zitate eines Kommentars seine weiteste Verbreitung.
Die ersten christlichen Autoren schrieben vorwiegend in griechischer Sprache - wir wissen von Bibelkommentaren, die Autoren aus dem zweiten Jahrhundert wie Marcion und Melito von Sardes verfasst hatten -, doch ihre Werke waren einer breiten Öffentlichkeit kaum bekannt und wenn, dann nur im mittelalterlichen Westeuropa. In Jüngerer Zeit erst wurden vom Zerfall bedrohte Relikte von Bibelkommentaren, die von Frühchristen in den Wüsten Nordafrikas geschrieben wurden, wiederentdeckt und in die Geschichte der Bibelforschung aufgenommen - doch haben sie keine so spektakuläre Entwicklungsgeschichte quer durch die Jahrhunderte aufzuweisen wie etwa die Arbeiten von
Hieronymus und
Augustinus im Umfeld der lateinischen Bibel. Auf einige dieser Relikte werden wir in Kapitel 12, wo es um Beiträge des zwanzigsten Jahrhunderts zur Geschichte der Bibel geht, näher eingehen.
Einige der frühen Interpretationen der Bibel waren umstritten. Nachdem sich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten die Theologie und die Grundregeln des Christentums entwickelt und stärker herauskristallisiert hatten, lief jeder Autor der damaligen Zeit Gefahr, dass seine Meinungen im Nachhinein als häretisch verurteilt und seine Texte nach seinem Tod verboten oder gar zerstört würden. Einige griechische Schriften der frühen Schule für Theologie in Alexandria überdauerten aufgrund lateinischer Bearbeitungen bis ins Mittelalter. Clemens von Alexandria (ca. 150-215) und sein Nachfolger
Origenes (ca. 185-254) waren im mittelalterlichen Europa in weiten Kreisen bekannt. Origenes geriet im fünften Jahrhundert zwar in den Verdacht der Häresie, und viele seiner Texte, darunter seine Bibelkommentare, wurden zerstört, doch etliche seiner Predigten überleben in den lateinischen Übersetzungen von
Hieronymus und dessen einstigem Freund und späterem Gegner Rufinus (ca. 345-410).
- Hieronymus
Dass dieses vorliegende Buch mit
Hieronymus beginnt, ist kein Zufall, denn dieser war der erste bedeutende lateinische Schriftsteller, der die vielen Schulen der frühchristlichen Bibelinterpretation vereinte. Er begründete die Tradition des Schreibens und Sammelns von Bibelkommentaren, die seither ungebrochen fortdauert. Hieronymus schrieb, er habe im Laufe seines langen Lebens viele Bücher gelesen, und in seinem Kommentar zum Markusevangelium versicherte er, er habe lediglich die Blüten der Interpretationen anderer aufgelesen, etwa die aus den Werken von
Origenes (in 25 Bänden, wie er berichtete), von Theophilus von Antiochien, des Märtyrers Hippolytus, von Theodor von Herakleia, Apollinaris von Laodicea und Didymus dem Blinden. Solche Schriftsteller gerieten (vielleicht mit Ausnahme von Origenes) rasch in Vergessenheit. Mit der Bearbeitung seiner Quellentexte schuf Hieronymus die ersten wesentlichen Bibelstudien in lateinischer Sprache.
Tatsächlich wurden die Haupttexte der frühen lateinischen Bihelkommentare Westeuropas in den etwa 200 Jahren zwischen
Hieronymus und dem hl.
Gregor (Gregor dem Großen, ca. 540-604) gesammelt, also etwa vom späten vierten bis zum späten sechsten Jahrhundert. Die großen Bibelkommentatoren dieses Goldenen Zeitalters werden, abgeleitet von ihrem Ehrentitel "Kirchenväter" (patres in Latein), auch "patristische" Autoren genannt, zu denen manchmal selbst Isidor von Sevilla (gest. 636) gezählt wird. Im dreizehnten Jahrhundert reihte
Roger Bacon auch
Beda Venerabilis (gest. 735) unter die patristischen Schriftsteller ein.
Hieronymus schrieb Kommentare zu den Psalmen, zu Ecclesiastes, Jesaja (Abb. 65), Jeremia, Ezechiel, Daniel, den kleineren Propheten, dem Matthäusevangelium und einigen Paulusbriefen. Er bearbeitete die früheren Kommentare des
Origenes zum Hohelied, zu Jesaja, Ezechiel und dem Lukasevangelium und übersetzte sie ins Lateinische; des Weiteren schrieb er Homilien (Predigten über einen Bibeltext) zu den Psalmen und jedem der vier Evangelien. Der beachtliche Fleiß des Hieronymus, dessen Bücher damals große Verbreitung erfuhren, erstaunt auch heute noch, 1600 Jahre später.
- Zeitgenossen des Hieronymus
Hieronymus, der in Betlehem studiert hatte, war ein Zeitgenosse anderer großer Autoren, die ihre Kommentare in lateinischer Sprache verfassten und in Westeuropa und Nordafrika tätig waren. Er kannte sie alle. Einer davon, der in Frankreich geborene hl. Hilarius von Poitiers (ca. 315-367), den Hieronymus die "Trompete der Lateiner" nannte, kompilierte Kommentare zu den Psalmen und zum Matthäusevangelium. Insbesondere Hilarius' Buch über die Psalmen fand im Mittelalter große Verbreitung. Der hl.
Ambrosius (ca. 339-397) wurde in Trier als Sohn des damaligen römischen Präfekten in Gallien geboren; vor seiner Ernennung im Jahr 374 zum christlichen Bischof von Mailand erwarb er sich in Rom eine juristische Bildung und wurde Statthalter in der Lombardei. Er schrieb etwa zwanzig homiletische Werke zu Büchern der Bibeln, von denen etwa die Hälfte die Genesis behandelten, darunter auch das Hexameron über die sechs Tage der Schöpfung, sowie einen Kommentar zum Lukasevangelium. Erasmus wies nach, dass ein bekannter Kommentar zu den Paulusbriefen, der während des gesamten Mittelalters ebenfalls Ambrosius zugeschrieben wurde, das Werk eines nicht näher bestimmbaren Zeitgenossen von Ambrosius war. Der Autor wird heute nicht sehr elegant als "Ambrosiaster" bezeichnet, eine Degradierung aus späterer Zeit, die dem Einfluss des Textes im Mittelalter nicht gerecht wird. Ambrosius hat auch deshalb einen Platz in der Geschichte, weil er den hl. Augustinus (354-430), einen der größten christlichen Schriftsteller und Philosophen, unterrichtete und bekehrte.
- Augustinus
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Quelle: Hamel, S. 97
Diese Handschrift des Augustinuskommentars zu den Psalmen wurde von Nonnen im späten achten JAhrhundert kopiert. Diese Seite wurde von der Schreiberin Gisledrudis signiert.
Köln, Dombibliothek, Cod. 63 |
Augustinus wurde in Tagaste an der Nordküste Afrikas geboren und starb nicht weit von dort entfernt als Bischof von Hippo Regius. Auch er kannte
Hieronymus und unterhielt eine rege Korrespondenz mit ihm. Es ist interessant, wie viele dieser großen Schriftsteller einander persönlich kannten und miteinander in Verbindung standen - vergleichbar dem Netzwerk moderner Akademien, deren Mitglieder sich regelmäßig auf internationalen Konferenzen treffen. Augustinus schrieb insbesondere Kommentare zur Genesis und zu den Psalmen, sieben Bücher über die Evangelien und kürzere Arbeiten über mehrere Paulusbriefe, etwa über den Brief an die Römer und den Brief an die Galater.
Die zweite bedeutende Generation patristischer Schriftsteller wird von zwei Italienern dominiert, nämlich von
Cassiodorus (ca. 485 - ca. 580), dessen Kommentar zu den Psalmen auf dem von Augustinus basierte, und von
Gregor dem Großen (ca. 540-604), der ab 590 Papst war. Gregor schrieb Kommentare zu den Königen, zu Ijob und Ezechiel sowie eine Reihe von vierzig Homilien zu den Evangelien. Cassiodorus haben wir bereits kennen gelernt und auf den hl. Gregor werden wir später zurückkommen. In einem Überblick über den Ausklang der patristischeu Periode dürfen auch ein Spanier und ein Engländer nicht fehlen, nämlich der hl. Isidor von Sevilla (ca. 560-636) und
Beda Venerabilis (ca. 673-735).
- Isidor und Beda
Isidor schrieb keine eigentlichen Bibelkommentare, kompilierte aber Vorworte zur Bibel und Fragen zu Bibelpassagen sowie die
Etymologien, eine Enzyklopädie des Wissens seiner Zeit, die tausend Jahre lang das wichtigste Nachschlagewerk für die Terminologie und Chronologie der Bibel war. Ein Jahrhundert später sammelte Beda Venerabilis mit ähnlicher Faszination chronologische und andere Fakten der Bibelgeschichte und war darüber hinaus auch Autor von Kommentaren und Homilien zu Teilen der Genesis, Exodus, Könige, Hohelied, Markus- und Lukasevangelium, Apostelgeschichte und Apokalypse.
- Kirchenväter
Damit sind die wichtigsten Kirchenväter genannt, deren Kommentare die Begleittexte zur Bibel wurden. Interessant ist, dass die Zahl patristischer Schriften im Laufe der Zeit immer umfangreicher wurde. Mehrere 100 Jahre vergrößerte jeder neue Bibelkommentar den Umfang des vorhandenen Textkorpus, wobei sich manche Kommentare überschnitten, da sie dieselben Bibelbücher behandelten und einander zitierten. In den Bücherschränken standen die patristischen Kommentare direkt neben den Bibeln. Als die zentralen Begleittexte des Christentums hatten sie bald den Status kleinerer Bibeln, die, je älter sie wurden, umso mehr Einfluss erlangten. Im Mittelalter genoss die mit dem Alter zunehmende Weisheit großen Respekt. Ein anerkannter Text stand in hohem Ansehen, neue Texte dagegen wurden oft misstrauisch beäugt.
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Quelle: Hamel, S. 98
Der hl. Gregor wird in der mittelalterlichen Kunst oft mit der ihn inspirierenden Taube, dem Symbol des heiligen Geistes, dargestellt. Die abgebildete Seite stammt aus einer Handschrift des späten zehnten Jahrhunderts, die für den Erzbischof von Trier angefertigt wurde.
Trier, Stadtbibliothek, Cod. 117/626 |
Eine ähnliche Verschiebung haben wir im Falle der Vulgata beobachten können, die erst ganz allmählich akzeptiert wurde und schließlich Autorität erlangte. Sogar Beda wollte seinem Kommentar zu Lukas mehr Glaubwürdigkeit verleihen, indem er die hoch geachteten Arbeiten von
Hieronymus,
Augustinus,
Ambrosius und
Gregor namentlich zitierte. Dasselbe taten auch die großen karolingischen Kommentatoren. Viele Kompilatoren aus dem neunten Jahrhundert, populäre Schriftsteller wie Claudius von Turin (gest. ca. 830), Hamo von Auxerre (gest. ca. 855), Rabanus Maurus (gest. 856) und Remigius von Auxerre (gest. 908) schrieben in großem Umfang vorwiegend von patristischen Schriftstellern ab und versuchten durch das Zitieren aus alten Quellen bewusst Autorität und Glaubwürdigkeit zu vermitteln. Sie schwelgten in
florilegia und Anthologien und schrieben aus alten Büchern ab; wieder und wieder kopierten die Schreiber die umfangreichen Werke der Kirchenväter.
Bereits im zwölften Jahrhundert wurden Hieronymus, Ambrosius, Augustinus und Gregor als die vier Kirchenväter angesehen, als kanonisierte Heilige, die fast auf einer Ebene mit den vier Evangelisten des Neuen Testaments standen. Im aus dem zwölften Jahrhundert stammenden Bibliothekskatalog der Benediktinerabtei von Burton-on-Trent in England wird zum Beispiel ein dreibändiges
Psalterium secundum Augustinum erwähnt, ein "Psalter nach Augustinus" (die gleiche Formulierung wird einige Zeilen später nochmal verwendet: "Die Geschichte der Engländer nach Beda Venerabilis"), was den Anschein erweckt, als habe Augustinus den Psalter selbst verfasst. Und der hl. Gregor wird in der mittelalterlichen Kunst häufig mit einer Taube gezeigt, die ihn inspiriert und den Heiligen Geist symbolisiert, geradeso als wären seine Texte eine göttliche Offenbarung wie die Heilige Schrift.
- Die patristischen Bibelkommentatoren
Bemerkenswert ist, dass die patristischen Bibelkommentatoren erst im neunten bis zwölften Jahrhundertt wirklich zur Geltung kamen, also Hunderte Jahre nach dem Untergang jener Welt, für die sie geschrieben hatten. Die voluminösen Bände der Kirchenväter wurden Standardwerke der Klöster. Nach den erhaltenen Handschriften zu urteilen, zählten zu den großartigsten und am weitesten verbreiteten Abschriften
Hieronymus' Text über die zwölf kleineren Propheten (oft in zwei Bänden von Hosea bis Micha und von Nahum bis Maleachi), der Text von
Augustinus über die Psalmen (oft in drei Bänden, Psalmen 1-50, 51-100 und 101-150), der Text von Augustinus über Johannes in einem Band und die 35 Bücher Gregors über Ijob (oft in drei Bänden, jeweils mit den Büchern 1-10, 11-22 und 23-35). Es handelte sich im Allgemeinen um massive, großformatige Bände. Andere kürzere Schriften, wie
Gregors Text über Ezechiel oder über die Evangelien und
Beda Venerabilis' Kommentar zu Lukas wurden manchmal mit anderen Büchern in großen mehrbändigen Werken zusammengefasst. Diese Hand voll Bücher waren das Kernstück der Bibelliteratur, die im frühen Mittelalter in Europa von vielen gelesen wurde.
- Bibliothekskataloge
Einen vagen Eindruck von der Bedeutung, die man solchen Texten beimaß, vermitteln auch die Aufzeichnungen mittelalterlicher Bibliothekskataloge, worin im Allgemeinen die Bibeln an erster Stelle aufgeführt sind. Der einfache Grund dafür mag sein, dass die Bibelhandschriften am größten oder kostspieligsten waren, doch spiegelt die Reihung vermutlich auch ihren Rang wider. Der Bibliothekskatalog der Abtei St. Wandrille (ca. 787-806) listet zunächst die Bücher der Bibel auf, unmittelbar gefolgt von zwei Abschriften des Augustinus zu den Psalmen. Die Liste der Abtei Fontenelle (ca. 823-833) beginnt mit einer illuminierten Bibel, gefolgt von einer Schrift Augustinus' zur Genesis, jene von St. Riquier (831) beginnt mit den Bibeln und lässt zwei Abschriften von Hieronymus zu Jesaja folgen. Der Katalog von St. Gallen aus dem neunten Jahrhundert listet zunächst die Bibeln und unmittelbar danach eine Schrift von Augustinus über Johannes auf. Die Kataloge aus dem elften Jahrhundert von St. Vaast und Schaffhausen beginnen jeweils mit Bibeln, gefolgt von einer Schrift Gregors zu Ijob. Der Pfäffers-Katalog aus dem Jahr
1155 zwängt die einbändige Bibel zwischen eine Schrift von Augustinus zu Johannes und eine Abschrift von Gregor zu Ijob. Viele weitere Beispiele ließen sich anführen. Besonders die Kommentare von
Augustinus und
Gregor waren ein so wesentlicher Teil der Bibel-Bibliothek eines mittelalterlichen Klosters, dass sie kaum getrennt voneinander betrachtet werden können.
- Leser
Es ist jedoch wenig sinnvoll, auf das Vorhandensein solcher Bücher in ganz Europa hinzuweisen, ohne den Nutzen des Studiums der Bibelkommentare für den mittelalterlichen Leser zu erwähnen. Daher setzen wir uns im Folgenden mit dem Inhalt der großen Kommentare auseinander. Die patristischen Autoren näherten sich der Heiligen Schrift aus zwei recht unterschiedlichen Richtungen, wobei sie bei beiden von der absoluten Gewissheit ausgingen, dass der Text der Bibel vollständig und diese nicht nur ein Geschichtswerk ist, sondern das Wort Gottes offenbart, das dieser dem Menschen zu einem bestimmten Zweck geschenkt hatte, und dass jedem einzelnen Wort die gleiche Bedeutung innewohnt. Wir können davon ausgehen, dass alle mittelalterlichen Kommentatoren und Leser dies als gegeben vorausgesetzt haben. Um die wahre Bedeutung des Bibeltextes zu erfassen, musste man unter die Oberfläche blicken, was auf zweierlei Art möglich war. Um dieses komplizierte Thema begreiflich zu machen, wollen wir eine einfache Metapher zu Hilfe nehmen, an der auch die Leser des Mittelalters ihre Freude gehabt hätten. Man stelle sich die Bibel als einen hohen Baum vor, der von der Genesis als seiner Wurzel bis zu den Briefen und der Apokalypse des Neuen Testaments - seiner Krone - aufragt. Ein mittelalterlicher Kommentar, um die Metapher fortzuführen, hätte den Baum auf zweierlei Art, entweder vertikal oder horizontal, spalten können, um einen Blick hinter die Oberfläche zu werfen. Spaltet man den Baum vertikal, könnte man der Holzmaserung ihrer Länge nach folgen. Sägt man den Baum horizontal durch, sähe man alle Schichtungen des Holzes in den Ringmustern des Baumes. Sehen wir uns nun jede dieser beiden Schnittrichtungen näher an.
- Wahrheit des Christentums
Die Autoren benutzten die Bibel, um die Wahrheit des Christentums nachzuweisen. Sie forschten im Alten Testament nach Belegen dafür, dass es sich im Neuen Testament erfüllt hatte. Im Grunde genommen versuchte ein Kommentar nichts anderes zu beweisen, als dass Menschwerdung, Tod und Auferstehung Christi bereits in den alten Schriften prophezeit worden waren. Als der hl.
Augustinus kurz vor seiner Bekehrung den hl.
Ambrosius fragte, welches Buch er lesen solle, um etwas über das Christentum zu erfahren, empfahl ihm dieser nicht das Neue Testament, sondern das Buch Jesaja, "da der Prophet die Evangelien und die Anrufung der Heidenvölker vorhergesagt hatte". Man studierte die Worte des Alten Testaments, um die Wahrheit Christi zu beweisen. Diese Methode der Bibelanalyse geht davon aus, dass die gesamte Bibel von Anfang bis Ende als eine Einheit zu betrachten, jedes Wort, von der ersten bis zur letzten Seite, Teil derselben göttlichen Wahrheit ist. Dies sagt uns etwas über die Bedeutung der Bibel als eine einzigartige, zeitlose - jüdische und christliche - Offenbarung, die alles seit Anbeginn der Welt erfasst.
- Altes und Neues Testament
Die Verbindung des Alten und des Neuen Testaments geht jedoch über die Absicht, Prophezeiung und Erfüllung nachzuweisen, hinaus, indem sie auf Parallelgeschichten verweist, die einander ankündigen oder wie ein Echo nachklingen. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Die Erzählung über Josef im Buch Genesis wurde von
Ambrosius und anderen als prototypisch für das Leben Christi interpretiert, insofern als Josef ein redlicher Mann war, der für die Rettung anderer verkauft und zur Knechtschaft gezwungen wurde.
Hieronymus notierte -
Origenes zitierend - die offenkundige Parallele zwischen dem Verkauf Josef's für eine Handvoll Silberlinge (Genesis 37,28) und der Geschichte von Judas, der für den Verrat Christi bezahlt wird (Matthäus 26, 15). Joabs Hinterlist, als er vortäuscht, ungestört mit Abner reden zu wollen, bevor er ihn heimtückisch ermordet (II Samuel 3,27), kündigt den Kuss an, mit dem Judas Christus im Garten Getsemani verrät (Matthäus 26,49). Die Verbindung zwischen Altem und Neuem Testament funktioniert in beide Richtungen. Wenn der heilige Petrus beispielsweise die Psalmen zitieren kann, um den Ausschluss des Judas aus der Apostelgemeinschaft zu rechtfertigen (Apostelgeschichte 1,20, Zitat: Psalm 108,8 nach der Vulgata-Zählweise), dann bezieht sich auch Psalm 108,9 auf Judas, der bereits lange vor seiner Zeit angekündigt wird. Die Passage lautet: "Seine Kinder sollen zu Waisen werden / und seine Frau zur Witwe." Wenn wir davon ausgehen, dass die Prophezeiung sich auf Judas bezieht, dann lässt sich aus dieser und keiner anderen Stelle im Neuen Testament schließen, dass Judas verheiratet gewesen sein muss und Kinder hatte. Wenn eine Prophezeiung mit ihrer Erfüllung eindeutig in Beziehung gebracht werden kann, dann muss sich jedes einzelne Wort bewahrheiten. "Er ist weniger eine prophetische als eine historische Schrift", meinte
Cassiodorus zum Psalter, "selbst wenn Bezug auf Ereignisse genommen wird, die zu der Zeit der Entstehung noch in der Zukunft lagen."
- Typologie
Die Methode, Ereignisse oder Sätze im Alten Testament aufzuspüren, die eine starke Ähnlichkeit mit jenen des Neuen Testaments haben, wird "Typologie" genannt (nach dem griechischen Wort
typoi in der Bedeutung von "Formen" oder "Muster"). Diese Methode des Bibelkommentars war besonders in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten populär, als man noch argumentativ nachweisen musste, dass Christus tatsächlich der lange prophezeite Messias war. (Wobei man die heutige Logik kurz außer Acht lassen muss, denn um die Glaubwürdigkeit des Neuen Testaments durch Parallelen mit dem Alten Testament nachzuweisen, muss man erst überzeugt sein, dass sämtliche Worte des Neuen Testaments wahrheitsgetreu und unbeeinflusst überliefert wurden). Das Interesse an der Typologie erklärt, warum es zu den Büchern des Alten Testaments mehr frühe patristische Kommentare gab als zu den Evangelien. Die Kommentatoren suchten Parallelen nicht nur in den größeren Erzählungen und Prophezeiungen, sondern auch in einzelnen Sätzen und sogar Worten, ungeachtet der Tatsache, dass kein Teil der lateinischen Bibel in der Originalsprache geschrieben war, was von einer Geringschätzung der historischen Perspektive zeugt und von einer Beurteilung, die alle Teile der Bibel, ohne Rücksicht auf ihren Kontext, als gleichwertig ansieht. Die Typologie blieb eine im ganzen Mittelalter populäre Methode und brachte eine einheitliche Metaphorik in der mittelalterlichen Kunst hervor, die sich besonders in Büchern wie
Speculum Humanae Salvationis aus dem vierzehnten Jahrhundert und den heute als
Biblia Pauperum bezeichneten Holzschnittbüchern aus dem fünfzehnten Jahrhundert zeigt. Wir werden am Ende von Kapitel 6 auf sie zurückkommen.
- Der 'horizontale Schnitt' - die drei (vier) Deutungsvarianten
Die zweite Methode mittelalterlichen Bibelkommentars ist jene, die, der erwähnten Metapher des Baumes folgend, die Holzmaserung nach einem horizontalen Schnitt untersucht. Dabei ging man davon aus, dass jedes Wort und jeder Satz der Bibel mehrere klar definierte Bedeutungsschichten besaßen. Die erste Ebene war der buchstäbliche Sinn, die Beschreibung der tatsächlichen historischen Geschehnisse in der Bibelerzählung. Diese Ebene galt als die am wenigsten relevante.
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Quelle: Hamel, S. 100
In dieser Detailansicht aus einem Psalter des dreizehnten Jahrhunderts wird die Geschichte von Jonas, der nach drei Tagen im Bauch des Wales an Land gespien wird, mit der Auferstehung Christi gleichgesetzt, dessen Grab nach drei Tagen leer war.
London, BL, ADD. MS. 54179 |
Manche Autoren, wie zum Beispiel Origenes, zeigten kaum Interesse an den geschilderten historischen Ereignissen. Ob Jonas tatsächlich irgendwann von einem Wal verschluckt worden war, hatte für einen Mönch in einem Kloster, das fern vom Meer, Tausende Jahre und ebenso viele Meilen von Ninive entfernt war, wenig praktische Bedeutung, während die symbolische Kraft der Geschichte von Jonas und dem Wal von enormem Interesse war. Die zweite Bedeutungsebene war daher die allegorische. Der Wal konnte als Symbol des Teufels und sein Maul als Symbol der Hölle gedeutet werden. Die Allegorie könnte jedoch auch typologischer Natur sein, da Jonas, der vom Wal nach drei Tagen ausgespieen wurde, für die Evangelienerzählung ein Symbol des Alten Testaments darstellen könnte, von Christus, der in die Hölle hinabstieg und am dritten Tage wiederkehrte. Dies wäre der allegorische Sinn der Jonas-Geschichte. Unter dieser symbolischen Schicht befand sich dann noch eine dritte Bedeutungsebene, der moralische oder tropologische Sinn des Textes. Die Tropologie befasst sich mit dem Verhalten oder dem moralischen Bewusstsein. Zwar wissen wir, dass der Wal möglicherweise die Hölle repräsentiert, doch was sagt uns die Geschichte darüber, wie wir leben sollen? Diese Ebene des Kommentars filtert Gregor in seinem Werk Moralia in Job aus den Schichtungen der Heiligen Schrift heraus - er erwähnt zunächst die buchstäbliche, dann die allegorische und an dritter Stelle die praktische Ebene. Jeder Vers und jeder einzelne Abschnitt der Bibel waren auf jeder der drei Ebenen eine lohnende Lektüre. In seinem Kommentar zu Ezechiel erklärt Gregor, dass ein einziger Satz der Heiligen Schrift den einen Leser durch die Geschichte allein zufrieden stellt, ein anderer wiederum eine moralische Anleitung sucht, während ein Dritter sich mit Hilfe der Typologie um ein kontemplatives Textverständnis bemüht. Manchmal gab es sogar noch eine vierte Ebene, die so genannte "anagogische"; sie geht noch tiefer als die Typologie und beschäftigt sich mit dem mystischen oder spirituellen Sinn des Textes, der von der Seele und ihrer Beziehung zu Gott spricht. Dies ist ein kompliziertes Thema, doch wir wollen uns nicht in Fragen der spirituellen Meditation vertiefen, sondern einfach nur festhalten, dass ein frommer Mönch im Mittelalter, der die Bibel Vers fur Vers las, vermutlich hoffte, Gott in einer Art mystischer Kommunion immer näher zu kommen, und dass jeder Vers der Heiligen Schrift als Katalysator dienen konnte, um den Leser in einen Zustand religiöser Ekstase zu versetzen.
- Beispiel - Gregor
Betrachten wir die drei Ebenen der Heiligen Schrift anhand eines Beispiels, das im Mittelalter vermutlich sehr bekannt war - das Eröffnungskapitel der
Moralia von
Gregor dem Großen. Es beginnt mit einem Zitat der ersten fünf Verse des Buches Ijob. Gregor geht den Text anschließend Vers für Vers durch, er erläutert den wörtlichen Sinn und ordnet die Erzählung in einen historischen Kontext ein, indem er (wie etwa im Kommentar zu Vers 1) erwähnt, dass das Land Uz, in dem Ijob lebte, nicht-jüdisches Territorium war, weshalb Ijob ein Mann Gottes war, der unter Heiden lebte; oder (im Kommentar zu Vers 2), dass Ijob sieben Söhne und drei Töchter hatte und trotz der vielen Kinder, welche die Menschen oft habgierig machten (weil sie ihren Reichtum vermehren möchten, um ihren Kindern etwas hinterlassen zu können), ein frommer und gerechter Mann war usw. Dies ist der wörtliche Sinn des Textes, der vielleicht etwas konstruierte Inhalt, der andererseits jedem modernen Bibelkommentar gleicht. Dann setzt Gregor erneut an, um den allegorischen Sinn des Textes zu ergründen. Das Wort "Ijob" bedeutet (Gregor zufolge) im Hebräischen "Mann voller Schmerzen", das Wort " Uz" bedeutet "Berater": Ijob im Lande Uz wird als Symbol für einen Mann voller Schmerzen verstanden, der Erkenntnis und guten Rat sucht (wie in Sprichwörter 8,12). Ijob hatte sieben Söhne. Gregor der Große schwelgte in der Zahlensymbolik. Die Zahl sieben setzt sich aus der heiligen Zahl Drei und der Vier zusammen. Da Gott am siebenten Tage ruhte, ist die Sieben die Zahl einer perfekten Einheit, ähnlich wie in den Sieben Gaben des Heiligen Geistes, welche die zwölf Apostel erhielten, als sie in den vier Ecken der Erde die Trinität (Dreieinigkeit) predigten. Die Zahl Sieben setzt sich aus der Drei und der Vier zusammen, und drei mal vier ergibt die Zahl Zwölf, weshalb die Sieben und die Zwölf denselben symbolischen Wert haben, und Ijobs sieben Söhne Allegorien der Apostel sind usw. Das Ganze mag für uns heute sehr konstruiert klingen, doch wenn man wirklich davon ausgeht, dass jedes Wort, das von Gott kommt, einen zu entschlüsselnden Sinn hat, darf keine Interpretation zu gesucht oder kompliziert sein. Der hl. Gregor unternimmt noch eine dritte Textanalyse, bei der er den moralischen Sinn dieser Bibelstelle zu ergründen sucht. Wie Ijob, der unter den Heiden lebte, haben wir alle das Paradies verloren, nur die Auserwählten jedoch sind sich dieses Verlustes bewusst. Ijobs Söhne sind die Sieben Tugenden, seine Töchter verkörpern Glaube, Hoffnung und Liebe. Ijob lebte mit seinen zehn Kindern, die den Zehn Geboten gleichen, nach denen wir leben sollten usw.
- Gregors Moralia
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Quelle: Hamel, S. 103
Gregors Moralia in Job war das Buch für Mönche schlechthin. Hier überreicht Gregor sein Werk einer Gruppe von Benediktinermönchen und einem Bischof. Die Handschrift ist auf ca. 1140 zu datieren.
Tours, Bibliothêque municipale, Ms. 321 |
Mehrere Punkte sind in der Schrift
Moralia des hl.
Gregor zu beachten. Das Werk hat seinen Ursprung in den Lesungen, die Gregor seinen Mönchen täglich aus dem Buch Ijob gewährte, sowie in den Antworten auf die Fragen, die sie ihm stellten. Gregor lebte Ende des sechsten Jahrhunderts, als Rom permanent den Angriffen der Barbaren ausgesetzt war. Die Kirche war ein Refugium, ein Ort, an dem die alte, lateinische Kultur gepflegt wurde, während die Heiden an den nördlichen Grenzen rüttelten. Gregor wollte Gewissheit und Trost vermitteln. Die belagerten Christen konnten sich vermutlich gut mit Ijob identifizieren, jenem heiligen Mann, der inmitten der Heiden seinen Glauben und seine Geduld bewahrte, auch als sich das Glück gegen ihn wandte. Daher nahmen sich auch später noch Mönche im Kloster, die Erkenntnis und guten Rat suchten, seinen Text zu Herzen. Gregors
Moralia ist im Wesentlichen ein monastischer Text, denn Geduld galt bei den Mönchen als große Tugend. Die Lektüre eines Bibelkommentars war im Kloster eine spirituelle Übung, die von Gebet und Andacht ergänzt wurde. Der Text ist in angenehm kurze Absätze unterteilt, man kann ihn fast an jeder Stelle aufschlagen und, je nachdem, wie viel Zeit man zur Verfügung hat, längere oder kürzere Passagen lesen. Die Mönche haben den Text zweifelsohne laut und vermutlich recht langsam gelesen, und sind ihn dann, mehr oder weniger dem Aufbau der Moralia folgend, immer wieder durchgegangen, um jede seiner Bedeutungsebenen zu erfassen. Sie zogen daher nicht nur aus den Informationen, die sie aus der Lektüre des Textes bezogen, geistigen Nutzen, sondern auch allein schon durch die Zeit, die sie damit verbracht hatten, das Wort Gottes kontemplativ zu ergründen.
- Unterscheidung Text und Kommentar
Was uns zu einer fundamentalen Frage zurück bringt. Bei der Lektüre eines Bibelkommentars benützte ein Mönch die Bibel. Umgekehrt benützte er für das Studium der Bibel eher einen Kommentar, wie etwa den von
Augustinus oder
Gregor, als die Bibel selbst. Die Bibelverse werden in jedem Kommentar ausführlich und wiederholt zitiert. Wusste aber der Leser immer genau, welche Stellen des Manuskripts aus der Bibel stammten und welche eine Paraphrase oder Erklärung des Kommentators waren bzw. war diese Tatsache für ihn überhaupt von Bedeutung (sofern der spirituelle Nutzen der Heiligen Schrift der frommen Versenkung in den Text zu verdanken war)? Gerade diese letzte Frage ist aus moderner Sicht so faszinierend.
- Techniken, Psalter
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Quelle: Hamel, S. 104
Noch um 1200 unterschied der Schreiber dieses Psalmen-Kommentars den Bibeltext durch die Verwendung roter Tinte vom Kommentar.
Oslo und London, Schøyen-Sammlung, Ms. 258 |
Es gab verschiedene Techniken, um die eigentlichen Worte der Heiligen Schrift von jenen des Kommentars zu unterscheiden. So wurden Zitate aus der Bibel beispielsweise in farbiger Tinte geschrieben. Die Verwendung von roter Tinte für Überschriften geht auf die klassische Antike zurück und wurde auch im Mittelalter für Anweisungen und Überschriften in liturgischen Handschriften fortgesetzt (der rot ausgezeichnete Textanfang wird nach der lateinischen Bezeichnung
ruber für "rot" Rubrik genannt). Rote Tinte war in der antiken und mittelalterlichen Buchproduktion ein so verbreitetes Material, dass sie weder kostspielig noch schwierig in der Handhabung gewesen sein kann. Einige frühe griechische, theologische Handschriften zitieren die Worte der Heiligen Schrift in roter Farbe, und eine griechische Handschrift der Paulusbriefe aus dem sechsten Jahrhundert verwendet rote Tinte für jene Passagen, in denen der heilige Paulus selbst aus dem Alten Testament zitiert (Paris, BNF, Ms. Coislin 202). Dies muss teilweise auf eine Form der bereits erwähnten Typologie zurückzuführen sein, bei der Prophezeiungen des Alten Testaments zu Texten des Neuen Testaments in Beziehung gesetzt wurden. Die lateinischen Handschriften im Westen haben die Verwendung von roter Tinte vermutlich aus der griechischen Praxis übernommen. Sie wurde in erster Linie (wenngleich nicht ausschließlich) verwendet, um den Text der Psalmen in Psalterkommentaren hervorzuheben. Eine der ältesten erhaltenen Handschriften des lateinischen Kommentars des hl. Hilarius zu den Psalmen wurde im fünften Jahrhundert in Norditalien geschrieben (Verona, Biblioteca Capitolare, Cod. XIII) - ein großes, schmales, zweibändiges Buch in Unzialschrift, in dem die Zitate aus den Psalmen in blasser roter Tinte wiedergegeben sind. Der Schreiber signierte die Handschrift mit
antiquarius Eutalius, was auf einen Mann hindeutet, der sich an älteren Vorlagen orientierte.
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Quelle: Hamel, S. 105
Diese Inhaltsangabe aus dem frühen dreizehnten Jahrhundert erläutert, dass das Buch aus zwei Teilen besteht. Es fängt an mit den Kleinen Propheten in schwarzer Schrift und ohne Kommentar. Dann beginnt der Text erneut, und in diesem zweiten Teil ist der Bibeltext rot unterstrichen, um ihn von Stephan Langtons in Schwarz geschriebenen Kommentar zu unterscheiden.
Cambridge, Corpus Christi College, Ms. 31 |
Auch in den Handschriften des
Cassiodorus zu den Psalmen ist der eigentliche Text der Psalmen mitunter in roter Tinte geschrieben. Ein schönes, frühes Beispiel ist die Handschrift mit der Signatur Durham Cathedral MS. B. LI. 30 aus der Mitte des achten Jahrhunderts, bei der die ersten paar Worte oder sogar mehrere Zeilen jedes Auszuges aus dem Psalter in roter Tinte kopiert sind. Ähnlich werden auch in den Psalmenkommentaren des hl.
Augustinus die Psalmen in roter Tinte zitiert, zumindest beginnt jedes Zitat in roter Farbe. Das älteste Beispiel scheint die Handschrift mit der Signatur Autun, Bibliotheque Municipale, Ms. 107 zu sein, die vermutlich zwischen dem sechsten und siebten Jahrhundert in den Pyrenäen geschrieben wurde. Hier sind alle Bibelzitate eingerückt wiedergegeben, und jedes Zitat des Psalters beginnt in leuchtendem Rot. Auch in England war es um
1200 üblich, in Handschriften der Kommentare des hl. Augustinus Rot für die Psalmen zu verwenden. In einigen Abschriften scheint zwar beabsichtigt worden zu sein, den biblischen Text vom Kommentar farblich abzuheben, doch bereits nach wenigen Seiten wird dieser Plan wieder aufgegeben. Ein schönes Beispiel ist die Handschrift mit der Signatur Würzburg, Universitätsbibliothek, Cod. M.p.th.f. 17, die um das Jahr 800 in einem angelsächsischen Zentrum in Deutschland geschrieben wurde. Der Schreiber begann mit einer Passage aus den Psalmen in roter Tinte, verwendete Schwarz für den Kommentar von Augustinus, begann dann an falscher Stelle, während er den Text von Augustinus noch bearbeitete, wieder in Rot, bemerkte seinen Irrtum und schrieb das restliche Buch in Schwarz weiter, ganz gleich, ob die Sätze aus der Bibel stammten oder nicht. Zumindest aber hat er erkannt, dass er nicht fähig war, den Bibeltext exakt vom Kommentar zu unterscheiden.
- diplé
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Quelle: Hamel, S. 106
Als diplé wird die wiederholte, zickzackförmige Markierung in der linken Randspalte bezeichnet, die anzeigt, dass der daneben stehende Text aus der Bibel stammt, in diesem Fall aus Daniel 2,19 und 2,20-21. Der nicht markierte Text ist der Kommentar von Hieronymus.
London, BL, Royal MS. 4.C.XI |
Eine weitere wichtige Methode, um anzuzeigen, welche Passagen in Handschriften aus der Bibel stammten, war ein kleiner Kunstgriff der
diplé genannt wurde, das griechische Wort für "doppelt". Der Ausdruck wurde für das doppelte V-förmige Zeichen in griechischen Papyri verwendet, das einen Absatz kennzeichnete. Isidor erklärt in seinen
Etymologien, dass zu seiner Zeit - im frühen siebten Jahrhundert die
diplé von den Schreibern religiöser Bücher verwendet wurde, um die Worte der Heiligen Schrift von jenen anderer Texte zu unterscheiden. Im sechsten Jahrhundert wurde das
diplé lateinischen Handschriften verwendet, es taucht zum Beispiel in einer Abschrift des Hieronymuskommentars zu den Psalmen (Paris, BNF, Ms. lat. 2235) auf. Das Zeichen tritt in unterschiedlichen Formen in Erscheinung, wie ein seitliches oder verkehrtes "V" (der Zahl "7" ähnlich) oder ein aufrechtes "V" oder "Y" mit einem Punkt zwischen den Seitenstrichen (eine vermutlich auf Frankreich beschränkte Variante), als keilförmiges Zeichen oder in einer Zickzack-Form, die an ein "s" oder ein doppeltes "s" erinnert. Die
diplé befand sich am Rand einer Handschrift unmittelbar nach dem Beginn eines Bibel-Zitats und wurde in einer vertikalen Randspalte neben jeder Zeile bis zum Ende des Zitats wiederholt. Sie überlebte überraschend bis in die heutige Zeit, als Prototyp der heutigen Anführungszeichen.
Die
diplé ist leicht zu übersehen, wenn man Handschriften von Bibelkommentaren betrachtet, sie gleicht oft geisterhaften Spuren am Rand, sodass man zuweilen gar nicht merkt, dass sie Teil des Textes sind. Auch die Schreiber haben beim Kopieren einer Handschrift die
diplé offenbar gerne übersehen, die Zeichen wurden in vielen Manuskripten auch recht wahllos eingesetzt.
- Vergleich zweier Handschriften
Sehen wir uns den Vergleich zweier Handschriften von
Hieronymus zum Buch Daniel an, die sich beide in der British Library in London befinden: Add. MS. 36668, geschrieben im Rheinland in der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts, und Royal MS. 4.C.XI, geschrieben in Südengland um etwa
1100. Beide ignorierten die
diplé auf den Eröffnungsseiten des Kommentars vollständig und verwendeten sie dann plötzlich zum ersten Mal an ein und derselben Stelle, nämlich Daniel, 2,2, um sie dann wieder zu ignorieren. Es wäre eine faszinierende Aufgabe, einmal systematisch zu untersuchen, wie die Schreiber die
diplé an den Rändern patristischer Bibelkommentare verwendeten. Vermutlich würde man so auf interessante Textfamilien stoßen (selbst jemand, der keine großartigen Lateinkenntnisse hat, könnte damit einen nützlichen Beitrag zur Geschichte des Patrismus leisten). Von den 20 ältesten Handschriften des
Augustinus zu den Psalmen, die alle vor dem Jahr 800 entstanden, verwenden fünf eine Art
diplé für Bibelzitate, drei Autoren benutzten rote Tinte, zwei eine größere Schrift, während zehn gar nicht zwischen der Prosa des hl. Augustinus und den eigentlichen Bibelzitaten unterschieden.
Aus den Handschriften zwischen dem siebten und elften Jahrhundert lässt sich schließen, dass jene, welche die Heilige Schrift studierten, sich relativ wenig darum kümmerten, welche Worte tatsächlich aus der Bibel stammten und welches Interpretationen der Kommentatoren waren. Die Psalmen stellen möglicherweise eine Ausnahme dar, da sie manchmal durch Schriftform oder Farbe hervorgehoben wurden, und im neunten Jahrhundert gab es Abschriften vollständiger Psalter mit Marginalglossen. Im frühen Mittelalter näherte man sich Gott meist über die Heiligen an. Ähnlich suchte man Zugang zur Bibel durch die Lektüre des hl. Hieronymus, von Hilarius,
Ambrosius, Augustinus,
Cassiodorus und
Gregor sowie einer Reihe späterer Kompilatoren (wie etwa
Beda Venerabilis), deren Werke sich meist aus Zitaten der genannten Kirchenväter zusammensetzten.
- Folgerungen
Man darf diese Tatsache nicht einfach negativ sehen. Erstens war die Sprache der Bibel (Latein) im neunten Jahrhundert bereits veraltet, und der Text handelte von einer Zivilisation, die zur damaligen Zeit geschichtlich und geografisch in weite Ferne gerückt war; man benötigte (wie auch heute) Interpretationen, um die zeitliche Kluft zu überbrücken und die wörtliche Bedeutung des Textes zu verstehen. Zweitens wurde der wörtliche Sinn der Bibel als weniger wichtig erachtet als ihre tiefere und verborgene symbolische und mystische Bedeutung. Selbst wenn man lediglich den moralischen Sinn des Textes zu ergründen suchte, brauchte man dazu eine verständnisvolle Anleitung. Drittens waren die Kirchenväter selbst heilige, von Gott erfüllte Männer, weshalb es, um heiliges Land zu betreten, eine sichere Lösung war, den heiligen
Augustinus auf seinen Reisen durch den Pentateuch oder die Psalmen zu begleiten.
- Mönche
Viertens muss man sich vor Augen halten, dass die damaligen Leser, wie bereits erwähnt, zum Großteil
Mönche (oder auch Nonnen) waren. Diese Tatsache ist für die weitere Geschichte der Bibel von großer Bedeutung. Nahezu fünfhundert Jahre lang, während des frühen Mittelalters und des Karolingischen Reiches, war das Studium der Schriften fast ausschließlich auf die Mönche und Nonnen in den Klöstern beschränkt. Ein Mönch versuchte, sein ganzes Leben der Religion zu weihen, er hörte die Heilige Schrift in der Liturgie und vertiefte sich in die Bibel mit Hilfe von Texten über die Bibel. Sein ganzes Leben widmete er dem Studium der Bibel in all ihren Aspekten. Lesen, Beten, Meditieren und das Nachdenken über die unendlich vielen Bedeutungen des Textes standen ein Leben lang im Zentrum der geistigen Beschäftigungen eines Mönches. Cassian (gest. 435) zufolge sollte ein Mönch hoffen, dass er selbst im Schlaf noch von den verborgenen Bedeutungen der Bibel träumte.
- Stadt, Klöster
Das Monopol der
Mönche wurde um etwa
1100 aufgebrochen. Bereits im vorigen Kapitel haben wir die Renaissance des zwölften Jahrhunderts angesprochen. Die Bildung und die Fähigkeit des Lesens und Schreibens verlagerte sich aus dem Kloster hinaus in die Stadtkirchen und Bereiche des höfischen
Rittertums, des
Handels, des Gesetzes und der
zivilen Verwaltung. Dennoch war die Religiosität aber keineswegs im Niedergang begriffen. Im Gegenteil, dies war eine Periode einer engagierten christlichen Erneuerung, die allerdings in zwei Richtungen verlief. Das religiöse Leben war nicht mehr hinter die Klostermauern verbannt, die städtischen Kathedralen mit ihren Priestern und Domherren gewannen als Zentren der religiösen Lehre zunehmende Bedeutung und öffneten sich auch der säkularen Welt. Erste Schulen wurden gegründet, Zentren für wissenschaftliche Studien entstanden, die sich allmählich zu den ersten
Universitäten entwickelten. Gleichzeitig erlebte das Mönchtum eine neue Blüte, und es wurden viele neue Abteien und Prioreien gegründet. Der
Benediktinerorden übte nach wie vor eine große Anziehungskraft aus, daneben entstanden neue religiöse Ordensgemeinschaften wie die
Zisterzienser, die
Kartäuser, die
Augustiner und andere. Im Europa des zwölften Jahrhunderts wurden mehr Klöster erbaut als in jedem anderen vergleichbaren Zeitraum. Neu war jedoch, dass im Mittelalter der Grund, um ins Kloster zu gehen, damit zu tun hatte, dass diese in einer trostlosen Zeit rare Inseln der Kultur und Zivilisation darstellten, sich ab dem zwölften Jahrhundert jedoch immer mehr Menschen angesichts der sich ausbreitenden Sophistik und dem weltlichen Treiben in den Städten zurückziehen wollten. Beide Motive sind jeweils gut zu verstehen, doch die Mönche, die von ihnen beseelt waren, hatten ganz unterschiedliche Eigenschaften.
- Religiöse Welt, Studium
Dieser von den Klöstern unabhängigen religiösen Welt wollen wir uns im Folgenden zuwenden, was uns zur Benutzung und Interpretation der Bibel zurückführt. Außerhalb der Klöster entwickelte sich eine neue Methode, die Heilige Schrift zu studieren. Nach wie vor stand die Bibel im Zentrum jeglicher Bildung, doch veränderte sich allmählich die Art ihrer Verwendung. Im späten elften Jahrhundert entstanden im Umfeld der Kathedralen Nordfrankreichs, vermutlich in Chartres und ganz gewiss bald auch in Laon, Auxerre und (im zweiten Viertel des zwölften Jahrhunderts) in
Paris, einfache Schulen für eine theologische Ausbildung. Die Bibel war das wichtigste Studienmaterial und wurde als
sacra pagina, "heilige Seite", bezeichnet. Die Lehrer waren die so genannten
Magistri in sacra pagina. Die Klassen wurden von angehenden Priestern besucht, aber auch von manchem Mitglied des Klerus und all denen, die eine Laufbahn in der zunehmend bürokratischen königlichen und zivilen Verwaltung anstrebten. Ein Klerikus war eine Art Halbpriester, er war dem Zölibat und der Religion verpflichtet, wurde aber nicht unwiderruflich zum Priester oder Mönch geweiht. Während ein Mönch Bücher über die Bibel in erster Linie las, um von Gott erfüllt zu werden, hatte ein Gelehrter, der seinen Lebensunterhalt in der säkularen Welt verdiente, im Allgemeinen weniger Zeit, weshalb er mehr Informationen in größerem Tempo benötigte. Die Bibel war zwar das grundlegende Lehrbuch der Studierenden, doch kannten sie vermutlich nicht jeden Vers des Textes so in- und auswendig wie ein Mönch, der tagtäglich unzählige Bibellesungen in der Kapelle und im
Refektorium seines Klosters zu hören bekam.
- Glosse
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Quelle: Hamel, S. 108
Diese Seite ist der Sammlung glossierter Bibelbücher entnommen, die Prinz Henri, der Sohn von Ludwig VI., vermutlich um 1146 in die Abtei Clairvaux brachte. Der Bibeltext (hier der Beginn von I Korinther) ist in größerer Schrift in der Mitte zu sehen, die Glosse in kleinerer Schrift auf beiden Rändern und zwischen den Zeilen.
Troyes, Bibliothêque municipale, Ms. 512 |
Während der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts kam rasch eine komfortable und innovative Form des Bibelkommentars in Mode. Sie verbreitete sich aus den französischen Kathedralschulen, insbesondere aus Laon und Paris, in alle Teile Europas. Es war dies die so genannte Glosse, manchmal auch
Glossa ordinaria genannt. Der bedeutendste Glossenkompilator war vermutlich
Anselm von Laon (gest.
1117). Er wurde dabei unterstützt von seinem jüngeren Bruder Radulph (gest.
1133) und einem Mitarbeiter der Schule in Auxerre, Gilbertus Universalis (gest.
1134), der für seine universelle Bildung bekannt war und schließlich Bischof von London wurde. Diese drei Kompilatoren erhoben nicht den Anspruch, Kommentare als solche zu schreiben, sondern wählten nur Zitate von traditionellen und anerkannten Autoritäten wie
Hieronymus,
Augustinus,
Gregor und anderen aus. Gilbertus hielt in seiner Glosse zu den Klageliedern fest, er habe "von den Brunnen der Väter getrunken". Die ersten Glossenwerke zur Bibel waren die Psalmen und die Paulusbriefe, die etwa um
1100 in Umlauf kamen. Rasch folgten die Bücher Ijob, das Hohelied, das Matthäus- und Johannesevangelium usw., bis
1135 die gesamte Bibel mit einer standardisierten Sammlung erläuternder Zitate verfügbar war.
- Glossen-Handschriften
Bibelglossen-Handschriften bestanden ursprünglich aus dünnen Bänden mit einer schmalen Mittelspalte, die den gesamten ungekürzten Text eines Buches oder mehrerer Bücher der lateinischen Bibel enthielt. Der Text ist optisch hervorgehoben und abgegrenzt und war nicht mit dem Kommentar zu verwechseln. Die kurzen Zitate anerkannter Kommentare der Vergangenheit waren in kleinerer Schrift in den beiden Randspalten oder zwischen den Zeilen des biblischen Textes als Interlinearglossen eingefügt. Dies waren die Glossen, die der Kompilation den Namen verliehen. Ein Leser konnte den Haupttext lesen und kurz einen Blick links oder rechts auf die Randspalte werfen, um nachzulesen, was dieser oder jener bedeutende Kommentator über einen bestimmten Vers oder eine Passage der Bibel gesagt hatte. Frühe Bibelglossen-Handschriften zitieren die ursprünglichen Quellen manchmal namentlich, wobei oft Abkürzungen verwendet werden (wie etwa AU für Augustinus, Cass für Cassiodorus, GR für Gregor usw.), bisweilen werden auch die Interpretationsebenen angegeben, wie etwa AL für "allegorisch" (die allegorische oder typologische Bedeutung) oder MOR für "moralisch", die moralische oder tropologische Bedeutung. Innerhalb weniger Jahre gingen die Mönche jedoch dazu über, auf diese Symbole der Autorschaft oder der Bedeutungsebene zu verzichten, vermutlich weil man die ursprünglichen Quellen der Glossen nicht mehr für wichtig hielt. Der neue Text mit seiner festgelegten Auswahl an Zitaten auf den beiden Randspalten der biblischen Erzählung wurde bereits als anerkannter und eigenständiger Bibelkommentar akzeptiert, was sich während des ganzen Mittelalters auch nicht mehr ändern sollte.
Um etwa 1170 wurde das Format glossierter Bücher größer, und die Seitengestaltung kunstvoller. Die Textblöcke und die Glossen wurden auf den jeweiligen Seiten so ineinander verwoben, dass der Fließtext und der Kommentar sich in einem eleganten Muster zu einer Einheit verbanden, wobei der Effekt manchmal einem Wasserfall vergleichbar ist, bei dem der deutlich erkennbare Fließtext der Bibel über die Seite strömt und die Blöcke der Glosse umspült. Nichtsdestoweniger war das Layout so konzipiert, dass durch die Verwendung eines größeren Schriftgrades für den Bibeltext keine Verwechslung mit dem Kommentar möglich war, der in einer viel kleineren, runderen Schrift verfasst war. Die Bücher waren auf zweierlei Art zu benutzen. Auch in einem glossierten Buch konnte man einfach nur die Bibelerzählung, ohne Interpretation, lesen. Alternativ war es auch möglich, dass man sich ausschließlich in den Kommentar vertiefte und nur gelegentlich den Bibeltext überprüfte. Die beiden Texte verliefen parallel, waren aber optisch unterschieden.
- Glossensammlungen
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Quelle: Hamel, S. 110
In der Magna glossatura von Petrus Lombardus ist der Kommentar ein deutlich abgehobener Textblock, der mit dem daneben stehenden Bibeltext in großer Schrift verknüpft ist. Die Handschrift der Magna glossatura zu den Psalmen wurde etwa 1193 in Paris hergestellt.
Paris, BNF, Ms. Lat. 11565 |
Dieses Layout war so erfolgreich, dass es
1160 für die Kommentare zu den Psalmen und den Paulusbriefen übernommen wurde, die von
Petrus Lombardus (gest. 1160), einem religiösen Enzyklopädisten, der (für kurze Zeit) Bischof von Paris war, zusammengestellt worden waren. Diese beiden Bücher wurden bekannt unter dem Namen
Magna glossatura. Ab etwa
1170 finden sich Hinweise auf wohlhabende Mäzene, die versuchten, vollständige Glossensammlungen zur gesamten Bibel zusammenzustellen und die Kommentare des Petrus Lombardus an den passenden Stellen einzufügen. Eine vollständige Sammlung umfasste über zwanzig Bände. Diese Werke zählen zu den ersten Büchern, die von professionellen Schreibern in beliebiger Stückzahl als Auftragsarbeit für Privatkunden hergestellt wurden. Ein bedeutendes unter diesen Konvoluten wurde offenbar in Frankreich, möglicherweise in Paris, für den Erzbischof Thomas Becket angefertigt, bevor er aus dem Exil nach Canterbury zurückkehrte, wo er 1170 den Märtyrertod starb. In der zeitgenössischen Chronik wird es als
bibliotheca erwähnt, was sowohl "Bibliothek" als auch "Bibel" bedeutete. Eine weitere Sammlung gehörte
Magister Alexander (gest.
1213), in dessen Besitz sie sich bereits im Jahr
1171 befand, als er die Bände der Abtei Jumieges in der Normandie zum Geschenk machte. Ralf von Sarre, der Dekan von Reims (gest.
1194), besaß vermutlich
1176 eine Sammlung, die er in vierundzwanzig Bänden der Priorei der Christ Church Cathedral in Canterbury als Geschenk überreichte. Die wohltätige Gabe wurde in Canterbury verzeichnet, wo die Bücher erneut als
bibliotheca des Alten und Neuen Testaments bezeichnet wurden. Die Bücher enthalten den ungekürzten Text der Bibel sowie die Glosse und wurden von ihren Besitzern in erster Linie als Bibeln betrachtet. Viele weitere wohlhabende Gelehrte und Prälaten stellten Ende des zwölften Jahrhunderts Sammlungen glossierter Bibelbücher zusammen, deren Text schließlich in ganz Europa verwendet wurde. Bibelglossen-Handschriften wurden im frühen dreizehnten Jahrhundert Teil des Inventars erfolgreicher Kleriker und Kirchenmänner.
- Historie
Dass der Bibeltext in diesen Büchern grafisch so deutlich hervorgehoben wurde, spiegelte das neue Interesse an einem unverfälschten Text der Heiligen Schrift wider. Endlich konnte man die Bibel ohne all die Überlagerungen betrachten, die sich im Laufe der Jahrhunderte gebildet hatten. Die ausgewählten Glossen sind in ihrer Interpretation oft recht wörtlich und verzichten auf übertriebene allegorische Erklärungen. Die Gelehrten in der Stadt und in den Kathedralschulen begannen die Bibel als glaubwürdige historische Aufzeichnung mit authentischen Schauplätzen und einer plausiblen Chronologie neu zu bewerten. Die Westeuropäer hatten das Heilige Land besucht. Der
erste Kreuzzug begann
1095; der
zweite im Jahr
1147. Das geografische Umfeld der Bibel war erstmals, seit Hieronymus dort gelebt hatte, in greifbare Nähe gerückt. Der Pariser Lehrer
Hugo von St. Victor (gest.
1141) betonte die Notwendigkeit, die wörtliche und historische Bedeutung der Bibel zu verstehen, bevor man versuchte, ihre verborgenen Allegorien zu ergründen. Die Leser des zwölften Jahrhunderts gingen, wie sich zeigt, auf die eigentliche Geschichte zurück, die in der Bibel erzählt wird.
- Chronisten
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Quelle: Hamel, S. 111
Die Historia Scholastica von Petrus Comestor ist eine Weltgeschichte des Alten und Neuen Testaments. Die Handschrift ist auf das späte zwölfte Jahrhundert zu datieren.
Cambridge, Corpus Christi College, MS. 29 |
Ebenfalls in Paris kompilierte
Petrus Comestor (gest. ca.
1179) die
Historia Scholastica, eine Zusammenfassung der Weltgeschichte des Alten und Neuen Testaments. Im Vorwort erläutert er, dass er den Fluss der Geschichte (
rivulum hystoricum - eine schöne Formulierung) von der Weltbeschreibung Mose bis zur Auferstehung Christi nachzeichnete. Der Text enthält allegorische Erläuterungen, setzt aber immer bei Ereignissen und nicht bei Symbolen und Worten ohne Kontext an. Petrus von Poitiers (gest.
1205) verfasste eine weit ausholende Chronik, die so genannte
Genealogia Vitae Christi, in der er den Stammbaum Christi über das Alte Testament bis zu Adam und Eva zurückverfolgt, wobei er datierbare Ereignisse der Frühgeschichte zitiert. Petrus Riga (gest.
1209) gab die historischen Erzählungen der Bibel in der
Aurora wieder, einer Bibelparaphrase, die in Versen geschrieben und daher leicht zu memorieren war. Im Vorwort der
Aurora preist er ausführlich die unendliche Tiefe der Heiligen Schrift und den Wert wissenschaftlichen Studiums, kommt aber zu dem Schluss: "Wer danach trachtet, rascher in dieser Disziplin voranzukommen, muss mit der Geschichte beginnen. Wenngleich jede Theologie den vierfachen Schriftsinn zu berücksichtigen hat - den historischen, den allegorischen, den tropologischen und den anagogischen -, so ist doch ersterer der wertvollste", weil, wie er ausführt, "die Geschichte die Grundlage ist". Die Anleitungen zur Bibelgeschichte von Petrus Comestor, Petrus von Poitiers und Petrus Riga genossen enorme Popularität und sind in einer großen Anzahl früher Handschriften erhalten.
- Interpretationes nominum hebraicorum
Eine bedeutende Kompilation aus dieser Zeit sind die
Interpretationes nominum hebraicorum. Das Buch entstand als eigenständiger Text, wurde aber fast dreihundert Jahre lang am Ende lateinischer Bibeln angefügt. Es handelt sich um eine faszinierende alphabetische Liste von mehr als 5500, teilweise sehr seltenen Eigennamen, die in der lateinischen Bibel vorkommen, mit Übersetzungen der ursprünglichen Bedeutung der Namen im Hebräischen. Dies war sowohl für ein wörtliches Textverständnis als auch für den allegorischen Gebrauch von Vorteil. Wir haben bereits die
Moralia des hl.
Gregor erwähnt, in der dieser erklärte, dass der Name "Ijob" im Hebräischen "Mann voller Schmerzen" und das Land "Uz" "Berater" bedeute. Das Wissen um diese Bedeutungen ermöglicht ein wörtliches Textverständnis, wie es sich einst der jüdische Bibelleser, der die Bibel auf Hebräisch studierte, aneignen konnte. Es gibt mehrere Versionen der
Interpretationes nominum hebraicorum. Die längste und am weitesten verbreitete beginnt mit folgenden Worten "
Aaz, apprehendens vel apprehensio;
Aad, testificans vel testimonium ..." usw. Dies ist eine Erläuterung des Namens "Aaz" (Amzis), der in der Bibel nur kurz als Vater von einem der Männer, die den Dienst im Tempel versahen (Nehemia 11,13), erwähnt wird, und im Hebräischen "sich bemächtigen" oder "ergreifen" bedeutet, während "Aad" (Gal-Ed), dessen Name in Genesis 31,48 mit "Zeugenhügel" erläutert wird, die Bedeutung hat von "Zeugnis ablegen" oder "bezeugen". Viele der angeführten Namen sind Vornamen, wie etwa Judit - "vertrauensvoll" oder "lobpreisend", andere wiederum sind Ortsnamen. Betlehem bedeutet das "Haus des Brotes", während Betanien das "Haus des Gehorsams" ist. Jerusalem heißt "die Friedfertige" oder "Friedensvision", eine Interpretation, die vielen damaligen Bibelauslegungen und Interpretationen eine neue Bedeutung verliehen haben muss, da Jerusalem
1187 von
Saladin eingenommen wurde.
- Stephan Langton
Die
Interpretationes nominum hebraicorum sind weitgehend alphabetisch aufgebaut, eine Ordnung, die bis zum zweiten oder dritten Buchstaben beibehalten wird. Biblische Namen durch eine Bezugnahme auf das Hebräische zu erläutern, war nichts unbedingt Neues, auch
Hieronymus hatte das bereits getan. Tatsächlich ist der Großteil der Interpretationes eher auf Hieronymus als auf fundierte Hebräischkenntnisse zurückzuführen. Die Kompilation ist auf
1180-
1200 zu datieren und wird im Allgemeinen Stephen Langton (gest.
1228) zugeschrieben, was allerdings nicht gesichert ist. Die
Interpretationes wurden äußerst populär, eigneten sich als Nachschlagewerk für einfache Allegorien und waren in diesem Sinn eine Art alphabetische Glosse. Sie stellen eine überraschende Verbindung zwischen den Bibelkommentaren, die in diesem Kapitel behandelt werden, und den einbändigen Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts dar, die Gegenstand des nächsten Kapitels sind. Um das Jahr 1200 begannen sich die Leser glossierter Bibeln mehr und mehr auf den Bibeltext selbst zu konzentrieren, die nunmehr ganz separaten Randkommentare verloren an Bedeutung. Eine vollständig glossierte Bibel umfasste mehr als zwanzig Bände. Um sich nicht mehr mit einem Konvolut gewichtiger Bücher herumschlagen zu müssen, wurde auf den Kommentar verzichtet. Die Bibliotheken wurden mit einer neuen Buchform ausgestattet, die sich für ein bequemes Nachschlagen eignete - allein dem Bibeltext. Die alphahetischen
Interpretationes nominum hebraicorum wurden als separater Text am Ende angefügt, Allegorien waren nach wie vor verfügbar, aber ans Ende des Buches verbannt. Die Bibel ohne Glosse entwickelte sich also aus den Kommentaren. Der aus dem dreizehnten Jahrhundert stammende Katalog der Bibliothek von Notre Dame in Paris erwähnt eine "vollständige Bibel ohne Glosse" - zweifellos würde wir diese heute nur Bibel nennen.
[S. 92-113]
Die tragbaren Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts
Bis auf Münzen und Bauwerke sind uns aus dem dreizehnten Jahrhundert mehr Bibeln erhalten als sonstige Artefakte. Die Münzen zeugen vom wachsenden Wohlstand, dem Aufblühen des Handels in den prosperierenden Städten und der Effizienz der königlichen Verwaltung. Die berühmtesten Gebäude aus dem Europa des dreizehnten Jahrhunderts sind die grandiosen Kirchen und Kathedralen. Noch heute dürfen wir Hunderte dieser Bauwerke bewundern, mit ihren hoch aufragenden Säulen, Spitzbögen und Gewölbedecken sowie den Glasfenstern in tiefem Rot und Blau, durch die gedämpftes Licht dringt und eine magische Atmosphäre erzeugt. Es ist auch die Epoche der ältesten überlieferten weltlichen Musik und der Entstehung einer volkstümlichen Literatur in Sprachen, die uns heute noch vertraut vorkommen. In jenem Jahrhundert wurden
Universitäten gegründet und wissenschaftliche Methoden aus dem arabischen Kulturkreis übernommen. Während der Begriff "
Gotik", ursprünglich abgeleitet von den als "barbarisch" angesehenen Goten, früher in abwertender Weise für das dreizehnte Jahrhundert verwendet wurde, verstehen wir ihn heute als Bezeichnung eines Zeitalters, das von neuer Schönheit, Innovation und Licht geprägt war.
Der Unterschied zwischen den lateinischen Bibeln des zwölften und jenen des dreizehnten Jahrhunderts ist beachtlich. Würde man eine romanische Bibel von
1170 und eine gotische Bibel von
1270 nebeneinander legen, wären sie kaum als das gleiche Buch erkennbar. Die romanische Bibel ist riesig und umfasst meist mehrere Bände. Die frühe gotische Bibel hingegen ist geradezu winzig, im Format kleiner als manche moderne Druckbibel, und hat in einer Hand Platz. Wenn wir nun das Buch öffnen, sehen wir, dass die Riesenbibel in einer prachtvollen, großzügigen Schrift geschrieben ist, die der Erhabenheit des Textes entspricht und sich für die Lesung auf einer Kanzel eignet. Die Lettern sind wie romanische Bögen gerundet. Die Schrift der Bibel des dreizehnten Jahrhunderts ist sehr klein und dabei spitzwinkelig wie ein gotisches Fenster. Die Textblöcke sind so verdichtet und kompakt, dass alle Teile der Heiligen Schrift in einem einzigen Band Platz finden. Die romanische Bibel wurde auf riesigen Pergamentblättern geschrieben, die beim Umblättern knistern, die Bibel des dreizehnten Jahrhunderts hingegen auf hauchdünnem, weißem Pergament, das sich wie Seide anfühlt und so zart ist, dass man leicht zwei Seiten umblättert, ohne es zu bemerken. Beim Vergleich der künstlerischen Ausstattung stellen wir fest, dass die Bibel aus dem zwölften Jahrhundert oft mehrere ganzseitige Bilder enthält und jeder Text mit einer großen illuminierten Initiale beginnt, die manchmal ein Viertel der Seite oder mehr einnimmt. Die Bibel des dreizehnten Jahrhunderts dagegen weist am Beginn eines jeden Textes nur winzige Initialen auf; sie sind so klein, dass man eine Lupe benötigt, um die flngernagelgroßen biblischen Szenen zu erkennen. Was die sonstige Ornamentik betrifft, so erweckt die Bibel des zwölften Jahrhunderts auf den vielen Seiten zwischen den spektakulären Initialen den Eindruck ernster Strenge, die Spalten schwarzen oder braunen Textes wirken wie schmucklose Säulen. Das Buch aus dem dreizehnten Jahrhundert macht im Vergleich dazu einen festlichen Eindruck, es ist fröhlich geschmückt mit leuchtend roten oder blauen Kapitelinitialen und großen wogenden Streifen aus Federzeichnungen in Kontrastfarben. Die Überschriften sind häufig in Rot und Blau gehalten, die wie Flaggen in changierenden Farben über den oberen Rand der Seite verlaufen, selbst der Text ist rot gesprenkelt. Der Wortlaut entspricht der lateinischen Vulgata des heiligen
Hieronymus, die Anordnung der Bücher ist jedoch neu. Ergänzende Texte wurden hinzugefügt, andere, wie die Kanontafeln zu den Evangelien, sind verschwunden. Die Prologe erreichen fast den Status eigenständiger biblischer Bücher und beginnen alle mit einer illuminierten Initiale. Am Ende dieser Bibeln sind die neuen alphabetischen
Interpretationes nominum hebraicorum eingefügt, die wir im letzten Kapitel kennen gelernt haben. Sie wurden ein so verbreitetes Merkmal der Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts, dass man sie fast für ein Buch der Heiligen Schrift halten konnte. Beim Vergleich des Gewichts stellen wir fest, dass die massiven Bände der romanischen Bibel schwer in der Hand liegen, schwierig zu verstauen sind und bestenfalls waagrecht in ein Regal eingeordnet werden können. Die Bibel aus dem dreizehnten Jahrhundert hingegen lässt sich in einer Hand halten und findet wie die meisten modernen Bücher auf jedem Regal Platz.
Vergleichen wir nun die Bibel aus dem dreizehnten Jahrhundert mit einer modernen Druckausgabe. Alle wesentlichen Merkmale sind sehr ähnlich: Gewicht, Format, Form, Papierstärke, Initialen (im Allgemeinen jedoch keine großformatigen Bilder), Kapitelnummern, Kolumnentitel, Namenskonkordanzen, (oftmals) zwei Textspalten und insbesondere die Anordnung der Bücher von Genesis bis Offenbarung - all diese Merkmale haben sich bis heute praktisch kaum verändert. In den 100 Jahren zwischen
1170 und
1270 wurden Form und Format der Bibel nachhaltiger verändert als in jedem anderen Jahrhundert seit der Erfindung des Codex, und die Bibelproduktion jener Zeit hat auch heute noch Gültigkeit. Der Großteil dieser Entwicklung fand übrigens in Frankreich statt.
- Entwicklung der Bibel
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Quelle: Hamel, S. 116
Die lateinischen Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts waren außergewöhnlich klein, zweispaltig, in winziger Schrift beschrieben und wiesen Überschriften sowie rote und blaue Kapitelnummern auf. Diese Abbildung zeigt eine typische Bibel, wie sie in Frankreich um 1250 angefertigt wurde. Jede Seite hat das Format 233 x 156 mm.
Privatsammlung |
Diese unverkennbare Erneuerung erfolgte in zwei wesentlichen Phasen. Es begann mit der allmählichen Veränderung des Bibelformats in Nordfrankreich zwischen
1170 und
1230. In der zweiten Phase, ab etwa
1240, erlebte die neue Bibel eine wachsende Beliebtheit und verbreitete sich in ganz Europa. Wir werden jede dieser beiden Phasen sorgfältig untersuchen, denn diese Veränderungen nachzuvollziehen und zu erklären ist ebenso faszinierend wie kompliziert, da viele mit unzähligen kleinen Details zusammenhängen, deren Veränderung parallel erfolgte und die schließlich im Zusammenspiel eine neue Bibelform hervorbrachten. Wir werden im Folgenden diese Entwicklung Schritt für Schritt nachvollziehen, denn nur wenn wir wissen, was tatsächlich geschah, können wir es auch verstehen.
Beginnen wir mit der Form und der Anordnung der Bibel. Die Entwicklungen des späten zwölften und frühen dreizehnten Jahrhunderts lassen sich unter vier Punkten zusammenfassen: (1) Die Seitengröße verringert sich; (2) die Bibel wird nach einer standardisierten Anordnung der Bücher in einem einzigen Band vereint; (3) ergänzende Texte werden hinzugefügt, insbesondere die alphabetischen
Interpretationes nominum hebraicorum sowie eine festgelegte Reihe von
Prologen, und (4) der Text wird in nummerierte Kapitel unterteilt.
- Seitengröße
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Quelle: Hamel, S. 117
Ende des zwölften Jahrhunderts wurde das Format der Bibelhandschriften kleiner. Diese einbändige Bibel, die vermutlich nicht später als 1183 hergestellt wurde, misst 315 x 205 mm und ist deutlich kleiner als die in Kapitel 3 erörterten Riesenbibeln, aber immer noch größer als eine Bibel aus dem dreizehnten Jahrhundert.
Cambridge, Corpus Christi College, MS. 48 |
Die allmähliche Verkleinerung der Seitengröße setzte um etwa
1160 ein, in einem sehr langsamen Prozess. Eine relativ kleinformatige (320 x 220 mm) Bibel aus dem dritten Viertel des zwölften Jahrhunderts wurde vermutlich für die Abtei von La Trinité in Vendôme (Paris, Bibliotheque de la Chambre des Députés, Ms. 2) hergestellt. Eine weitere, die etwas später während der Amtszeit Simons von etwa
1167 bis 1183 für die Abtei St. Albans angefertigt wurde, misst 315 x 215 mm (Cambridge, Corpus Christi College, MS. 48). Beide Handschriften waren Teil der Sammlungen neuer glossierter Bücher und anderer Texte, die - ausgehend von den französischen Schulen - jetzt Verbreitung fanden, darunter auch die Lehrbücher des
Hugo von St. Viktor und von
Petrus Lombardus. Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, wie ab etwa
1140 Sammlungen biblischer Bücher mit Glosse zu zirkulieren begannen. Schließlich wurden diese Sammlungen durch Bibelabschriften ohne Glosse ergänzt. Thomas Becket (gest.
1170) etwa besaß neben seinen glossierten Büchern noch eine separate Bibel. Bemerkenswert ist, dass in dem Maße, in dem in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts das Format der glossierten Bibelbücher größer wurde, sich jenes der dazugehörigen Bibeln verkleinerte. Die glossierten Bücher wuchsen und die Bibeln schrumpften, bis beide um
1180 in etwa das gleiche Format erreichten, danach aber wieder größer bzw. kleiner wurden. Um
1200 waren glossierte Bücher der Bibel oft über 350 mm hoch, während manche einbändige Bibeln nur noch 200 mm maßen.
- Formatbeispiele
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Quelle: Hamel, S. 118
Um etwa 1225 hatte sich die Größe der Bibel auf ein handliches Taschenformat reduziert. Die hier gezeigte Bildtafel entspricht [in etwa] der tatsächlichen Größe.
Paris, BNF, Ms. lat. 16267 |
Auch wenn lange Formataufzählungen vom Eigentlichen ablenken mögen, wollen wir einige wenige Beispiele der verkleinerten Bibeln näher betrachten: die von ca. 1200 im Format 335 x 230 mm (Windsor, Eton College MS. 26), die von ca. 1210, 217 x 152 mm (Paris, Bibliotheque de Ste-Genevieve, Ms. 1185), eine von ca. 1215, 210 x 140 mm (London, BL, Add.MS. 15452) und schließlich die von ca. 1225, 160 x 110 (Paris, BNF, Ms. lat. 16267). Nach der Illuminierung zu urteilen, wurden all diese Handschriften vermutlich in Paris hergestellt. Das kleinere Format der Bibeln fiel auch damals schon als etwas Besonderes auf, denn es wurde kommentiert. Eine Handschrift wurde als "klein und gut" beschrieben, als sie um 1240 der Abtei Newenham in Devon überreicht wurde, eine weitere in einer Inschrift aus dem dreizehnten Jahrhundert als "klein und tragbar" (parva portatoria): Das Buch mit der Signatur Lille, Bibliotheque Municipale, Ms. 7 hat mit einer Größe von 211 x 152 mm zwar nicht gerade Taschenbuchformat, ist jedoch ohne Zweifel handlich.
- Die Schrift
Als sich zwischen dem Ende des zwölften und dem zweiten Viertel des dreizehnten Jahrhunderts das Format der Bücher allmählich verringerte, wurde auch die Schrift kleiner, was ebenfalls dazu beitrug, dass man nun Bände von handlicher Größe herstellen konnte. Eine weitere interessante Veränderung betraf die glossierten Ausgaben. In einem typischen glossierten Bibelbuch aus der Zeit um
1180 war der Bibeltext in der Mittelspalte in einer großen, energischen, eher altmodischen Schrift gehalten, die Marginalglossen dagegen in einer neuen, ziemlich verkürzten und kleinen Schrift. Da man erkannte, dass diese winzige Glossenschrift sich für kleinformatige Bibeln hervorragend eignete, benutzte man sie nicht mehr nur für die Kommentare, sondern für die neue Bibel selbst. Die ehemalige Glossenschrift wurde also für die gesamte Bibel übernommen, und die Kopisten wollten sich offenbar gegenseitig darin übertreffen, immer kleiner zu schreiben. Die gotische Schrift eignet sich für eine extreme Verdichtung, eine Tendenz, die durch die zunehmende Verwendung von Abkürzungen noch verstärkt wurde. Eine aus dem dreizehnten Jahrhundert stammende, winzige Bibel der Free Library von Philadelphia enthielt beispielsweise 55 Zeilen pro Seite und 20 Zeilen pro 2,5 cm - eine Zeile war demnach nicht viel mehr als einen Millimeter groß (MS. 39). Eine derart kleine Schrift konnte nur mit Hilfe eines Vergrößerungsglases geschrieben [und gelesen] werden. Die Schriftgröße der Bibeln wird im zweiten Viertel des dreizehnten Jahrhunderts bisweilen erwähnt, da sie offenbar eine Novität war. Als Kardinal Guala Bicchieri aus Paris nach Italien zurückkehrte und seine Bibliothek nach seinem Tod im Jahr
1227 in den Besitz der Abtei San Andrea in Vercelli überging, wurde eines der Bücher "als sehr kostbare kleine Bibel in Pariser Schrift" beschrieben. Den neuen Besitzern waren das Format des Buches und die Schriftgröße aufgefallen und sie brachten beides mit
Paris in Verbindung. Vier Jahre später bemerkten auch Mönche in Britannien beim Anblick einer neuen Bibel die Kleinheit der Schrift, denn als
Magister Adam, der Schatzmeister von Reims,
1231 der Abtei Paimpont eine Bibel überreichte, wurde sie im Schenkungsvertrag als "Bibel in winziger Schrift" beschrieben.
1247-
1248 besaß die Abtei Glastonbury bereits sieben Kopien der "vollständigen Bibel in kleiner Schrift", wie es im Katalog heißt.
- Vollbibel
Dies führt uns zu der zweiten, parallel dazu verlaufenden Entwicklung. Alle diese Bücher waren Vollbibeln, eine bemerkenswerte Tatsache, wenn wir sie mit dem Großteil der Bibelhandschriften der davor liegenden 1200 Jahre Christenheit vergleichen. In den vorangehenden Kapiteln haben wir den allumfassenden "Pandekten" kennen gelernt, eine Abschrift der gesamten Bibel in einem gigantischen Buch, das für außergewöhnliche und meist symbolische Zwecke angefertigt wurde. Beispiele dieser Raritäten wurden auf den Seiten 33 [s.
Codex Amiatinus] und 37-38 genannt. Bei den meisten Bibelhandschriften, die in allgemeinem Gebrauch waren, hatte es sich bisher um separate Bände oder Serien gehandelt, die jeweils einige Abschnitte der Bibel umfassten, beispielsweise den Pentateuch oder die Großen Propheten oder die neutestamentlichen Briefe. Zwischen etwa
1170 und
1210 wurden die verschiedenen Komponenten des Korpus in einem einzigen Band zwischen zwei Buchdeckeln zusammengefasst, und - noch wichtiger - dies wurde in Zukunft die Norm.
Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, hatten Gelehrte bereits im zwölften Jahrhundert versucht, die Frage des Bibelkanons erneut zu erörtern und Sammelbände einer vollständigen und definitiven Bibel zusammenzustellen. Es ist eine unter philosophischen Aspekten interessante Entwicklung, dass man nun das Wort Gottes abgrenzen und die eigentlichen Bibeltexte von den späteren Kommentaren trennen wollte. Einzelne Bände konnten in jeder beliebigen Ordnung aufbewahrt werden. Sobald die gesamte Bibel aber als Einheit eingeführt war, spielte die exakte Anordnung ihrer Teile eine wesentliche Rolle.
Vollbibel-Tabelle
Die einbändigen Pariser Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts umfassten im Allgemeinen:
- Den Oktateuch (Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium, Josua, Richter und Rut)
- I - IV Könige (I - II Samuel und I - II Könige in einer modernen Bibel)
- I - II Chroniken, gefolgt von dem kurzen apokryphen Gebet Manasses
- I Esra, II Esra (Nehemia in einer modernen Bibel), III Esra (II Esra in einer modernen Bibel)
- Tobit, Judit, Ester, Ijob
- Psalmen
- Die Weisheitsbücher (oder die Weisheit Salomos - Sprichwörter, Ecclesiastes, Hohelied, Das Buch der Weisheit und Ecclesiasticus = Jesus Sirach
- Die Großen Propheten (Jesaja, Jeremia und Klagelieder, Baruch und der apokryphe Brief des Jeremia in Baruch, Kapitel 6, Ezechiel und Daniel)
- Die Kleinen Propheten (Hosea, Joël, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi)
- I - II Makkabäer
- Die Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas und Johannes)
- Die Paulinischen Briefe (Römer, I - II Korinther, Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, I - II Thessalonicher, I - II Timotheus, Titus, Philemon und Hebräer)
- Apostelgeschichte
- Die Katholischen Briefe (oder kanonischen Briefe - Jakobus, I - II Petrus, I - II Johannes, Judas)
- Die Apokalypse (Die Offenbarung des Johannes in einer modernen Bibel).
Diese Reihenfolge der Bibelbücher kommt uns nicht ungewöhnlich vor, denn sie weist große Ähnlichkeiten mit einer heutigen Bibel auf. Kleinere Abweichungen vom heutigen Inhaltsverzeichnis stellen die Einfügung des Gebetes des Manasses nach II Chronik, die Einbeziehung von II Esra, aber nicht von IV Esra, und die Reihung der Apostelgeschichte zwischen den beiden Briefsammlungen dar. Tatsächlich war vieles neu an dieser Anordnung aus dem frühen dreizehnten Jahrhundert. Dass die Bücher der Chronik nach den Königen folgten, wirkt vertraut und ist auch logisch, denn es handelt sich dabei um fast fortlaufende Erzählungen über die Herrscher und Kriege des alten Israel, doch sie entspricht nicht der auch heute noch verwendeten Reihenfolge in der hebräischen Bibel, und man würde nicht erwarten, im zwölften Jahrhundert die Bücher der Könige und der Chroniken gemeinsam anzutreffen. In der Winchester-Bibel (etwa
1160) sind I - II Chronik, Ijob, Tobit, Ester und I - II Esra zwischen den Weisheitsbüchern und den Makkabäern angeordnet, die Großen und Kleinen Propheten befinden sich dafür zwischen den Königen und den Psalmen (Winchester Cathedral, MS. 17). In der
Kapuziner-Bibel des späten zwölften Jahrhunderts folgen I - II Chronik auf Rut, während sich Esra und die Bücher der Könige zwischen den Psalmen und den Weisheitsbüchern befinden (Paris, BNF, Mss. lat. 16743-6).
- Pariser Bibel
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Quelle: Hamel, S. 121
Im frühen dreizehnten Jahrhundert kämpften die Schreiber verzweifelt mit der Reihenfolge der Bibelbücher. Diese Liste aus dem zweiten Band einer zweibändigen Bibel von etwa 1220 zeugt lediglich von einer partiellen Änderung der Reihenfolge.
Privatsammlung |
Für die revidierte Anordnung der Texte des frühen dreizehnten Jahrhunderts wird auf die "Pariser Bibel", wie sie im Mittelalter bezeichnet wurde, Bezug genommen. Wir wollen den Ausdruck hier übernehmen, allerdings mit Vorbehalt, da er eine autorisierte Verbreitung durch die Pariser
Universität stärker impliziert, als es tatsächlich der Fall war. Die
Pariser Textanordnung des dreizehnten Jahrhunderts wurde anfangs eher aus praktischen Gründen denn als bewusste Neuerung eingeführt und sie folgte stärker der griechischen Tradition als der hebräischen. Viele frühere Versuche einer Korrektur der Bücheranordnung, wie jene von Stephan Harding für die Abtei Cîteaux, hatten für die hebräische Reihenfolge optiert, die den Text in Propheten und Hagiographen unterteilt, weshalb die Bücher der Könige und der Chronik weit voneinander getrennt waren. Der Pariser Text lässt sich in Zusammenhang mit den im
vorhergehenden Kapitel besprochenen, neuen Bibelkommentaren erläutern, welche die Notwendigkeit betonten, die Historie von der Prophetie zu trennen und zuerst alle historischen Ereignisse des Alten Testaments zu verstehen, bevor man sich mit der Allegorie auseinander setzt (siehe
S. 111 f.). Die Klassen, die in den Pariser Schulen unterrichtet wurden, hielten sich beim Studium der Bibelbücher zweifelsohne an diese Ordnung. Daher sind die Erzählungen der Frühgeschichte - Genesis, Exodus, Könige, Chroniken usw - in chronologischer Reihenfolge angeordnet, bevor die zeitloseren Bücher der Psalmen und der Propheten folgen.
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Quelle: Hamel, S. 122
Diese Bibel von etwa 1230 enthält zwischen dem Ende des Buches Maleachi und dem Beginn der Psalmen eine Anmerkung, die besagt, dass der neuen Anordnung der Bibelbücher zufolge sich die Makkabäer am Ende des Alten Testaments und die Psalmen nicht vor den Büchern Salomos befinden sollten.
London, BL, Harley MS. 1748 |
Die Plausibilität dieser Reihenfolge verblüffte offenbar viele Schreiber und Bibelbesitzer des dreizehnten Jahrhunderts. Verzweifelt bemühten sie sich, die Logik der neuen Anordnung zu begreifen und ihre Handschriften darauf abzustimmen. Viele Bibeln aus der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, besonders solche, die außerhalb von Paris kopiert wurden, deuten zumindest auf eine gewisse Unsicherheit hin. Die Bücher Esra und Teile von Ester und Daniel verursachten den Schreibern großes Kopfzerbrechen, weshalb man diese Abschnitte häufig auf den letzten Seiten des Alten oder Neuen Testaments findet, mit verzweifelten Anmerkungen bezüglich ihrer endgültigen Anordnung versehen. Die Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts enthielten häufig Listen mit der Anordnung der Bibelbücher, die sich zu einem verbreiteten Merkmal der Vorsatzblätter am Anfang oder Ende der Bibeln entwickelten. Die Leser haben die neue Reihenfolge wohl nicht intuitiv begriffen und sich offenbar nach Kräften bemüht, sie zu verstehen und damit umzugehen. Die englische Handschrift mit der Signatur London, BL, Harley MS. 1748 ist ein gutes Beispiel für eine Bibel der Zeit um etwa
1230. Sie wurde ursprünglich der "alten Paris Ordnung" entsprechend geschrieben, wie es im Kommentar heißt, und enthält lange Anmerkungen zur Anpassung an die neue Ordnung: etwa dass nach dem Buch Maleachi die Makkabäer das letzte Buch des Alten Testaments darstellen sollten, und die Psalmen, "entsprechend der neuen Anordnung der Bibelbücher" (fol. 260v), dem Buch der Weisheit vorausgehen sollten oder dass die Paulusbriefe auf die Evangelien zu folgen hätten und die Apostelgeschichte zwischen den Katholischen Briefen und der Apokalypse angesiedelt sein sollte - "der neuen Ordnung entsprechend" (fol. 305r), heißt es auch hier wieder, wobei die Formulierung an dieser Stelle nicht ganz korrekt ist. Die Leser hatten verstanden, dass es sich um eine neue Reihenfolge handelte und waren grundsätzlich bereit, diese anzunehmen. In der Geschichte der Bibel wurde damit eine textliche Neuerung wohl eher als Vorteil denn als Problem empfunden.
- Emendation
Die Pariser Reihenfolge der Bücher lässt sich als Entwicklung gut nachvollziehen. Viel schwieriger ist es, in Zusammenhang mit diesen neuen Bibeln textliche Korrekturen nachzuweisen. Historiker bezeichnen die Pariser Bibel zuweilen als "Edition", als sei der lateinische Text in einer revidierten Fassung kollationiert und neu herausgegeben worden. In den Handschriften findet sich diesbezüglich jedoch kein eindeutiger Hinweis.
1236 verkündete das
Generalkapitel der
Dominikaner in
Paris, dass bei der Emendation
[bessernde Eingriffe in einen falsch oder unvollständig überlieferten Text] von Bibeln ein
Correctorium oder
Correctiones Bibliae zu verwenden sei, was an eine Liste textlicher Verbesserungsvorschläge denken lässt. Die Bezeichnung ist jedoch irreführend. Die
Correctiones sind in Wirklichkeit kaum mehr als eine Liste kleinerer Abweichungen bestimmter Wörter, wie sie in verschiedenen Bibelhandschriften vorkommen, sie geben keinerlei Hinweis darauf, welche Auslegung die bessere wäre. Diese Haltung ist typisch für das Gelehrtentum des dreizehnten Jahrhunderts, die Bibelgelehrten wagten nicht, Entscheidungen auf eigene Verantwortung zu treffen. Selbst der große Kommentator
Stephen Langton (gest.
1228) unterbreitete mit Vorliebe mehrere Vorschläge für mögliche alternative Auslegungen von Bibelworten, auf die er durch Vergleich der Handschriften oder durch logische Schlussfolgerungen gekommen war, doch weigerte er sich, die eine oder andere Deutung zu favorisieren. Die Wahl zwischen mehreren Alternativen ist charakteristisch für die scholastische Methode des Mittelalters und spiegelt sich häufig in Bibelhandschriften dieser Zeit wider. Die sich im Eton College befindende Handschrift MS. 25 enthält beispielsweise einige Wortalternativen, die mit den Buchstaben "h", "g" oder "a" rot markiert sind. In einer Anmerkung wird erklärt, dass diese Buchstaben Auslegungen kennzeichnen, die im Hebräischen, Griechischen oder in nicht näher spezifizierten alten Quellen (
antiqui) gefunden wurden. Der Autor der Anmerkung konnte bis auf Latein vermutlich keine der alten Sprachen und hatte seine abweichenden Auslegungen bei
Hieronymus oder einem anderen Bibelkommentator gefunden. In vielen Handschriften werden am Rand mehrere Auslegungen angeführt, die jeweils durch das Wort
vel - entweder oder eingeleitet werden. So enthält etwa die Handschrift mit der Signatur London, BL, Add. MS. 40006 Berichtigungen, zumindest bis fol. 108r, wo der Kommentator anmerkte, dass seine Korrekturen bis Richter 9,8 reichen. Für Genesis 3,23 schlägt er zwei mögliche Auslegungen vor: "Gott der Herr schickte ihn aus dem Garten von Eden weg ..." (gemeint ist Adam, der aus dem Paradies vertrieben wird). In der Handschrift steht:
Emisit eum. Bei Hieronymus heißt es unserem Kommentator zufolge
Emisitque und in der Septuagina
Et emisit. Er könnte die Septuaginta aus der lateinischen Übersetzung des Origeneskommentars zur Genesis gekannt haben. Die Differenz ist unwesentlich und die Bedeutung identisch: Interessant ist, dass der Korrektor es vorzog, sich nicht für die eine oder die andere Alternative zu entscheiden.
- Alphabetische Wortliste
Im vorhergehenden Kapitel sind wir auf den Ursprung der alphabetischen Liste von Eigennamen in der Bibel eingegangen, die als
Interpretationes nominum hebraicorum bekannt ist. Diese wurde am Ende des Bibeltextes nach der Apokalypse hinzugefügt und ist ab etwa
1230 ein Standardmerkmal der Bibel. In der Handschrift mit der Signatur Paris, BNF, Ms. lat. 36 wird diesem Text ein Vorwort vorangestellt, in dem die semantischen Schwierigkeiten bei der Transliteration der hebräischen Schrift erläutert werden, wobei der Hoffnung Ausdruck verliehen wird, diese Bemühung möge einen Beitrag zur Bekehrung der Juden zum Christentum leisten. Das Vorwort ist mit
1234 datiert (fol. 355v). Die allgemein verbreitete Version der
Interpretationes nominum hebraicorum beginnt mit "Aaz apprehendens ...", eine kürzere Version, die manchmal in England anzutreffen ist, beginnt mit "Aaron mons fortis ..." In gewisser Weise bieten auch die
Interpretationes zwei alternative Auslegungen für ein einzelnes Wort. Man kann den hebräischen Namen als Eigennamen einer Person oder eines Ortes oder aber als Übersetzung eines Wortes oder einer Wortgruppe verstehen.
- Prologe
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Quelle: Hamel, S. 123
Jedes Bibelbuch wurde systematisch von einem Prolog eingeleitet, der jenen des hl. Hieronymus ergänzt. Der Prolog zur Apokalypse stammt aus dem Werk des 1154 verstorbenen französischen Theologen Gilbert de la Porrée.
Privatsammlung |
Etwa zu dieser Zeit wurden die
Prologe standardisiert. Viele Bücher der lateinischen Bibel begannen traditionell mit kurzen Vorworten zum Text oder zum Autor, oft handelte es sich dabei um Auszüge aus den Schriften des heiligen
Hieronymus. Im ersten Drittel des dreizehnten Jahrhunderts wurden diese in den neuen einbändigen Bibeln vereinheitlicht, wobei manche ausgeklammert, andere hinzugefügt wurden, wie (beispielsweise) ein neuer Prolog zur Apokalypse, der aus den Schriften von Gilbert de la Porrée (gest.
1154) stammte. Eine typische Bibel, wie sie in Paris um etwa
1250 angefertigt wurde, enthielt eine Sammlung von 64 Prologen, darunter mehrere ganz neue. Die Prologe wurden mit den dazugehörigen Texten alsbald so eng verbunden, dass der Eindruck entstand, sie seien ein Teil der Bibel selbst. Doch auch umgekehrt konnte dieser Eindruck entstehen. Die vier einleitenden Verse des Lukasevangeliums, beginnend mit "Quoniam quidem ...", wurden oft so geschrieben, als wären sie ein mit den Worten "Fuit in diebus ..." (Lukas 1,5) beginnender mittelalterlicher Prolog zu einem Evangelium. Tatsächlich aber sind die Verse 1-4 authentische Worte der Bibel.
- Kapitelnummern
Eine der nachhaltigsten Entwicklungen des frühen dreizehnten Jahrhunderts war die Einführung der standardisierten, heute noch verwendeten Kapitelnummern in der ganzen Bibel. Zwar war es nichts unbedingt Neues, die Schriften, sei es zum Nachschlagen oder für liturgische Lesungen, in überschaubare Passagen aufzuteilen - solche Unterteilungen finden sich bereits in griechischen Bibeln des vierten oder fünften Jahrhunderts. Auch die
Kanontafeln in den Evangelienbüchern dienten dem Zweck, leichter Querbezüge zu Parallelstellen des Textes herstellen zu können. In zahlreichen großen karolingischen und romanischen Bibeln gibt es auch so genannte Capitula-Listen, in denen die Überschriften nummerierter Abschnitte der gesamten Bibel erfasst sind. Diese waren in den diversen Handschriften jedoch oft willkürlich und widersprüchlich. Die Kapitel romanischer Bibeln waren häufig kurz und unpraktisch. Exodus beispielsweise war manchmal in bis zu 130 kleine Abschnitte unterteilt (heute hat es 40 Kapitel), und selbst das Markusevangelium hatte nahezu 50 Kapitel (heute 16).
Die Kommentare hatten im späten zwölften Jahrhundert das Bedürfnis nach standardisierten Kapitelnummern geweckt. Ein früher patristischer Autor, der im Auftrag von Mönchen schrieb, konnte darauf vertrauen, dass seine Leser die Bibel gut genug kannten, um allein aufgrund des Zitierens einiger weniger Worte die entsprechende Passage zu erkennen und zuzuordnen. Doch die Gelehrten, welche die Bibel an den ersten Universitäten unterrichteten, machten vermutlich die Erfahrung, dass sie diese Kenntnis von ihren Studenten nicht erwarten konnten. Petrus Cantor (gest.
1197), der einer der ersten Generationen von Theologiemagistri in Paris angehörte, verwendete in seinen Bibelkommentaren Kapitelverweise, die einem von ihm selbst entworfenen Nummerierungsschema folgten. Sein Nachfolger,
Stephen Langton, gebrauchte häufig ein System, das dem einer modernen Bibel so ähnlich war, dass vermutet wurde, Langton habe die Kapitelnummern, die sich zu einem Charakteristikum der Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts entwickelten, selbst erfunden. Sie tauchen in moderner Ausprägung beispielsweise in einer Handschrift von Stephen Langtons Kommentar zu den Kleinen Propheten aus dem Jahr
1203 auf (Troyes, Bibliotheque Municipale, Ms. 1046). Tatsächlich wird in mehreren Handschriften die Nummerierung der Kapitel Stephen Langton zugeschrieben, der entweder namentlich oder als Erzbischof von Canterbury angeführt wird, ein Amt, das er ab
1207 innehatte (z.B.: Oxford, Magdalen College, MS. 168, fol. 51r und Paris, BNF, Ms.lat. 14417, fol. 125r). Das bekannte System der Kapitelnummerierung jedes Bibelbuches hat sich zweifelsohne im ersten Viertel des dreizehnten Jahrhunderts an den Universitäten von Paris herausgebildet.
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Quelle: Hamel, S. 125
Beide Illustrationen zeigen den Beginn von Jesus Sirach 46. Im ersten Bild (ca. 1229) ist in der Mitte eine kleine Initiale der Zeile eingefügt, die Kapitelnummer ist am Rand vermerkt. Auf dem zweiten Bild (ca. 1270) besteht ein deutlicher Abstand zwischen den Kapiteln, Initiale und Kapitelnummer sind in den Text integriert.
Privatsammlung |
Die Kapitelnummern haben die Bibelleser und -schreiber ab etwa
1220 beschäftigt. Ihre Verwendung verbreitete sich rasch in ganz Europa. Alte Bibeln wurden dem neuen System entsprechend nummeriert, neue Abschriften bereits mit der Kapitelunterteilung angefertigt. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts kam es vor, dass ein Kapitel mitten in der Zeile in das nächste überging, die Kapitelnummern waren am Rand vermerkt. In den
1230er Jahren war dieses Verfahren bereits gang und gäbe. Manche Schreiber hatten Probleme mit den Zahlen, die Nummern am Rand zeugen oft von mehreren verzweifelten Korrekturen und Neupositionierungen. Sobald die neuen Kapitelnummern akzeptiert waren, verschwanden die alten
capitula-Listen und Kanontafeln, da nun die Querverweise nicht mehr stimmten. Um etwa
1240 entsprachen die Kapiteleinteilungen im Allgemeinen der heute bekannten Form und waren sehr deutlich erkennbar. Die Schreiber begannen nun jedes neue Kapitel mit einer neuen Zeile. So war Platz für eine große Kapitelinitiale und die Kapitelzahlen, die generell in Rot oder Blau gehaltenen römischen Ziffern geschrieben wurden, konnten in den Textblock rücken.
- Kolumnentitel
Ähnliche rote und blaue Buchstaben tauchten an den oberen Rändern der Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts auf. Dies waren die Kolumnentitel, die den Namen des Bibelbuches über der Einleitung vermerkten, wobei die eine Worthälfte auf der linken Seite und die andere auf der rechten stand. Kolumnentitel sind sehr praktisch, um sich in einer Bibelhandschrift zurechtzufinden. Wer Mitte des dreizehnten Jahrhunderts eine Bibel an einer beliebigen Stelle aufschlug, konnte an den farbigen Bannern sofort erkennen, in welchem Buch und bei welcher Kapitelnummer er sich befand. Die oben erwähnte Bibel aus dem Jahr 1236 (Paris, BNF, Ms. lat. 36) geht noch einen Schritt weiter. Sie verfügt über eine durchgehende, originale Paginierung in roter Tinte, was zu dieser Zeit eine außergewöhnliche Rarität und Verbesserung war. Eine Anmerkung aus dem Mittelalter macht gleich zu Beginn auf die Paginierung aufmerksam, wobei darauf hingewiesen wird, dass diese es den Lesern erleichtern soll, jede beliebige Seite zu finden. Tatsächlich erübrigten sich die Seitenzahlen, sobald alle anderen Hilfsmittel verfügbar waren, weshalb die meisten mittelalterlichen Bibeln auch nicht paginiert sind.
- Die Psalmen
Der einzige Teil der Bibel, der im frühen dreizehnten Jahrhundert nicht verändert wurde, war das Buch der Psalmen. In keiner Bibel aus dem dreizehnten Jahrhundert waren die 150 Psalmen nummeriert, stattdessen wurden sie nach ihren ersten Worten bezeichnet. Einige dieser Titel sind nach wie vor gebräuchlich, wie etwa die Bezeichnung
Venite für Psalm 94. Am oberen Rand der Seiten mit den Psalmen fehlen in der Pariser Bibel die Kolumnentitel. Der obere Seitenrand ist einfach weiß belassen. Dafür ist der Text farblich gestaltet, da der Anfangsbuchstabe eines jeden Psalms im Allgemeinen mit roten und blauen Initialen verziert ist. In anderen Bibelbüchern des dreizehnten Jahrhunderts sind die Verse, abgesehen von den mit roter Farbe dekorierten Anfangsbuchstaben, nicht hervorgehoben.
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Quelle: Hamel, S. 128
Die Psalmen hatten in den Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts eine Sonderstellung. Hier beginnen sie auf der rechten Seite und weisen weder Kolumnentitel noch eine Nummerierung auf. Jeder Vers ist durch eine kolorierte Initiale gekennzeichnet.
Privatsammlung |
Die künstlerische Gestaltung der Psalmen unterscheidet sich so auffällig von den anderen Bibelbüchern, dass es einen Grund dafür gegeben haben muss, warum sie nicht in die Reform einbezogen wurden. Im Kanon der mittelalterlichen Bibel stellten die Psalmen immer einen außergewöhnlichen Text dar, weil der Psalter auch unabhängig von der Bibel als liturgisches Buch verbreitet war. Es könnte sein, dass in den ursprünglichen Bibelabschriften, die für die Kennzeichnung der Kapitelnummern herangezogen wurden, die Psalmen nicht enthalten waren. In nicht wenigen Bibeln, vor allem in Abschriften, die in England hergestellt wurden, sind die Psalmen tatsächlich ganz ausgeklammert. Ein frühes Beispiel ist die schon erwähnte, einbändige Abschrift, die für Simon, von
1167 bis
1183 Abt von St. Albans, hergestellt wurde (Cambridge, Corpus Chisti College, MS 48). Beispiele aus dem dreizehnten Jahrhundert sind neben vielen anderen: London, BL, Royal MS. 1.A.III und Harley MSS. 1034, 1661 und 1287 sowie Oxford, Bodleian Library, MSS.Auct. D.5.6, Auct. D.5.18 und Rawl. G8, die alle in England geschrieben wurden. Vielleicht hatte
Stephen Langton, der ja Engländer war, oder ein anderer Gelehrter aus seinen Kreisen die neue Bibel anhand einer Abschrift entworfen, welche die Psalmen nicht enthielt. In diesem Fall wäre eine einzige Mustervorlage mit dem neuen Seitenentwurf Grundlage für alle anderen Abschriften gewesen. Spätere Schreiber hatten so großen Respekt vor der neuen Pariser Bibel, dass sie die Psalmen nicht modernisierten und unverändert ließen. Der Psalter stellt demnach in allen Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts eine Ausnahme dar.
- Benutzerfreundlichkeit
Abgesehen vom Psalter war die Bibel bereits Mitte der 30er Jahre des dreizehnten Jahrhunderts zweifellos ein sehr einfach zu benützendes Buch geworden, hatte sich gewissermaßen zu einem Nachschlagewerk entwickelt, das sich bequem konsultieren ließ. Sämtliche neu aufgenommenen Hilfestellungen entsprachen der im späten zwölften Jahrhundert vorherrschenden Tendenz, Texte zugänglicher zu machen, ein Trend, der nicht auf Frankreich beschränkt war. Die Schreiber setzten sich im späten zwölften und frühen dreizehnten Jahrhundert intensiv mit Methoden auseinander, um Informationen zu ordnen und zu arrangieren, damit sie rasch und einfach abrufbar waren. Merkmale wie die logische Reihung der Texte, die Kapitelnummerierung, alphabetische Konkordanzen, Inhaltsverzeichnisse, Kolumnentitel usw. waren typisch für viele Bücher jener Zeit, insbesondere für Texte, die an den Schulen Verwendung fanden. Das Standardlehrbuch für Recht und Theologie, das
Decretum von
Gratian und die
Sentenzen von
Petrus Lombardus machen sich zahlreiche ähnliche Hilfsmittel zunutze, um die Verwendbarkeit ihrer Bücher zu erleichtern. Die Bibel hatte im ersten Viertel des dreizehnten Jahrhunderts bestimmt den damals neuesten Stand der Entwicklung in der Buchgestaltung erreicht, war aber nicht der einzige Text, der in einem benutzerfreundlichen Format erhältlich war.
Nach wie vor ist ungeklärt, welche Rolle die Pariser Lehrer dieser Zeit bei der redaktionellen Bearbeitung der Bibel spielten. Viele Neuerungen der Pariser Bibel waren aus der Verwendung von Kommentaren hervorgegangen, die sich selbst wiederum aus den frühen Theologieschulen entwickelt hatten - dies gilt als sicher. Zwar wird der Prozess der Bibelerneuerung beharrlich weiter dem legendären Stephen Langton zugeschrieben, doch seine Beteiligung lässt sieh nicht definitiv nachweisen. Es spricht vieles dafür, dass diese Entwicklungen von Paris ausgingen, doch endgültige Sicherheit darüber gibt es nicht.
- Paris
Sehen wir uns das
Paris des frühen dreizehnten Jahrhunderts einmal näher an. Paris hatte um das Jahr
1200 etwa 50000 Einwohner, Mitte des dreizehnten Jahrhunderts waren es bereits mehr als 150000. Paris war der Sitz der königlichen Verwaltung, und die neue gotische Kathedrale Notre-Dame war der schönste Sakralbau Frankreichs. Doch dürfen wir die Organisation der Pariser
Universität zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts nicht überschätzen oder uns vorstellen, dass eine hoch entwickelte Fakultät für Theologie im heutigen Sinne existierte. Es gab nach wie vor kaum mehr als ein Grüppchen von Lehrern, die in der Nähe der Kathedrale von Notre-Dame und in den Häusern
augustinischer Kanoniker, insbesondere in St. Victor und Ste. Genevieve, Privatstunden und -unterricht erteilten. Die Schulen waren nur einer der Gründe dafür, dass Paris als größte und prosperierendste Stadt Nordeuropas sich die Vorherrschaft über andere Städte sicherte. Sämtliche Besucher der Stadt - Kleriker, königliche Beamte, Bischöfe und päpstliche Gesandte, Rechtsanwälte, Händler und Knechte - haben sich unter die
Studenten gemischt, die sich durch die enge Rue Neuve Notre-Dame, zwischen den königlichen Palästen und der Kathedrale auf der Ile da la Cité, bewegten. In dieser Straße, unmittelbar gegen über dem Westeingang von Notre-Dame, haben Anfang des dreizehnten Jahrhunderts vermutlich die ersten Buchläden aufgemacht. Den Büchern nach zu schließen, die auf diese Initiativen zurückgingen, zählte die einbändige Bibel zu den ersten Artikeln, die in den Buchläden zum Kauf angeboten wurden.
- Buchhandel
Den Buchmalern im Paris des ersten Viertels des dreizehnten Jahrhunderts werden erhaltene Handschriften aller Art zugeschrieben. Kunsthistoriker ordnen sie aufgrund des Stils der Illumination mehreren verschiedenen "Ateliers" zu, so unpräzise dieses Wort auch sein mag. Wir können nicht wissen, ob die Produkte eines bestimmten Ateliers mit jenen eines bestimmten Buchhändlers identisch sind. Nichtsdestoweniger können wir aus der stilistischen Zuordnung der Handschriften ersehen, dass der Buchhandel in Paris nicht nur die an den Schulen wirkenden Gelehrten, sondern einen großen Markt versorgte. Zu den Produkten eines Ateliers, das vermutlich um
1210-
1220 aktiv war, zählen fünf Bibeln, eine prachtvolle Handschrift über Astronomie, eine Sammlung medizinischer Texte, eine Sammlung glossierter Bibelbücher und eine Abhandlung in französischer Sprache über die Kunst des Regierens. Unter den erhaltenen Handschriften aus einem anderen Atelier von etwa
1215-
1225 befinden sich etwa ein Dutzend Bibeln, mehrere Glossenwerke, ein Missal, ein monastisches Lektionarium und ein Psalter. Die Gestaltung dieser Bücher lässt den Schluss zu, dass der frühe Pariser Buchhandel sowohl die Kirche als auch den Hof und die Schulen mit Büchern belieferte. Tatsächlich enthält keine der erhaltenen Bibeln des frühen dreizehnten Jahrhunderts Hinweise darauf, dass sie sich im Besitz von Studenten oder Lehrern befand. Wenn die Besitzer zu identifizieren sind, handelt es sich um Domherren, Bischöfe, Kardinäle und andere hochrangige Herren. Wir haben bereits von den Bibeln gesprochen, die Kardinal Guala Bicchieri (gest.
1227) und Adam, der Schatzmeister der Kathedrale von Reims, im Jahr
1231 besaßen. Troyes, Bibliotheque Municipale, Ms. 577, ein Produkt des zuvor erwähnten ersten Ateliers, gehörte Gamier de Rochefort, dem Bischof von Langres (gest.
1226 oder bald danach). Diese Männer waren vermutlich typisch für die Käuferschicht einbändiger Bibeln im ersten Drittel des dreizehnten Jahrhunderts in Paris.
- Die Bettelmönche
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Quelle: Hamel, S. 131
Dieses Bild aus dem späten vierzehnten Jahrhundert zeigt den hl. Franziskus mit Kreuz und Bibel beim Predigen.
Privatsammlung |
Die Entwicklung der Bibel des dreizehnten Jahrhunderts hätte um
1230 sehr leicht ein Ende finden können. Zu dieser Zeit war sie bereits ein Einzelband, im Durchschnitt ungefähr 250 x 215 mm groß, mit in einer bestimmten Reihenfolge geordnetem und nummeriertem Text. Die Gliederung entsprach der vieler anderer, ausgezeichnet gemachter Nachschlagewerke jener Zeit. Offenbar war es möglich, professionelle Schreiber in Paris mit Abschriften zu beauftragen. Wohlhabende Herren scheinen die Handschriften der einbändigen Bibel in Paris erworben und in ihre Heimatländer mitgenommen zu haben. Das neue Pariser Format wurde bewundert und imitiert. Und damit hätte, wie erwähnt, die Geschichte der Bibelerneuerung ihr Ende finden können. Doch da erschienen die
Bettelmönche auf dem Plan. Das Wirken der
Dominikaner und
Franziskaner in
Paris hatte eine Modernisierung und Popularisierung der Bibel zur Folge, die ihr allmählich eine Vorrangstellung vor allen anderen Texten des dreizehnten Jahrhunderts sicherte.
Die
Bettelorden sind eine Erscheinung des dreizehnten Jahrhunderts. Im Unterschied zu anderen Mönchen lebten die Bettelmönche nicht in Gemeinschaften, sondern reisten wie die Apostel von Ort zu Ort und predigten das Wort Gottes, wobei sie ihren Lebensunterhalt von den milden Gaben gläubiger Christen bestritten. Sie verzichteten auf jeden materiellen Besitz. Die beiden wichtigsten Bettelorden jener Zeit waren die Dominikaner und die Franziskaner. Ersterer wurde vom hl.
Dominikus (gest.
1221) gegründet und konzentrierte sich auf die Lehre und Bekehrung der Ketzer. Sein lateinischer Name lautete
ordo fratrum praedicatorum, also Predigerorden. Die Franziskaner oder
ordo fratro minorum, der Minderbrüder, wurde vom heiligen
Franz von Assisi (gest.
1226) gegründet, der persönliche Frömmigkeit und ein von Einfachheit geprägtes Leben anstrebte. Bei beiden Orden standen öffentliche Predigten im Zentrum ihrer Aktivitäten. Die Dominikaner gründeten bereits
1229 Schulen in Paris, die Franziskaner im Jahr
1231. Um
1230 unterrichteten die Dominikaner ihre Bettelmönche im Rahmen der Pariser Fakultät für Theologie.
- Vorzüge der neuen Bibel für die Bettelorden
Die neue einbändige Pariser Bibel war für die Arbeit der Bettelmönche ideal. Bereits
1220 erwähnte Papst
Honorius III. die
Dominikaner in Zusammenhang mit ihrem Studium der Heiligen Schrift in
Paris. Es war nur natürlich, dass sie das vor Ort erhältliche Format der Bibel für ihr Wirken bevorzugten. Sie wussten die Vorzüge dieser Bibel so zu schätzen, als hätten sie selbst sie entwickelt. Vor allem aus vier Gründen entsprach die Pariser Bibel den Bedürfnissen der Bettelmönche: Sie war tragbar, sie hatte den Charakter eines Standardwerks, sie war als Nachschlagewerk geeignet und käuflich zu erwerben. Die Bettelmönche waren ausschlaggebend dafür, dass jedes dieser Merkmale zu einem allgemeingültigen und bleibenden Charakteristikum der Bibeln wurde. Gehen wir auf die vier Punkte im Einzelnen ein.
- 1. Tragbarkeit
Die
Bettelmönche unternahmen ausgedehnte Reisen. Mitte des dreizehnten Jahrhunderts gab es vermutlich keinen Teil Europas, in dem sie noch nicht gepredigt hätten. Gegen Ende des Jahrhunderts waren sie nach China [vgl.
Kapr] und Nordafrika vorgedrungen. Für jemanden, der alles, was er besaß, in seinen Taschen bei sich trug, war es wichtig, dass die Bücher sehr klein waren. Die Bücher der mittelalterlichen Bettelmönche, besonders die der
Franziskaner, sind heute leicht an ihrem Format erkennbar. Die Predigtbücher, Bekenntnisschriften, Breviere usw. wurden im dreizehnten Jahrhundert kleiner und kompakter, um sie auf die Bedürfnisse der reisenden Bettelmönche auszurichten. Die Bibel hatte sich aus dem Konvolut mehrerer Foliobände
[Buchformat in der Größe eines halben Bogens (gewöhnlich mehr als 35 cm); Zeichen: 2º] von
1160 zu dem einbändigen Quartformat
[Buchformat in der Größe eines Viertelbogens, das sich durch zweimaliges Falzen eines Bogens ergibt; Zeichen: 4°] von
1230 entwickelt, womit sie in die Satteltasche eines Bischofs passte, aber nicht in die Kuttentaschen eines Bettelmönchs. Erst das handliche Taschenformat der Pariser Bibel wurde den Ansprüchen der Bettelmönche gerecht.
Die Schrift wurde winzig, das heißt, es wurde vermutlich mit der Feder eines ganz kleinen Vogels geschrieben, die so fein wie möglich gespitzt war. Die Kürzungen - Kontraktionen und Abbreviaturen - waren radikaler und konsequenter als zu jeder anderen Zeit in der Geschichte der europäischen Schrift. Kaum ein Wort einer Bibel aus der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts ist ausgeschrieben. Um etwa
1240 wurden die Bibelseiten erstaunlich klein, eine vollständige Bibel aus der Zeit um
1250 findet in jeder Manteltasche Platz. Die Schreiber reduzierten den Umfang der Bücher, indem sie Pergament von nie da gewesener Zartheit verwendeten. Eine Bibel aus dem dreizehnten Jahrhundert mochte an die 400 Seiten haben und doch nicht dicker sein als viele der heutigen Taschenbücher. Das außergewöhnlich dünne und seidige Pergament wird zuweilen als Jungfernpergament bezeichnet, da man es aus der Haut neugeborener oder ungeborener Kälber gewinnen konnte. Jedoch war es wohl eher ein Hinweis auf die Qualität als auf die tatsächliche Herkunft des Materials, da dieses Pergament, vor allem in
Paris und
Bologna, in großen Mengen produziert wurde. Vermutlich wurde die Haut hierfür in mehrere Schichten aufgespalten, oder einfach nur wieder und wieder abgeschabt, bis man eine Schreibgrundlage erhielt, die so dünn und gewichtslos war wie modernes Seidenpapier, dabei aber opak und weiß. Das Jungfernpergament des dreizehnten Jahrhunderts eignete sich ideal für die Herstellung kleiner Handschriften, hei denen die gesamte Bibel in einem einzigen Band Platz fand.
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Quelle: Hamel, S. 132
Die Bibeln der Bettelmönche enthielten Kalender. Dieses Exemplar gehörte vermutlich einem Dominikanermönch, weil das Fest des hl. Dominikus am 5. August in roter Tinte hervorgehoben ist.
Privatsammlung |
Vorbild für die Taschenbibel war offenbar das Brevier, das wichtigste Gebetbuch jedes Klerikers, also auch der Bettelmönche. Das Wort "Brevier" leitet sich von
breviarium (Abkürzung) ab, ein Brevier wurde im mittelalterlichen Latein oft auch
portiforium genannt, tragbares Buch. Im Katalog einer privaten Bibliothek in Lüttich aus dem Jahr
1269 werden zwei Objekte, nämlich die Bibel und das Brevier, als
manuale, Handbücher, beschrieben. Manche Bibeln der Bettelmönche enthielten auch gekürzte Missale, sodass sie von ihren Besitzern darüber hinaus als liturgische Bücher verwendet werden konnten. Nicht wenige der winzigen Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts umfassen liturgische Kalender, was sie ebenfalls den Brevieren und Missalen zuordnen lässt. Aus den liturgischen Kalendern können wir ersehen, welche Heiligen von den Besitzern der Handschriften besonders verehrt wurden, außerdem können wir feststellen, dass fast jeder Kalender in einer Bibel aus dem dreizehnten Jahrhundert entweder
dominikanisch oder
franziskanisch war. Das Wanderleben der
Bettelmönche spiegelt sich also in den tragbaren Bibeln deutlich wider.
- 2. Standardwerk
Der zweite Grund, warum die
Bettelmönche Gefallen an der Pariser Bibel fanden, ist ihre Maßgeblichkeit. Dieser Punkt war vor allem für die Dominikaner bedeutsam, die ihren Orden zur Bekämpfung der Häresie gegründet hatten.
Gregor IX. gab den Dominikanern den Auftrag, die
Albigenser zu bekämpfen, eine häretische Bewegung im Südwesten Frankreichs, welche die buchstäbliche Wahrheit weiter Teile der Bibel, insbesondere des Alten Testaments, anzweifelte. Die um
1230 kursierende Bibel enthielt den gesamten anerkannten und überlieferten Text der Heiligen Schrift in einem Band. Die Bettelmönche waren sich schnell bewusst, welch symbolischen Wert ein dreidimensionaler Gegenstand darstellte, der die Gesamtheit des Wortes Gottes repräsentierte. Und so waren es die Dominikaner, die die
Correctiones einführten, wie wir gesehen haben, keine Korrekturen im eigentlich Sinn, sondern vielmehr ein Versuch, Verständlichkeit und Konsistenz der Bibel zu gewährleisten. Europa sah sich damals zum ersten Mal mit einer häretischen Bewegung aus den eigenen Reihen konfrontiert. Die Antwort der Bettelmönche darauf war ein Buch - die Bibel nämlich, die Autorität verkörperte. Sie hat sie auf ihren Reisen begleitet, sie wurde hergezeigt und verschenkt und zweifelsohne auch auf der Kanzel verwendet. Sie brachten die Definition der Heiligen Schrift als einer heiligen Einheit in fast jedes Dorf Europas, ein Vermächtnis, das nach wie vor Gültigkeit hat.
- 3. Nachschlagewerk
Die dritte Besonderheit der Pariser Bibel - für die
Bettelmönche ein großer Vorteil - bestand darin, dass sich der Text als Nachschlagewerk eignete. Wir haben gesehen, wie der ursprüngliche Apparat aus Kapitelnummerierung und Überschriften sich aus den Bibelstudien in den Vorlesungssälen entwickelt hat. Es war einfach, in der Pariser Bibel Querverweise zu finden und zu zitieren, und die Bettelmönche ersannen neue Methoden, um die Bibel nach Worten und Themen zu durchforschen. Ihre Anwendung verlangte jedoch die Standardisierung der Kapitelnummern. Die
Dominikaner im Pariser Kloster St. Jacques unter der Führung von Hugo von St. Cher (gest.
1236) erarbeiteten eine umfangreiche Wortkonkordanz der Bibel, die offenbar ab
1239 in Gebrauch war. Dabei wird jedes Wort auf ein Bibelbuch und eine Kapitelnummer bezogen, und jedes Kapitel dann in sieben Teile unterteilt, die durch die Buchstaben "a" bis "g" gekennzeichnet sind. In den
1280er Jahren hatten die Dominikaner zwei weitere Versionen ihrer Konkordanz ausgearbeitet. Ein sehr ähnliches Themenwörterbuch wurde vermutlich auch von den
Franziskanern begonnen, die
Concordantiae Morales Bibliorum, zusammengestellt um etwa
1240. Auch sie verwendet die Kapitelnummern der Pariser Bibel und nimmt eine alphabetische Untergliederung der Kapitel vor. Es war nicht wirklich nötig, diese Buchstaben des Alphabets in Bibelhandschriften einzufügen, da man die Kapitel auch gedanklich in Textabschnitte unterteilen konnte; ganz wichtig aber war, dass Bibeln mit konsistenten Kapitelnummern verwendet wurden.
- Predigten und Publikum
Die
Bettelmönche gebrauchten die Bibeln für ihre Predigten, überhaupt basierten alle mittelalterlichen Predigten auf Bibellesungen und Bibelzitaten. Die Themen wurden auf den Vorsatzblättern und an den Rändern der Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts notiert. Häufig beinhalten die Bibeln zusätzlich Listen mit Lesungen für jeden Sonn- oder Feiertag, Listen, die Buch- und Kapitelverweise und die ersten Worte der jeweiligen Lesung angaben. Die Schriftlesung gab oft das Thema einer Predigt vor. Zuweilen lässt sich allein aus diesen Listen ersehen, ob die betreffende Bibel einem Bettelmönch gehörte. Eine kleine Bibel aus dem dreizehnten Jahrhundert, die sich heute im Besitz der Pfarrkirche von Appleby Magna in Leicestershire befindet, enthält Tabellen mit Lesungen für einige wenige Feiertage, wie etwa für den Tag des hl.
Franziskus. Der Besitzer war demnach vermutlich
Franziskaner. Darüber hinaus sind Lesungen aufgelistet, die sich für Predigten vor einem speziellen Publikum eigneten, wie etwa vor "Lehrern und Gelehrten" oder "armen Leuten". Die Bettelmönche haben zweifellos in der Mundart ihrer Zuhörer gepredigt, ihre Texte aber der lateinischen Bibel entnommen. Ein Bettelmönch konnte über jedes Thema predigen, vorausgesetzt er fand dazu geeignete Bibelpassagen. Durch das Zitieren von Kapitelnummern (wie bei späten mittelalterlichen Predigten üblich) verlieh er seiner Predigt Glaubwürdigkeit und Autorität. Ein
Mönch oder Priester, der vor seinen Klosterbrüdern bzw. vor einem gelehrten Publikum predigte, konnte davon ausgehen, dass seine Zuhörer die Quelle der Bibelzitate kannten. Ein Bettelmönch hingegen, der auf dem Marktplatz stand und vor einfachen Leuten predigte, konnte sich nicht mit allgemeinen Anspielungen auf die Heilige Schrift begnügen. Sektenwerber, die heute von Tür zu Tür ziehen, gehen in ähnlicher Weise vor, indem sie in Windeseile ein Bibelzitat an das andere reihen und Kapitel und Verszahlen herunterrasseln. Die Bettelmönche des dreizehnten Jahrhunderts verwendeten die Kapitelzahlen für ihre Zwecke und verbreiteten mit ihren Predigten die Nützlichkeit der Zahlen in ganz Europa. Ein Zuhörer, der zwar die Bibel kannte, aber den Bettelmönchen in der raschen Zitierung der Kapitel nicht folgen konnte, war sofort im Nachteil. Kein Wunder, dass sich die Pariser Kapitelnummern auch aus diesem Grund überall rasch durchsetzten.
- 4. Käuflichkeit
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Quelle: Hamel, S. 134
Durch Zufall blieb in dieser Bibel ein Lesezeichen erhalten. Es ist aus Pergament und auf einem Faden aufgespannt. Der Leser läßt das Lesezeichen bis zu dem Vers gleiten, der markiert werden soll, und dann die Scheibe kreisen, um auf die erste, zweite, dritte oder vierte Spalte der einleitenden Doppelseite hinzuweisen.
Cambridge, Corpus Christi College, MS. 49 |
Mitte des dreizehnten Jahrhunderts gab es in jeder größeren Stadt Europas
Dominikaner- und
Franziskanerklöster. Die Klöster fungierten als Verwaltungszentren für die
Bettelmönche. Zur Einhaltung der Regeln brauchte jeder predigende Bettelmönch eine Bibel, weshalb Tausende von Abschriften benötigt wurden. Die Bettelmönche waren keine organisierten oder geübten Schreiber. Ende der 20er Jahre des dreizehnten Jahrhunderts, als die Bettelmönche die Vorzüge der Pariser Bibel entdeckten, waren sie vermutlich nicht nur von deren Handlichkeit, Maßgeblichkeit und Eignung als Nachschlagewerk fasziniert, sondern auch, weil sie käuflich zu erwerben war, eine der glücklichsten Fügungen jener Zeit. Wie wir gesehen haben, boten die frühen Ateliers von
Paris im ersten Viertel des Jahrhunderts neben anderen Waren auch einbändige Bibeln an. Um etwa
1230 gab es bereits zahlreiche professionelle Buchhändler oder Schreibwarenhändler (so wurden sie später genannt). Wohlhabende Laien und die neu organisierte Universität von Paris unterstützten nunmehr eine beachtliche Industrie, die Bücher kopierte und dekorierte. In den letzten 30 Jahren des Jahrhunderts waren in Paris mehr als ein Dutzend Ateliers von Handschriftenilluminatoren bekannt, die alle neben vielen anderen Büchern auch Bibeln herstellten. Erstmals war es im Mittelalter möglich, Bibeln in großer Zahl käuflich zu erwerben. Die
Bettelmönche unterstützten diesen Handel nach Kräften und hatten Anteil an seiner weiteren Entwicklung. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass gerade jene Orden, die auf weltlichen Besitz verzichteten, vermutlich vielen säkularen Ateliers ein regelmäßiges Einkommen sicherten. In der Rue St-Jacques in Paris, am linken Seineufer, in derselben Straße, in der sich auch das Kloster der Dominikaner befand, eröffneten mehrere Schreibwarenhändler ihre Läden. Die Statuten der Franziskaner von
1338 bestimmten, dass jeder ihrer Studenten in Paris eine Bibel im Wert von 300
livres oder den entsprechenden Geldwert für ihren Erwerb erhalten sollte.
- Verkauf von Bibeln
Theoretisch wurden die Bibeln der Bettelmönche Besitz des Ordens und waren den Mönchen nur auf Lebenszeit geliehen. Sie durften die Bände nur mit Erlaubnis ihres Haus- oder Provinzpriors verkaufen
[vgl. Auszüge aus den Konstitutionen zu 1309]. Häufig finden sich in den Manuskripten Inschriften wie
Ad usum usw., ein Hinweis darauf, dass sie von einem bestimmten Mönch benutzt werden durften, ihm aber nicht gehörten. Viele Bibeln wurden vermutlich nur deshalb erworben, um sie unter den Mönchen zu verteilen. Einige wurden in den Ateliers der großen Städte für die Provinzklöster angefertigt, die sie ihren Bettelmönchen zur Verfügung stellten. Bibeln, die mit Sicherheit aus
Paris stammen, enthalten Inschriften von Bettelmönchen aus Skandinavien und Böhmen. Auch in Italien, wo sich ebenfalls weltliche Buchhändler etabliert hatten, wurden viele Bibeln produziert. Im Jahr
1242 beauftragten die
Dominikaner auf Mallorca einen professionellen Schreiber namens Fulchetus mit der Abschrift einer Bibel. Im Vertrag, der von Martin, dem Pergamentmacher, bezeugt wurde, bewilligten die Bettelmönche ein Honorar von 200 mallorquinischen
livres sowie Kost und Verpflegung für die Dauer seiner Arbeit. Obwohl die Insel Mallorca weit von den Zentren des Buchhandels entfernt war, waren die Bettelmönche selbst dort auf professionelle Hilfe angewiesen.
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Quelle: Hamel, S. 136
Diese Bibel aus dem dreizehnten Jahrhundert enthält den Hinweis, dass ihr Besitzer sie mit seinem eigenen Geld von einem unbekannten Bettelmönch des Dominikanerordens erworben hatte und dann Bruder Guillelmus stiftete.
Brüssel, Bibliothèque royale, Ms. 4911 |
Die Bettelmönche waren zwar nicht die einzigen Käufer der tragbaren Bibeln, brachten aber all das unters Volk, was die Pariser Bibel repräsentierte - Handlichkeit, Maßgeblichkeit und Eignung als Nachschlagewerk. Manchmal haben die Bettelmönche, obgleich es ihnen verboten war, sogar mit Bibeln gehandelt.
1240 entzog das dominikanische Ordenskapitel in Bologna dem Bettelmönch Bartolomeo seine Bibel und verurteilte ihn zu einer Buße, weil er sie auf unrechtmäßige Weise erworben hatte. Eine Bibel aus dem dreizehnten Jahrhundert (Brüssel, BR, Ms. 4911) enthält eine Anmerkung, dass ihr Besitzer, ein gewisser
Magister P., sie mit seinem eigenen Geld von einem Priester, offenkundig einem Dominikanermönch, erworben hatte. Auf diese oder andere Weise wechselten viele Bibeln, die einst Bettelmönchen gehört hatten, den Besitzer.
- "Universitätsbibel"
Wir kommen nun zu einem zentralen Punkt dieses Kapitels. Die kleinen tragbaren Bibeln werden oft als Universitätsbibeln bezeichnet, weil sie, so wird angenommen, aufgrund ihres kleinen Formats für Studenten praktisch waren, welche die Bücher in den Unterrichtsstunden benutzten. Doch es gibt nicht den leisesten Hinweis darauf, dass diese Vermutung wirklich den Tatsachen entspricht. Theologiestudenten studierten zwar vier Jahre lang die Bibel, doch die Handschriften, die sie während der Vorlesungen verwendeten, waren separate Bibelbücher mit Glosse. Abschriften glossierter Bibelbücher enthalten häufig zahlreiche Anmerkungen, die von Studenten stammen. Auch Bibelkommentare verschiedenster Art wurden im Unterricht gelesen und diskutiert. Die winzigen einbändigen Bibeln waren zu klein für Anmerkungen und hatten auch keinen Platz für Notizen zwischen den Zeilen. Ihr handlicher Charakter war für einen Studenten, der vermutlich von seiner Wohnung zu den Vorlesungen keinen allzu weiten Weg zurücklegen musste, kein besonders großer Vorteil. Verglichen mit den Bedürfnissen eines Wandermönches hatte ein Theologiestudent keinen großen Nutzen von einem so winzigen Buch. Im Gegenteil, in den Vorlesungssälen von
Bologna wurden mit Sicherheit Rechtsbücher studiert und mit Anmerkungen versehen, die gewöhnlich sehr großformatig waren und an den Rändern viel Platz für Anmerkungen boten.
- Pecien-System
Darüber hinaus wird oft behauptet, dass die einbändigen Pariser Bibeln nach dem berühmten Pecien-System kopiert wurden. Bei diesem System liehen Schreibwarenhändler, deren Hauptkunde die Universität war, nummerierte Abschnitte offizieller Exemplare zerlegt und lagenweise aus, sodass mehrere Studenten oder Schreiber, die den universitären Markt bedienten, an einem Buch arbeiten konnten. Die Bibel taucht auf den offiziellen Pecien-Listen, die im späten dreizehnten Jahrhundert von den Universitätsbehörden ausgegeben wurden, jedoch nicht auf. Drei existierende Bibelabschriften wurden, so die allgemeine Ansicht, nach dem Pecien-System der Universität kopiert. Es sind die Abschriften Paris, BNF, Mss. lat. 28, 9381 und 14238. Würde es sich dabei tatsächlich um Pecien-Abschriften handeln, so weise dies darauf hin, dass die Universität die Verteilung von Pariser Bibeln für die Studenten genehmigt hatte. In Wirklichkeit aber hat keine einzige dieser drei Handschriften mit dem Pecien-System zu tun, denn alle drei weisen keinerlei Gemeinsamkeiten auf. Die Zahlen an den Rändern beziehen sich auf die Kapitel, nicht auf die Pecien. Die Handschrift mit der Signatur lat. 9381 entspricht bei weitem nicht der neuen Textanordnung und enthält weder die Prologe noch Kapitelnummern, es kann sich also nicht um den Pariser Text handeln. Eine Anmerkung am Ende der Handschrift mit der Signatur lat. 14238 könnte irrtümlich als 30
peciae missverstanden worden sein, denn tatsächlich handelt es sich um einen Geldwert: "Ista byblia precii triginta francorum ..." (zum Preis von 30 Shillingen). Außerdem wird berichtet, dass die große Bibel ein Geschenk von Jean Auchier, dem
Prokurator und Berater des Königs, an die Abtei St. Victor war, sie stellt also keineswegs eine Abschrift für Studenten oder Schreibwarenhändler dar. Alle drei Handschriften sind demnach nur vermeintliche Pecien-Abschriften. Die Pariser Bibel war kein Pecien-Buch und daher auch kein Text, der im Rahmen der universitären Bedürfnisse hergestellt wurde.
- Bologna
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Quelle: Hamel, S. 137
Nicht alle Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts wurden in Frankreich hergestellt. Es gibt schöne Beispiele aus dem Nordosten Italiens, insbesondere aus Bologna, Padua und Venedig. Diese ist etwa auf 1250-1275 zu datieren.
Privatsammlung |
Zum Dritten wird allgemein angenommen, dass es eine Verbindung gegeben haben muss zwischen der Größe und der Bedeutung der theologischen Fakultät von
Paris und der enormen Anzahl von Bibeln, die der Stadt Paris im dreizehnten Jahrhundert zugeschrieben wurde. Dabei wird ein wesentlicher Punkt übersehen. Das zweitgrößte Zentrum für die Herstellung einbändiger Bibelhandschriften war
Bologna. Es gibt Hunderte tragbare Bibeln aus dem späten dreizehnten Jahrhundert, mit Illuminationen, die vermutlich allesamt aus Ateliers in Bologna stammen. Doch an der Universität von Bologna gab es vor
1364 keine Fakultät für Theologie. Was Paris und Bologna gemeinsam hatten, war nicht das Bibelstudium im Rahmen der Universität, sondern die Präsenz der zwei größten
Dominikanerzentren Europas. Also - schließt sich der Kreis wieder bei den Bettelmönchen.
- Roger Bacon
Abschließend soll noch erwähnt werden, dass oft ein Zitat des Opus minus von Roger Bacon angeführt wird, um auf die Beteiligung der Universitäten an der Verbreitung des Pariser Textes hinzuweisen. 1267 erinnerte Bacon daran, dass etwa 40 Jahre zuvor die am meisten verfälschten Exemplare des neuen Bibeltextes, das so genannte exemplar Parisense, durch eine Zusammenarbeit von Pariser Theologen mit den Buchhändlern entstanden war. Dies führt uns etwa auf die Zeit um 1227 zurück, eine Epoche, die fast exakt dem Zeitpunkt entspricht, an dem die Bettelmönche die Pariser Bibel erstmals für ihre Zwecke übernahmen. Roger Bacon (ca. 1214-1292) war selbst ein Bettelmönch, der im Franziskanerkloster in Paris tätig war. Seine Erinnerung hatte ihn tatsächlich nicht getäuscht. Die Rolle der Theologieprofessoren beim Entwurf der einbändigen Pariser Bibel war unklar, sicher war jedoch, dass sie nicht die Überarbeitung des Textes angestrebt hatten, sondern die Neugestaltung des Formats. Die neu entworfene Bibel wurde von Buchhändlern verbreitet, die von der Universität unabhängig waren, was Bacon missbilligte. Er beschrieb sie verächtlich als ungebildete und verheiratete Männer (also Laien), was wahrscheinlich der Wirklichkeit entspricht. Nur waren es Ende der 20er Jahre des dreizehnten Jahrhunderts die Bettelmönche, welche die Bibel retteten und förderten und nicht die Universitäten. Die Pariser Bibel des dreizehnten Jahrhunderts verdankt ihren Erfolg nach 1227 den Dominikanern und Franziskanern.
- Universitäten, Bibelmarkt
Natürlich wäre die Behauptung falsch, dass an den Universitäten von
Paris,
Oxford,
Bologna oder anderswo Studenten die Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts nie benutzt hätten. Die Bibliothek der Sorbonne besaß
1338 etwa 40 einbändige Bibeln, darunter eine, die aufgrund der Veräußerung eines von Pierre de Ausone vermachten Breviers angekauft wurde. Kleine lateinische Bibeln wurden im dreizehnten Jahrhundert in außerordentlich großer Anzahl insbesondere in Frankreich, aber auch in Italien und England angefertigt. Inspiriert von den Bettelmönchen müssen unzählige Menschen im dritten Viertel des Jahrhunderts tragbare Bibeln erworben haben. Der Text war in lateinischer Sprache verfasst, was die Leserschaft auf jene beschränkte, die über Bildung verfügten. Darunter waren vermutlich Studenten, aber auch Mönche, Kleriker, königliche Beamte, Adelige, Grundstücksverwalter usw. Die einbändige Bibel mit ihrer neuen Aufteilung und der Unterteilung in nummerierte Kapitel trat in das Bewusstsein von Menschen, die nie zuvor Bücher gekauft hatten. Die Pariser Bibel und ihre Imitationen wurden nun in so großer Stückzahl hergestellt und verkauft, dass im Mittelalter fast keine weiteren Abschriften mehr angefertigt werden mussten, da sie von einer Generation an die nächste weitergegeben wurden. Hunderte, (möglicherweise) Tausende Exemplare sind erhalten. Selbst heute noch sind die Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts so verbreitet, dass sie nie vollständig vom antiquarischen Markt verschwunden sind.
Es gibt sehr viele Hinweise auf Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts, die 200 Jahre später noch am Markt erhältlich waren und besonders von Klöstern und Pfarrkirchen zur täglichen Verwendung erworben wurden. Sie tauchten in allen Teilen Europas auf und je weiter man sich von Paris entfernt, desto beeindruckender werden die Statistiken. (..)
[S. 114-139]
1 Der vorliegende Text entstammt dem aufwändig und hervorragend illustrierten Buch: Christopher De Hamel, Das Buch. Eine Geschichte der Bibel, Phaidon Berlin 2002 (352 S.), den ich an einigen Stellen geringfügig gekürzt habe (s. auch Artservice ).
Der Inhalt des Buches, das ich jedem Interessierten nur empfehlen kann: Einleitung, 1. Lateinische Bibeln von Hieronymus bis zu Karl dem Großen, 2. Die Bibeln in hebräischer und griechischer Sprache, 3. Die Riesenbibeln des frühen Mittelalters, 4. Kommentare zur Bibel, 5. Die tragbaren Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts, 6. Bilderbibeln, 7. Die englischen Wyclif-Bibeln, 8. Die Gutenberg-Bibel, 9. Die Bibeln der protestantischen Reformation, 10. Die englische und amerikanische Bibelindustrie, 11. Missionarsbibeln, 12. Die Suche nach den Ursprüngen sowie Bibliografie, Quellenverzeichnis, Register und Bildnachweise.
Um den Text etwas aufzulockern, habe ich die 'Lesezeichen' eingefügt, die natürlich nicht im originalen Text enthalten sind, sondern nur dem Zweck dienen, einzelne Passagen schneller wieder aufzufinden. Hier zeigt sich auch der entscheidene Unterschied zwischen einem Buch und dem Lesen am Bildschirm: derartige Textmassen sind eigentlich Monitor-inkompatibel.
Die Abbildungen entstammen sämtlich dem Buch, erreichen aber nicht die Qualität des Abdrucks.