Magistri Echardi Quaestiones Parisienses
Una cum quaestione Magistri Consalvi 1

quaestio
1. Quaestio
2. Quaestio
3. Quaestio (Consalvi)
4. Quaestio
5. Quaestio
Anmerkungen
6. Quaestio
7. Quaestio
8. Quaestio
9. Quaestio Edition
Beschreibung
Datierung

1. Quaestio

Ist in Gott Sein und Erkennen identisch?
Utrum in Deo sit idem esse et intelligere


1  Darauf ist zu sagen, daß sie der Sache nach identisch sind, und vielleicht der Sache und dem Begriffe nach.
  Ich führe dafür zunächst die Beweise an, die mir vorliegen. Fünf finden sich in (des Thomas) Summe wider die Heiden und ein sechster im ersten Teil (der Summe über die Theologie), und alle gründen sich darauf, daß Gott das Erste und Einfache ist; denn es kann etwas nicht das Erste sein, wenn es nicht einfach ist.
  Der erste Beweisgang ist dieser: das Erkennen ist ein innebleibender Akt; und alles, was im Ersten ist, ist das Erste. Also ist Gott sein Erkennen selbst und ist auch sein Sein. Daher usw.
  Zweitens: in Gott ist kein Akzidenz, und folglich ist in Gott Sein und Wesenheit identisch. Da also das Erkennen Gottes eben das ist, was Gott ist, und seine Wesenheit, deshalb usw.
  Drittens: nichts ist edler als das Erste. Nun ist aber die zweite Wirklichkeit (1) für die Seele das Wachsein im Verhältnis zum Schlaf, und dieses ist etwas Vollkommeneres als die erste Wirklichkeit. Also folgt, daß das Erkennen das Sein Gottes selbst ist.
2  Viertens: In Gott ist kein passives Vermögen. Es wäre aber ein solches da, wenn nicht Sein und Erkennen in Gott identisch wären.
  Fünftens: Jedes Ding ist um seiner Tätigkeit willen da. Wenn also das Erkennen etwas anderes wäre als das Sein Gottes, so wäre es möglich, Gott selbst ein von sich und von dem, was er ist, verschiedenes Ziel zu geben. Das aber ist unmöglich, weil das Ziel Ursache ist, dem Ersten aber keine Ursache gegeben werden kann. Ferner: das Erste ist unendlich, und das Unendliche hat kein Ziel (Ende).
  Sechstens so: das Erkennen verhält sich so zum Erkenntnisbild, wie sich das Sein zur Wesenheit verhält. Die göttliche Wesenheit aber dient (Gott) als Erkenntnisbild. Also: da in Gott das Sein mit der Wesenheit identisch ist, deshalb sind alle genannten Dinge dort gänzlich identisch.
3  Sodann zeige ich dies auf einem Wege, den ich anderwärts ausgeführt habe: obschon 'Mensch' und 'vernünftig' in der Aussage vertauschbar sind, so ist doch das Verhältnis beider nicht so aufzufassen: weil etwas vernünftig ist, deshalb ist es Mensch, sondern vielmehr so: weil einer Mensch ist, deshalb ist er vernünftig. Es ist aber sicher, daß, wenn das Sein vollkommen ist, durch das Sein selbst alles gegeben ist, das Leben und das Erkennen und jegliches Wirken, und man braucht (zu dem Sein) nicht irgend etwas anderes hinzuzufügen, um jede beliebige Wirksamkeit zu erzielen. Denn wenn das Feuer durch seine Form alles könnte, nämlich sein und erwärmen, so gäbe es zu der Form des Feuers, durch die es zu all diesem befähigt wäre, keine Hinzufügung und keine Zusammensetzung. Da also das Sein in Gott das Beste und vollkommenste ist, erste Wirklichkeit (2) und aller Dinge Vollendung, durch die alle Wirklichkeiten vollendet werden, und ohne die alles nichts ist, deshalb wirkt Gott durch sein Wesen alles sowohl innerhalb (seines Wesens), in der Gottheit, als auch außerhalb, in den Geschöpfen, jedoch beides auf seine besondere Weise. Und so ist in Gott das Sein selbst eben das Erkennen, weil er durch das Sein selbst wirkt und erkennt.
4  Drittens zeige ich, daß ich nicht mehr der Meinung bin, daß Gott erkennt, weil er ist; sondern, weil er erkennt, deshalb ist er, in der Weise, daß Gott Intellekt und Erkennen ist, und das Erkennen selbst die Grundlage seines Seins ist. Denn Joh. 1,1 heißt es: 'im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort'. Nicht aber hat der Evangelist gesagt: 'im Anfang war das Sein, und Gott war das Sein'. Das Wort aber ist seinem ganzen Wesen nach auf den Intellekt bezogen, und es ist dort als sprechendes oder als gesprochenes (Wort) und nicht als ein (aus Sein und Intellekt) gemischtes Sein oder Seiendes. Ferner sagt der Heiland: 'ich bin die Wahrheit' (Joh. 14,6). Die Wahrheit aber gehört zum Intellekt, da sie eine Beziehung (zu ihm) mit sich bringt oder einschließt. Die Beziehung hat aber ihr ganzes Sein von der Seele und als solche ist sie eine reale Kategorie, wie die Zeit; obwohl diese ihr Sein von der Seele hat, ist sie trotzdem eine (Unter)art der Quantität, also einer realen Kategorie. 'Ich' also 'bin die Wahrheit'. Dieses Wort behandelt Augustin im 8. Buch Von der Dreifaltigkeit im 2. Kapitel, und aus seinen Worten geht hervor, daß die Wahrheit zum Intellekt gehört wie auch das Wort.
  Auf das angezogene Wort folgt Joh. 1,3: 'alles ist durch ihn geworden', was so gelesen werden muß: alles durch ihn Gewordene ist, so daß dem Gewordenen nachher Sein zukommt. Deshalb sagt der Verfasser des Buches Von den Ursachen: "das erste der geschaffenen Dinge ist das Sein". Sobald wir deshalb zum Sein kommen, kommen wir zum Geschöpf. Das Sein hat daher an erster Stelle die Wesensbestimmtheit des Erschaffbaren, und deswegen sagen einige, daß im Geschöpfe das Sein Gott nur als Wirkursache ansieht, die Wesenheit ihn dagegen als Exemplarursache ansieht. Die Weisheit aber, die zum Intellekt gehört, hat nicht die Wesensbestimmtheit des Erschaffbaren. Und wenn man sagt, das sei doch der Fall, weil es Jes. Sir. 24,14 heißt: 'im Anfang und vor der Welt bin ich geschaffen', so kann 'geschaffen' im Sinne von 'gezeugt' ausgelegt werden. Aber anders erkläre ich es so: 'im Anfang und vor der geschaffenen Welt bin ich'. Und deshalb ist Gott, der Schöpfer und nicht erschaffbar ist, Intellekt und Erkennen und nicht seiend oder Sein.
5  Und um das zu zeigen, unterstelle ich erstens, daß das Erkennen höher ist als das Sein und einer andern Schicht angehört.
  Wir sagen nämlich alle, daß das Werk der Natur das Werk eines intelligenten Wesens ist, und deshalb ist alles, was bewegt, intelligent oder läßt sich auf ein intelligentes Wesen zurückführen, von dem es in seiner Bewegung geleitet wird. Und deshalb sind die Wesen, die Intellekt haben, vollkommener als die, die keinen haben, wie in dem Werdeprozeß das Unvollkommene die erste Stufe einnimmt, so daß die Untersuchung beim Intellekt und beim intelligenten Wesen als dem Höchsten und Vollkommensten haltmacht. Und deshalb ist das Erkennen höher als das Sein.
6  Jedoch sagen einige, daß Sein, Leben und Erkennen in zweifacher Weise betrachtet werden können: einerseits an sich, und so ist erstlich das Sein, dann das Leben, an dritter Stelle das Erkennen; oder im Vergleich zu dem, der daran teilhat, und so ist erstlich das Erkennen, dann das Leben, an dritter Stelle das Sein.
  Ich aber glaube das gerade Gegenteil. Im Anfang nämlich 'war das Wort', das ganz und gar zum Intellekt gehört, so daß eben das Erkennen die erste Stufe in der Rangordnung der Vollkommenheiten einnimmt, die nächste das Seiende oder das Sein.
7  Zweitens unterstelle ich, daß das Erkennen und das, was zum Intellekt gehört, einer andern Schicht angehört als das Sein. Es heißt nämlich im 3. Buch der Metaphysik, daß es im Mathematischen keine Zweckbeziehung gibt und nicht den Begriff des Guten und folglich auch nicht den des Seins, weil Sein und Gutsein identisch sind. Auch heißt es im 6. Buch der Metaphysik: das Gute und Schlechte ist in den Dingen, das Wahre und Falsche in der Seele. Deshalb wird ebenda gesagt, daß das Wahre, das in der Seele ist, nicht ein Seiendes ist, ebensowenig wie das akzidentell Seiende ein Seiendes ist, da es keine Ursache hat, wie ebenda gesagt wird.
  Folglich hat das in der Seele Seiende, insofern es in der Seele ist, nicht die Wesensbestimmtheit des Seienden, und in dieser Hinsicht bewegt es sich auf das Gegenteil des Seins selbst hin. Wie auch das Bild als solches ein Nichtseiendes ist; denn je mehr man das Bild seinem Seinsgehalt nach betrachtet, um so mehr lenkt es von der Erkenntnis des Gegenstandes, dessen Bild es ist, ab. Ähnlich verhält es sich, wie ich anderwärts gesagt habe, mit dem Erkenntnisbild, das in der Seele ist: hätte es die Wesensbestimmtheit eines Seienden, so könnte der Gegenstand, dessen Bild es ist, nicht erkannt werden; denn wenn es die Wesensbestimmtheit eines Seienden hätte, würde es als solches zur Erkenntnis seiner selbst hinlenken und von dem Gegenstand ablenken, dessen Erkenntnisbild es ist.
  Was also zum Intellekt gehört, ist als solches ein Nichtseiendes. Wir erkennen nämlich etwas, was Gott nicht machen könnte, wie z. B. jemand das Feuer denkt, ohne seine Wärme mitzudenken. Gott aber könnte nicht machen, daß ein Feuer existierte und daß es nicht wärmte.
8  Drittens unterstelle ich, daß hier unsere Vorstellungskraft versagt. Es unterscheidet sich nämlich unser Wissen vom Wissen Gottes, weil das Wissen Gottes Ursache der Dinge ist, während unser Wissen von den Dingen verursacht ist. Während deshalb unser Wissen ein Abfall vom Seienden ist, von dem es verursacht wird, ist das Seiende selbst aus dem gleichen Grunde ein Abfall vom Wissen Gottes, und deshalb liegt alles, was in Gott ist, über dem Sein selbst und ist ganz Erkennen.
  Aus diesen Voraussetzungen zeige ich nun, daß in Gott kein Seiendes noch ein Sein ist. Denn nichts ist seinem Wesen nach in der Ursache und im Verursachten, vorausgesetzt, daß die Ursache eine wahre Ursache ist. Gott aber ist die Ursache alles Seins. Folglich ist das Sein seinem Wesen nach nicht in Gott. Willst du aber das Erkennen Sein nennen, so habe ich nichts dagegen. Nichtsdestoweniger behaupte ich: wenn in Gott etwas ist, was du Sein nennen willst, so kommt es ihm zu durch das Erkennen.
9  Ferner: das Prinzip ist niemals das aus dem Prinzip Abgeleitete, wie der Punkt niemals die Linie ist. Und deshalb, da Gott Prinzip ist, nämlich entweder des Seins oder des Seienden, so ist Gott nicht das Seiende oder das Sein des Geschöpfes. Alles, was im Geschöpf ist, ist in Gott nur wie in seiner Ursache und nicht seinem Wesen nach. Und deshalb ist das Sein, da es den Geschöpfen zukommt, in Gott nur wie in seiner Ursache, und deshalb ist in Gott nicht das Sein, sondern die Lauterkeit des Seins. Wie wenn einer, der verborgen bleiben und sich nicht nennen will, bei Nacht gefragt: wer bist du? antwortet: 'ich bin, der ich bin', so wollte der Herr die Lauterkeit seines Seins mit den Worten zeigen: 'ich bin, der ich bin' (Exodus 3,15). Er hat nicht schlechtweg gesagt: 'ich bin', sondern hinzugefügt: 'der ich bin'. Gott kommt also nicht das Sein zu, es sei denn, du wolltest eine solche Lauterkeit Sein nennen.
10  Ferner: das was (nur) der Möglichkeit nach Stein ist, ist nicht Stein, so wenig wie der Stein in seiner Ursache Stein ist, und deshalb ist das Seiende in seiner Ursache kein Seiendes. Da also Gott die allgemeine Ursache des Seienden ist, so hat nichts, was in Gott ist, die Wesensbestimmtheit des Seienden, sondern die des Intellekts und des Erkennens selbst; zu dessen Wesensbestimmtheit gehört es aber nicht, eine Ursache zu haben, wie es zur Wesensbestimmtheit des Seienden gehört, verursacht zu sein. Und eben in dem Erkennen ist alles der Kraft nach enthalten, als in der obersten Ursache von allem.
11  Ferner: stehen Dinge zueinander in analoger Beziehung, so ist der Wesensgehalt des einen Gliedes der Analogie nicht in dem andern, wie die Gesundheit ihrem Wesen nach nur in dem Lebewesen ist, in der Speise aber oder im Harn ist nicht mehr von der Gesundheit als im Stein. Da also alles Verursachte seinem Wesen nach ein Seiendes ist, so ist Gott seinem Wesen nach kein Seiendes. Daraus folgt, was ich anderwärts gesagt habe: da die Akzidentien ihren Namen von ihrem Verhältnis zur Substanz haben, die ihrem Wesen nach Seiendes ist und der das Sein wesensmäßig zukommt, so sind die Akzidentien kein Seiendes und verleihen nicht das Sein der Substanz. Das Akzidenz ist aber wohl Quantität oder Qualität und verleiht das Sogroß- oder Sobeschaffensein: das Ausgedehntsein, das Lang- oder Kurzsein, das Weiß- oder Schwarzsein, aber es verleiht nicht das Sein noch ist es ein Seiendes.
  Es beweist auch nichts, wenn man sagt: (das Akzidenz) entsteht doch auf eine Weise, die man, wenngleich in einem eingeschränkten Sinne, als (wirkliches) Entstehen bezeichnen kann; also ist es auch in einem eingeschränkten Sinne ein Seiendes. Ich antworte: es entsteht nicht, auch nicht in einem eingeschränkten Sinne. Denn nach der Lehre, die ich erhalten habe, liegt dann ein Entstehen schlechthin vor, wenn aus einer Substanz, die weniger durch ihre Form bestimmt ist, eine entsteht, die mehr durch ihre Form bestimmt ist. Im umgekehrten Falle liegt aber ein Entstehen in eingeschränktem Sinne vor. Wird aber etwas akzidentell verwandelt, so nennt man das nach der Lehre, die ich erhalten habe, nicht Entstehen in eingeschränktem Sinne, sondern Veränderung. Daher bestreite ich den Akzidentien nichts, was ihnen zukommt, ich will ihnen aber auch nicht etwas zusprechen, was Ihnen nicht zukommt.
12  So sage ich denn auch, daß Gott das Sein nicht zukommt, und daß er kein Seiendes ist, sondern er ist etwas Höheres als das Seiende. Denn wie Aristoteles sagt, daß der Gesichtssinn farblos sein muß, um alle Farben wahrnehmen zu können, und daß der Intellekt selbst nicht durch die in der Natur gegebenen Formen bestimmt sein darf, um alle erkennen zu können, so streite auch ich Gott selbst das Sein an sich und dergleichen ab, damit er die Ursache alles Seins sein und alles in sich im voraus enthalten kann, so daß Gott nichts abgestritten wird, was ihm zukommt, wohl aber was ihm nicht zukommt Diese Verneinungen bedeuten nach Johannes von Damaskus, im 1. Buch, in Gott den Überschwang der Bejahung. Nichts also streite ich Gott ab, was ihm von Natur zukommt. Ich behaupte nämlich, daß Gott alles im voraus in sich enthält in Reinheit, Fülle und Vollkommenheit, weit und groß, da er Wurzel und Ursache aller Dinge ist. Und das wollte er sagen, als er sprach: 'ich bin, der ich bin'.

(Verfasser:) Eckhart.

2. Quaestio

Ist das Erkennen des Engels, insofern es eine Tätigkeit besagt, mit dessen Sein identisch?
Utrum intelligere angeli, ut dicit actionem sit suum esse


  Ich antworte: nein.
1  Einige Autoren aber nehmen hierzu also Stellung: sie weisen mit Recht darauf hin, daß alle Tätigkeit entweder (auf ihren Gegenstand) übergreift oder innebleibt. Das Sein aber ist keine übergreifende Tätigkeit, weil eine solche Tätigkeit nach draußen geht, und das Sein drinnen ist. Das Sein ist auch keine innebleibende Tätigkeit im Sinne des Erkennens oder Wahrnehmens, weil eine solche Tätigkeit unbegrenzt ist, (und zwar) entweder schlechthin, wie das Erkennen, oder in gewisser Hinsicht, wie das Wahrnehmen. Das Sein aber ist begrenzt, bestimmt nach Gattung und Art.
  Ich zeige dies aber mit andern Beweisen.
2  Der erste ist dieser: der Intellekt als Intellekt ist nichts von dem, was er erkennt, sondern er muß "unvermischt" sein und "darf mit nichts irgend etwas gemein haben", um alles erkennen zu können, wie es im 3. Buch Von der Seele heißt, in derselben Weise wie der Gesichtssinn farblos sein muß, um jede Farbe sehen zu können. Wenn also der Intellekt als Intellekt nichts ist, so ist folglich auch das Erkennen nicht irgendein Sein.
3  Ferner: die Tätigkeit und das Vermögen als Vermögen haben ihr Sein vom Gegenstand, weil der Gegenstand (hier dieselbe Bedeutung hat) wie (sonst) das Subjekt. Nun gibt aber das Subjekt dem, dessen Subjekt es ist, das Sein. Also wird auch der Gegenstand das Sein dem geben, dessen Gegenstand er ist, nämlich dem Vermögen und der Tätigkeit. Nun ist aber der Gegenstand draußen, und das Sein etwas Inneres. Folglich ist das Erkennen, das vom Gegenstand her bestimmt ist, und in ähnlicher Weise das Erkenntnisvermögen als solches nicht irgendein Sein, noch haben sie irgendein Sein.
4  Ferner: das Erkenntnisbild ist das Prinzip der Wahrnehmungs- und Erkenntnistätigkeit. Das Erkenntnisbild aber ist nicht in irgendeiner Weise ein Seiendes. Folglich wird auch das Erkennen oder Wahrnehmen nicht in irgendeiner Weise ein Seiendes sein; denn die Tätigkeit besitzt nicht mehr Seinsgehalt als das Bild oder die Form, die das Prinzip der Tätigkeit ist. Daß aber das Bild, welches das Prinzip des Erkennens selbst ist, nicht in irgendeiner Weise ein Seiendes ist, beweise ich so: das in der Seele Seiende bildet mit dem Seienden, welches in die zehn Kategorien eingeteilt wird, das heißt mit Substanz und Akzidenz, einen Einteilungsgegensatz, wie aus dem 6. Buch der Metaphysik erhellt. Nun aber ist das, was mit Substanz und Akzidenz einen Einteilungsgegensatz bildet, kein Seiendes. Also ist das in der Seele Seiende kein Seiendes. Das Erkenntnisbild aber ist ein in der Seele Seiendes. Daher usw.
5  Ferner: wenn das Erkenntnisbild etwa ein Seiendes ist, so ist es ein Akzidenz; denn es ist nicht Substanz. Nun ist aber das Erkenntnisbild kein Akzidenz, weil das Akzidenz ein Subjekt hat, welches ihm das Sein gibt. Das Erkenntnisbild aber hat ein Objekt und kein Subjekt, weil Ort und Subjekt etwas Verschiedenes sind. Nun ist das Erkenntnisbild in der Seele nicht als seinem Subjekt, sondern als seinem Ort. Denn die Seele ist der Ort der Erkenntnisbilder, das heißt nicht die Seele als Ganzes, sondern der Intellekt. Es steht aber fest, daß, wenn das Erkenntnisbild überhaupt ein Subjekt hätte, nur die Seele dieses Subjekt sein könnte. Daher ist das Erkenntnisbild kein Seiendes.
6  Ferner: wenn das Erkenntnisbild oder der Erkenntnisakt ein Seiendes wäre, so wäre es ein möglicher Erkenntnisgegenstand für ein geschöpfliches Wesen; das ist aber falsch.
  Ferner: wenn etwa das Erkenntnisbild vom Menschen ein Seiendes ist, so ist es entweder das Seiende, das Mensch ist, oder ein Seiendes, das nicht Mensch ist. Es ist aber nicht das Seiende, das Mensch ist, wie einleuchtet. Und gleichfalls ist es nicht das Seiende, das nicht Mensch ist, weil es so nicht das Prinzip zur Erkenntnis des Menschen wäre. Also ist es kein Seiendes. Ein zweckdienliches Ding wird nämlich den Anforderungen dieses Zweckes entsprechend hergestellt. Daher wird eine Säge, weil sie zum Sägen hergestellt wird, aus keinem andern Stoff für den König als für den Zimmermann angefertigt. Da es also der Zweck des Erkenntnisbildes ist, eine Sache dem Intellekt zu vergegenwärtigen, so muß es so beschaffen sein, daß es die Sache möglichst gut vergegenwärtigt. Es vergegenwärtigt aber dessen, wenn es ein Nichtseiendes ist, als wenn es ein Seiendes wäre. Im Gegenteil, wenn es ein Seiendes wäre, würde es von der (bildlichen) Vergegenwärtigung ablenken. Deshalb ist es kein Seiendes, es sei denn, du wolltest es als ein in der Seele Seiendes bezeichnen.
  Das Wissen hingegen ist eine Qualität und ein wahres, jedoch potentielles Seiendes, weil sie das 'Habitus' genannte Seiende ist. Daher gehört das Wissen mehr zum Bereich des Subjekts, welches etwas Inneres ist, der Intellekt aber und das Erkenntnisbild gehören zum Bereiche des Gegenstandes, der etwas Äußeres ist. Und deshalb haben diese, da das Sein etwas Inneres ist, kein Sein.
7  Ferner: der Intellekt ist als Intellekt weder hier noch jetzt noch dieses da. Hingegen ist alles Seiende oder Sein nach Gattung und Art bestimmt. Folglich ist der Intellekt als solcher kein Seiendes noch hat er ein Sein. Folglich kann er dem Erkennen selbst nicht verleihen, daß es ein Seiendes ist, weil die Tätigkeit nicht mehr Sein hat als der Tätige, vielmehr weniger.
  Willst du dagegen geltend machen: wenn der Intellekt weder hier noch jetzt noch dieses da ist, dann ist er durchaus nichts, so antworte ich: der Intellekt ist ein natürliches Vermögen der Seele. Und so ist er etwas, weil die Seele ein wahres Seiendes ist, und als wahres Seiendes ist sie das Prinzip ihrer natürlichen Vermögen.
8  Ferner: das Seiende und das Gute sind (in der Aussage) vertauschbar. Im Intellekt findet sich aber nicht die Wesensbestimmtheit des Guten noch die der Wirk- und Zielursache, wie aus dem 3. Buch der Metaphysik hervorgeht. Wie nämlich dort gesagt wird, findet sich nichts von diesen (Begriffen) im Abstrakt-Mathematischen, da es als solches nur im Intellekt ist. Deshalb findet sich im Intellekt nicht die Wesensbestimmtheit des Seins, und so ist das Erkennen, insofern es eine Tätigkeit besagt, kein Sein.
9  Ferner: das Allgemeine ist kein Seiendes. Das Allgemeine aber entsteht durch das Erkennen. Also wird auch das Erkennen selbst, durch welches das Allgemeine entsteht, kein Seiendes sein.
  Ferner: das Seiende ist etwas bestimmtes. Deshalb ist die Gattung kein Seiendes, weil sie etwas Unbestimmtes ist. Nun ist aber der Intellekt und das Erkennen etwas Unbestimmtes. Deshalb ist es kein Seiendes.
10  Ferner: das Seiende ist in seiner Ursache kein Seiendes. Denn kein gleichartig Wirkendes besitzt in Wahrheit die Wesensbestimmtheit der Ursache. Die Wesensbestimmtheit des Seienden ist also ein Abstieg von der Ursache. In dem, was absteigt, findet sich also die Wesensbestimmtheit des Seienden. Und darum findet sich in Gott, von dem der Abstieg alles Seienden beginnt, die Wesensbestimmtheit des Seienden nicht. Da also unser Erkennen vom Seienden verursacht wird, so ist es ein Abstieg vom Seienden, und folglich strebt es zum Nichtseienden und hat kein Sein.
  Und so erhellt, daß das Erkennen des Engels, sofern es eine Tätigkeit besagt, nicht mit dessen Sein identisch ist.

(Verfasser:) Der Dominikaner Eckhart.

3. Quaestio

Die Frage des Meisters Gonsalvus,
in der die Beweise des Meisters Eckhart angeführt werden:

Ist der Lobpreis Gottes im Himmel edler als die Liebe zu ihm auf Erden?
Utrum laus Dei in patria sit nobilior eius dilectione in via


1  Dafür spricht Folgendes: das, was Gott näher und unmittelbarer ist und wodurch wir mit Gott unmittelbarer verbunden werden, ist edler. So verhält es sich aber mit dem Lobpreis im Himmel im Verhältnis zur Liebe auf Erden. Daher usw.
  Ferner: der Akt edlerer Wesen ist edler. Nun ist aber der Lobpreis Gottes im Himmel ein Akt edlerer Wesen, nämlich der Seligen; und die Liebe auf Erden ist ein Akt armseliger Wesen, nämlich der Erdenpilger.
  Ferner: was die Wesensbestimmtheit des Zieles hat, ist edler als was die Wesensbestimmtheit des auf das Ziel Hingeordneten hat. Nun hat aber das Erkennen die Wesensbestimmtheit des Zieles, während die Liebe die Wesensbestimmtheit des zum Ziel Hinstrebenden hat; denn die Liebe scheint nichts anderes zu besagen als ein Streben zu etwas hin.

Lösung

2  Betrachtet man die Liebe auf Erden und den Lobpreis im Himmel streng für sich und nach ihren Wesensbestandteilen, so muß man sagen, daß die Liebe auf Erden edler ist als der Lobpreis im Himmel, ja als die Schau im Himmel.
  Denn jener Akt ist schlechthin edler als ein anderer, den jedwedes rechte Streben, das nach keiner Richtung hin bedürftig ist, dem andern vorziehen würde. Ich sage aber 'das nach keiner Richtung hin bedürftig ist', weil man wegen der Bedürftigkeit ein geringeres Gut über das größere setzt und es ihm vorzieht; so erscheint es einem Bedürftigen wünschenswerter, Geld zu verdienen als Weisheit zu erwerben, wie es im 3. Buch der Ethik heißt.
  Nun würde aber ein rechtes Streben, das nach keiner Richtung hin bedürftig ist, die Gottesliebe auf Erden der Gottesschau im Himmel vorziehen. Denn jenes Streben ist keineswegs recht, welches ein endliches und geringeres Gut dem unendlichen und größeren Gut vorzieht. So aber wäre es, wenn jemand die Gotteschau im Himmel der Gottesliebe auf Erden vorzöge; denn dieser liebte etwas Außergöttliches, nämlich die Gottesschau, mehr als Gott und zöge sie ihm vor. Denn wer die Gottesschau mehr liebt als die Gottesliebe, der will eher auf die Liebe als auf die Schau verzichten. Wer aber auf die Gottesliebe verzichten will, der liebt Gott nicht. Wer also die Gotteschau mehr liebt als die Gottesliebe, der verzichtet lieber auf Gott als auf die Gottesschau. Also will oder liebt er die Gottesschau mehr als Gott. Deshalb kann niemand die Gottesschau mehr lieben als die Gottesliebe, ohne die Gottesschau mehr zu lieben als Gott. Ein solches Streben aber ist nicht recht. Liebt aber jemand die Gottesliebe mehr als seine Schau, so folgt nicht, daß er etwas Außergöttliches mehr liebt als Gott. Also folgt, daß bei rechtem Streben die Gottesliebe auf Erden edler ist als die Gottesschau im Himmel.
3  Zweitens: wenn zwei Dinge von einer Art sind, so ist, wenn eines davon schlechthin edler ist als ein (drittes), auch das andere von beiden edler als dieses (dritte). Nun sind aber die Liebe auf Erden und die im Himmel von derselben Art, und die Liebe im Himmel ist edler als die Schau im Himmel. Denn da die Seligkeit das Edelste ist, so ist das edler, worin die Seligkeit mehr besteht. Nun besteht aber die Seligkeit im Himmel mehr in der Gottesliebe als in der Gottesschau, weil die Seligkeit vorzüglicher in dem besteht, wodurch sie sich mehr von der entgegengesetzten Unseligkeit unterscheidet. Die Seligkeit aber unterscheidet sich mehr von der Unseligkeit durch die Liebe als durch die Erkenntnis; denn der Zustand der Unseligkeit, welcher der Seligkeit des Himmels entgegengesetzt ist, ist nicht der Zustand auf Erden, sondern der Zustand der Verdammnis. Denn in den Seligen geschieht das Erkennen in rechter Beschaffenheit des Verstandes, und ebenso das Lieben in rechter Beschaffenheit des Willens; in den Verdammten dagegen ist der Verstand zwar in vieler Hinsicht recht beschaffen, keineswegs aber der Wille. Da also die Seligen mit den Unseligen in der rechten Beschaffenheit des Verstandes übereinstimmen und in keiner Weise in der rechten Beschaffenheit des Willens, so unterscheiden sich jene von diesen mehr durch die Liebe als durch die Schau. Also ist die Liebe das vorzüglichere Element in der Seligkeit gegenüber der Schau und ist folglich edler; und weiterhin ist folglich die Liebe auf Erden edler als die Schau im Himmel.
4  Drittens: nach Aristoteles im 2. Buch der Zweiten Analytik ist das besser, dessen Gegenteil schlechter ist. Nun ist aber das Gegenteil der Liebe auf Erden, nämlich der Gotteshaß, schlechter als das Gegenteil des Lobpreises Gottes im Himmel, nämlich die Gotteslästerung in der Hölle; denn der Gotteshaß auf Erden ist eine Sünde aus Bosheit, und zwar das Äußerste an Bosheit, die Gotteslästerung aber in der Hölle geht hervor aus Unkenntnis. Die Sünde aus Unkenntnis ist aber nicht so groß wie die Sünde aus Bosheit, und die Unkenntnis nicht so schlimm wie die Bosheit. Daher usw.
5  Viertens: wenn eine Art nach ihren Wesensbestandteilen eine andere übertrifft, so übertrifft jedes Einzelwesen der übertreffenden Art schlechthin jedes Einzelwesen der übertroffenen Art, mag es auch in einer gewissen Beziehung übertroffen werden. Da beispielsweise die Art 'Mensch' ihren Wesensbestandteilen nach die Art 'Löwe' übertrifft, so übertrifft jeder einzelne Mensch jeden einzelnen Löwen schlechthin, wiewohl er in gewisser Beziehung von ihm übertroffen werden mag, wie etwa in der Schnelligkeit des Laufes, der Kühnheit des Mutes und der Stärke des Körpers.
  Nun übertrifft aber die Liebe auf Erden nach ihren Wesensbestandteilen die Schau im Himmel. Denn das, was wesentlich zur Liebe und zur Schau zusammenwirkt, sind Vermögen, Habitus und Gegenstand. Nun sind aber Vermögen, Habitus und Gegenstand der Liebe auf Erden schlechthin edler als Vermögen, Habitus und Gegenstand der Schau im Himmel, wie oben gezeigt wurde. Also ist jeder einzelne Liebesakt auf Erden wertvoller als jeder einzelne Akt der Schau im Himmel. Nun ist aber der Lobpreis im Himmel ein Einzelakt der Schau (Gottes) im Himmel. Daher usw.

Die Beweise Eckharts
  Gegen diese Begründung führen aber einige folgende Beweise an:
6  (1) Der Verstand, sein Akt und sein Habitus sind etwas Edleres als der Wille, sein Akt und sein Habitus. Denn jenes Vermögen, jener Akt oder Habitus ist edler, dessen Gegenstand einfacher, höher und (seiner Natur nach) früher ist. Nun ist aber der Gegenstand des Verstandes, seines Habitus und Aktes, das Seiende nämlich, früher, einfacher und höher als der Gegenstand des Willens, nämlich das Gute; denn die ganze Wesensbestimmtheit des Guten ist das Sein selbst. Daher usw.
7  (2) Ferner: jenes Vermögen ist edler, dessen Habitus edler sind. Nun sind aber die durch Übung erworbenen intellektuellen Tugenden, Weisheit, Einsicht und Klugheit, die im Verstand sind, edler als die erworbenen sittlichen Tugenden, die dem Strebevermögen zugehören. Daher usw.
8  (3) Ferner: jenes Vermögen ist edler, dessen Akt edler ist. Nun ist aber der Akt des Verstandes, das Erkennen, edler als der Akt des Willens, weil das Erkennen den Weg fortschreitender Reinigung geht und schließlich bis zum lautern Seinsgehalt des Dinges gelangt.
9  (4) Ferner: das Erkennen (besagt) eine gewisse Gottförmigkeit und ein Gottförmigwerden; denn Gott ist selbst gerade Erkennen und er ist nicht Sein.
10  (5) Ferner: das Erkennen als solches ist subsistierend.
11  (6) Ferner: es ist als solches unschaffbar. Deshalb ist die gedachte Truhe nicht schaffbar. Diese Bestimmungen kommen aber gerade dem Lieben nicht zu. Daher usw.
12  (7) Ferner: das ist dessen, was die entscheidende Ursache dafür ist, daß wir Gott wohlgefällig sind. Das aber ist das Erkennen. Daher ist jemand gerade deshalb Gott wohlgefällig, weil er ein Wissender ist; denn, nimm das Wissen fort - so bleibt nur ein reines Nichts übrig.
13  (8) Ferner: jenes Vermögen ist edler, in dem vorzüglich die Freiheit liegt. Diese liegt aber vorzüglich im Verstand; denn etwas ist frei, weil es der Materie ledig ist, wie bei den Sinnen klar ist. Nun ist aber der Verstand und das Erkennen am meisten der Materie ledig; denn ein Ding besitzt um so weniger die Fähigkeit, sich auf sich selbst zurückzuwenden, je materieller es ist. Die Fähigkeit des Zurückwendens liegt aber nicht im Sein, sondern im Erkennen, wie denn das mit sich Identische sich im Erkennen auf sich selbst zurückwendet.
14  (9) Ferner: Gregor von Nyssa sagt in seinem Buche über die Seele im 39. und 40. Kapitel, die Freiheit steige von der Vernunft in den Willen herab. Daher usw.
15  Ferner: etwas ist frei, weil es sich für Verschiedenes entscheiden kann. Der Wille kann das aber nur auf Grund der Vernunft und durch die Vernunft.
16  Ferner: Wahl ist die Schlußfolgerung aus einer Überlegung, die ein Akt des Verstandes ist, und deshalb ist die Wurzel der Freiheit im Verstand. Daher ist die Freiheit zuerst im Verstand, und (zwar) ihrem Ursprung nach, aber formell ist sie im Willen.
17  (10) Ferner: das Gute und das Beste über das Ziel sind der Gegenstand des Willens. Es ist also etwas das Beste, weil es die Wesensbestimmtheit des Besten hat. Das also ist besser, in dem die Wesensbestimmtheit des Besten gelegen ist. Nun hat aber etwas die Wesensbestimmtheit des Besten gerade auf Grund des Seins; denn, nimm das Sein fort - so ist nichts mehr da. Folglich ist das Sein, das der Gegenstand des Verstandes ist, dessen als das Beste, das der Gegenstand des Willens ist.
18  Ferner: die Wesensbestimmtheit des Besten ist im Verstand, weil die Wesensbestimmtheit des Wahren im Verstand ist, und die Wesensbestimmtheit des Wahren ist die Wesensbestimmtheit des Besten. Es ist nämlich etwas gutes und bestes Silber, weil es wahres Silber ist. Nimm aber vom Besten seine Wesensbestimmtheit fort - so ist nichts mehr da. Und deshalb ist die Wesensbestimmtheit des Besten auf seiten des Verstandes und seines Gegenstandes. Es ist also etwas deshalb das Beste, weil es im Verstand ist. Deshalb entfernt es sich, weil es im Verstand ist, vom Guten, bewegt sich zur Wesensbestimmtheit des Besten hin, empfängt die Gottförmigkeit und naht sich seiner Ursache. Die Wesensbestimmtheit des Besten ist also mehr auf seiten des Verstandes als des Willens. Folglich ist der Gegenstand des Verstandes edler, höher und (seiner Natur nach) früher als der Gegenstand des Willens, und der Verstand edler als der Wille selbst.
19  (11) Ferner: jenes (Vermögen) ist freier und edler, welches auf edlere Weise bewegt. Der Verstand aber bewegt auf edlere Weise, weil das Bewegen nach der Weise des Zieles am edelsten ist; denn das Ziel ist nach dem 2. Buch der Physik die Ursache der Ursachen. Deshalb bewegt auch Gott als Gegenstand der Sehnsucht, wie es im 12. Buch der Metaphysik heißt. Der Verstand bewegt aber nach Art des Zieles, der Wille nach Art der Wirkursache.
20  Ferner: der Verstand mit seinem Objekt bewegt als Beweggrund, der Wille dagegen als Beweger.

Entkräftung der Beweise Eckharts für den Vorrang des Verstandes gegenüber dem Willen

21  Zum ersten dieser Beweise ist zu sagen: es ist kein richtiger Schluß: etwas ist früher und einfacher, also ist es vollkommener. Vielmehr findet sich im Geschöpflichen oft das Gegenteil, wie bei den allgemeineren (Seinsbestimmungen) klar ist.
22  Zum zweiten ist zu sagen: angesehene Autoren sagen, die sittlichen Tugenden seien edler als die intellektuellen. So sagt auch Cicero im 2. Buch Von den Pflichten, daß die Gerechtigkeit edler ist als die Klugheit.
  Der Beweis versagt auch in einem andern Punkte: wir müssen nämlich den Adel der Vollkommenheiten erweisen aus dem Adel der höchsten Vollkommenheiten. Eine Vollkommenheit, die nicht die höchste ist, wie die Schärfe des Gesichtssinnes, kann sehr wohl im Tier größer sein als im Menschen. Aber die höchste Vollkommenheit des Menschen ist edler als die höchste Vollkommenheit des Tieres, und deshalb ist der Mensch edler als irgendein Tier. Nun sind aber die erworbenen Tugenden nicht die höchsten Vollkommenheiten des Verstandes und des Strebevermögens, sondern die eingegossenen. Und deshalb ist jenes Vermögen schlechthin edler, in dem die höchste eingegossene Vollkommenheit ist: nämlich die Liebe. Diese ist aber im Willen. Daher gilt der Beweis nicht.
  Er versagt aber noch in einem andern Punkte: es wird bei ihm vorausgesetzt, daß die Liebe nicht schlechthin edler ist, mag sie auch hinsichtlich des Verdienstes mehr Wert haben. Das gilt aber nicht; denn besser sein vor Gott ist keine abwertende Bestimmung, und deshalb folgt: es ist etwas besser vor Gott und hinsichtlich des Verdienstes, also ist es schlechthin besser. Die Liebe aber ist von der Art.
23  Wenn drittens gesagt wird, das Erkennen löse (seine Gegenstände) in ihre innersten Bestandteile auf, so ist dazu folgendes zu sagen: dies beweist wohl, daß der Verstand den höchsten Rang unter den Erkenntnisvermögen einnimmt, und das ist wahr; und ebenso sage ich, daß der Wille den höchsten Rang unter den Strebevermögen einnimmt. Es beweist aber nicht, daß der Verstand edler ist als der Wille. Wie es nämlich von seiten des Verstandes ein doppeltes Verfahren gibt, eines, das Neues findet, und ein anderes, welches (das Gegebene) in seine kleinsten Bestandteile auflöst, so entspricht dem auf seiten des Willens ein doppeltes Verhalten.
24  Zum Vierten ist zu sagen: Lieben bedeutet eine größere Gottförmigkeit als Erkennen. Ein Zeichen dafür ist, daß der höchste Chor der Engel nach der Liebe benannt ist; wird er doch Seraphim nach dem Brande der Liebe benannt.
  Wenn jene (zum Beweise) hinzufügen, daß Gott Erkennen ist und nicht Sein, so sage ich dazu: Gott ist nicht Sein nach der Art unseres Erkennens und Bezeichnens, in der Weise nämlich, wie wir das Sein in den Dingen sehen, sondern Gott selbst ist das Sein selbst der bezeichneten Sache nach; und das Gegenteil behaupten, ist offenkundig gegen die (Lehre der) Heiligen und gegen die Schrift: 'in Wahrheit sage ich euch: ehe denn Abraham ward, bin ich' (Joh. 8,58). Und: 'er allein ist' (Hiob 33, 13). Zur Erklärung dieses Wortes bemerkt Gregor im 16. Buch der Sittlichen Unterweisungen, daß alles ins Nichts versinken würde, wenn es nicht die Hand des Schöpfers hielte.
25  Zum Fünften und Sechsten ist zu bemerken: wenn sie sagen, das Erkennen sei subsistierend und unschaffbar, so ist das wahr vom göttlichen Erkennen, aber nicht vom Erkennen des Geschöpfes. Deshalb ist die gedachte Truhe und dergleichen schaffbar. Deshalb sind auch die intellektuellen Naturen im höchsten Grade schaffbar, weil sie auf andere Weise nicht ins Dasein treten könnten. Sie treten sogar aus derselben Materie ins Dasein, aus der alle andern Geschöpfe hervorgebracht worden sind, wie Augustin zu Beginn seines Buches Über die Genesis gegen die Manichäer ausdrücklich sagt.
26  Zum Siebten: wenn sie sagen: "jemand ist gerade deshalb Gott wohlgefällig, weil er ein Wissender ist", so ist das ein befremdlicher Ausspruch; und wenn dabei Wissen im ausschließlichen Sinne ohne die Liebe genommen wird, so ist er falsch.
  Wenn sie zur Begründung sagen: "nimm das Wissen fort - so bleibt nichts übrig", so ist das ungültig. Denn bei kontradiktorischem Gegensatz gilt nach der Lehre des Aristoteles in der Topik die Folgerung nicht in sich, sondern bei der Umkehrung, sonst entsteht kein Folgesatz. Obiger Schluß gilt also nicht, ebensowenig, wie wenn man sagt: wird die Phantasie fortgenommen, so bleibt das Erkennen nicht übrig, folglich ist die Phantasie edler als das Erkennen. Ebensowenig gilt: nimm die Quantität weg, so wird das Wirken weggenommen, folglich ist die Quantität der Hauptgrund des Wirkens.
27  Ferner: wie man sagt, ist eine Aussage, die an sich wahr ist, in allen Fällen wahr. Wenn also "einer gerade deshalb Gott wohlgefällig ist, weil er ein Wissender ist", dann wäre jeder Wissende Gott wohlgefällig. Das aber ist offensichtlich falsch, wie aus dem Wort des Apostels erhellt: 'so daß sie (3) unentschuldbar sind' usw. (Röm. 1,20). Ferner: wäre jemand gerade deshalb Gott wohlgefällig, weil er ein Wissender ist, so wäre der, welcher mehr weiß, Gott wohlgefälliger, und der, welcher am meisten weiß, ihm am wohlgefälligsten. Das ist falsch; denn es gibt viele einfache Männer und Frauen, die Gott wohlgefälliger sind als die großen Gelehrten. Ferner: das ist nicht die entscheidende Ursache für etwas, was mit dessen Gegenteil vereinbar ist; Wissen ist aber mit dem Gegenteil der Gottwohlgefälligkeit vereinbar.
28  Ferner zum Achten: wenn sie von der Freiheit sagen, die Unstofflichkeit sei die Ursache der Freiheit, so kann man das verneinen. Denn ich glaube eher, daß die Engel und die Seele aus Materie und Form zusammengesetzt, als daß sie einfach sind, wie wir anderwärts ausgeführt haben. Zugegeben aber, daß ein freies Wesen unstofflich sei, so genügt doch die Unstofflichkeit nicht zur (Begründung der) Freiheit; denn sonst wäre auch der Habitus eines unstofflichen Vermögens frei. Das ist aber nicht der Fall. Ferner: Unstofflichkeit ist eine gemeinsame Eigenschaft von Verstand und Wille; wie sich also hieraus schließen läßt, daß der Verstand frei ist, so auch der Wille.
29  Zum Neunten: wenn sie sagen, der Wille könne sich für Verschiedenes nur entscheiden, insofern es erfaßt ist, so ist das wahr. Daraus folgt aber nicht, daß die Freiheit nur in dem (Vermögen) liegt, welches die verschiedenen Ziele erfaßt, vielmehr liegt hier der Trugschluß des Folgesatzes vor.
  Zu Gregor von Nyssa bemerke ich, daß ich die angeführten Worte bei ihm nicht gefunden habe, vielmehr diese: "jedes überlegende Wesen überlegt, was es tun soll, da ja die Wahl bei ihm liegt". Und weiter unten: "(der Mensch hat) freien Willen, weil er vernünftig ist". Dies ist meines Erachtens richtig, insofern 'vernünftig' die Begriffsbestimmung der Wesenheit (des Menschen) besagt, und nicht eines (besondern) Vermögens.
30  Zum Zehnten: wenn jene sagen: etwas hat die Wesensbestimmtheit des Besten vom Verstand, weil das Wahre auch die Wesensbestimmtheit des Besten ist, so ist dazu zu sagen: wenn sie denken, das Wahre sei die Wesensbestimmtheit des Besten in dem Sinne, daß die Wesensbestimmtheit des einen die Ursache des andern ist, oder daß das Wahre die Ursache des Besten ist, so ist das falsch; oder daß die Wesensbestimmtheit beider die gleiche ist, so ist (auch) das falsch. Wird hingegen (ihr Verhältnis) als Miteinander gedacht, so ist das wahr, weil das eine nicht ohne das andere ist; daraus folgt (aber) nichts für die vorliegende Frage. Es ist ebenfalls nicht wahr, daß etwas die Wesensbestimmtheit des Besten hat, weil es erkannt wird.
31  Zum Elften: wenn sie sagen: der Verstand bewegt als Ziel, so ist das falsch. Denn die Erfassung (des Zieles) ist zwar an sich zur Bewegung des Willens notwendig, aber sie bewegt nicht als Ziel, weil sonst die Erfassung als solche und in erster Linie erstrebt würde; das ist aber falsch. Vielmehr bewegt die erstrebenswerte Wirklichkeit als Ziel, die freilich nicht bewegen könnte, wenn sie nicht vorher erfaßt würde. Denn die Tätigkeit des Verstandes ist an sich zu den Tätigkeiten des Willens erforderlich und ist deren Ursache. Sie ruft diese zwar nicht durch sich hervor, sondern leistet (zu ihrer Setzung) folgende Beihilfe: damit ein Wirkendes auf das Erleidende einwirkt, ist die Annäherung des Wirkenden an das Erleidende erforderlich, und das Wirkende hätte keinen ausreichenden Grund zu wirken, wenn die Annäherung ausbliebe, wiewohl nicht die Annäherung der Grund für die Setzung des Aktes ist, sondern die Wesensform des Wirkenden. So ist es auch im vorliegenden Falle. Die Erfassung tritt nämlich hier an die Stelle der Annäherung, weil der Gegenstand durch die Erfassung gegenwärtig wird; und wie nicht die Annäherung der Grund für die Setzung des Aktes ist, sondern die Wesensform des Wirkenden, so ist auch die Erfassung nicht der Grund für die Setzung des Aktes, sondern der Wille selbst.

Zu den Hauptgegengründen

32  Zum Ersten ist zu sagen: die innigere und unmittelbarere Einigung beweist nichts für den höheren Adel eines Aktes, wenn nicht die edlere Natur eines Vermögens dabei mitwirkt.
  Zum Zweiten ist zu sagen: der Lobpreis ist nicht wesensmäßig ein Akt seliger Wesen, sondern nur beiläufig. Auch sind die Erdenpilger als solche nicht armselig, weil einer nur durch seinen eignen Willen armselig wird.
  Zum Dritten ist zu sagen: das Lieben besagt, soweit die vorliegende Frage in Betracht kommt, ein Streben zu Gott hin. Es ist aber edler, zu Gott hinzustreben, als Ziel der Bewegung eines andern Dinges zu sein, wie das beim Erkennen der Fall ist.
  Zum Vierten ist zu sagen: beide Vermögen bringen ihren Akt in sich selbst hervor. Zugegeben auch, der Wille bringe seinen Akt in sich selbst hervor, und Gott bewirke die Schau im Verstand, so gilt auch dann der Gegenbeweis nicht, weil die Tatsache, daß der Wille seinen Akt in sich selbst hervorbringt, nicht ausschließt, daß Gott denselben als Hauptursache hervorbringt.
  Zugegeben weiter, Gott sei nicht in besonderer Weise im Akt des Willens wirksam, so gilt auch dann das Argument noch nicht; denn daß der Akt, der von einer edleren Ursache bewirkt wird, edler ist, ist nur in dem Falle wahr, daß die Ursache mit ihrer ganzen Kraft wirkt. Andernfalls ist es nicht notwendig. Gott wirkt aber bei der Verursachung der seligen Schau nicht mit seiner ganzen Kraft, der Wille dagegen wirkt seinen Akt mit seiner ganzen Kraft.
  In stärkerem Maße eine Einwirkung zu erleiden, hebt ebenfalls den Adel des Erleidenden nicht auf, wenn es sich nicht um ein Erleiden handelt, bei dem man den entgegenstehenden Besitz preisgibt. In stärkerem Maße aber eine Einwirkung zu erleiden, die Bewahrung und Vervollkommnung bedeutet, hebt den Adel des Erleidenden nicht auf.

  (Verfasser:) Der Franziskaner Gonsalvus.

4. Quaestio

Schließt die Behauptung, eine Bewegung sei ohne Grenze (4), einen Widerspruch ein?
Utrum aliquem motum esse sine termino implicet contradictionem


1  Wie es scheint, nein. Denn es findet sich tatsächlich eine Bewegung ohne Grenze, nämlich die Bewegung des Himmels.
2  Dagegen spricht: die Grenze der Bewegung fällt mit der Bewegung zusammen. Wer also die Grenze der Bewegung leugnet, leugnet die Bewegung selbst.
3  Man muß sagen, daß jene Behauptung einen Widerspruch einschließt. Denn es ist etwas nicht in Bewegung, wenn es nicht in Bewegung gesetzt worden ist. Ferner hätten wir in diesem Falle eine Möglichkeit ohne Verwirklichung.
  Zu dem Gegenbeweis aus der Bewegung des Himmels ist zu sagen, daß die Frage nach dem Ausgangspunkt (5) der Himmelsbewegung hier ausscheidet. Deshalb bleibt nur die Untersuchung des Ansatz- und des Zielpunktes der Bewegung übrig.
4  Vom Ansatzpunkt der Bewegung läßt sich sagen, daß er der Träger der Bewegung ist, und dies ist das erste Bewegliche. Der erste bewegliche Körper ist also der erste Körper, in Anbetracht, daß der erste Körper weniger an Potenz hat und folglich auch weniger an Bewegung; als erstem Beweglichen eignet ihm ein Minimum von Bewegung. Denn einige Eigenschaften bedeuten eine Vollkommenheit, andere eine Unvollkommenheit. Bewegt werden, besagt aber eine Unvollkommenheit. Und deshalb hat etwas um so weniger von Bewegung und örtlicher Bestimmtheit, je vollkommener es ist, und weil der Himmelskörper in der Vollkommenheit an erster Stelle steht, deshalb wird er auch am wenigsten bewegt und dem Ort nach bestimmt, vielmehr bewegt er alles andere und bestimmt dessen Ort. Die Erde nämlich bestimmt nichts dem Ort nach, das Wasser schon mehr, und so hat in aufsteigender Linie (der Himmelskörper) am wenigsten von Bewegung, weil er nur eine Ortsbewegung hat, desgleichen auch nur ein Wo, und er befindet sich nur der Vorstellung nach (in Bewegung) von einem zum andern.
  Ferner gibt es (bei ihm) nur eine Bewegung, und er wird nur seinen Teilen nach bewegt, nicht seinem Mittelpunkt nach: denn er ist das erste Bewegliche nach dem Unbeweglichen, das in ihm ist, weil das eine Vollkommenheit darstellt: deshalb muß er in sich selbst bewegt werden, nicht in seinem Mittelpunkte.
5  Wenn man dagegen als Beweis anführt: die Teile haben doch bloß ein mögliches Sein, so ist zu erwidern, daß dieser Beweis das Gegenteil beweist. Denn eben weil (die Teile) ein mögliches Sein haben, wird (der Himmelskörper) seinen Teilen nach bewegt, da ja die Bewegung die Wirklichkeit des in der Möglichkeit Befindlichen ist. Denn die Ursache der Veränderlichkeit und der Unveränderlichkeit ist in allen Dingen das Ganze und der Teil; denn was ein volles Sein besitzt, wie Gott, ist unbeweglich, was hingegen nur einen Teil des Seins besitzt, ist veränderlich. Das sagt Thomas in der Frage über das Übel, im Artikel über die Dämonen, in der zweiten Frage, in der Lösung eines Argumentes.
  Und so wird der Himmel (nur) seinen Teilen nach bewegt, weil er das Erste ist; daher hat er nur eine und zwar einförmige Bewegung, woraus folgt, daß sie keinen Gegensatz hat. Die Astronomen aber fanden eine Verschiedenheit (der Bewegungen) am gestirnten Himmel und stellten daher die Behauptung auf, er sei nicht das erste Bewegliche.
6  Als Zielpunkt der Himmelsbewegung aber wurde zwar von alters her das Entstehen und Vergehen der niedern Dinge hier bezeichnet. Dagegen ist aber zu sagen, daß der Himmel in seiner Bewegung dem zustrebt, dem die Materie zustrebt. Da diese kein ganzes Sein hat, sondern nur ein partielles, deshalb erstrebt sie alle Formen; so hat der Himmel, weil er ein Quantitatives ist, Teile, und weil er keinen Ort besitzt, so sucht er ihn: daher bewegt er sich, um das Wo aller Teile rechts und links zu erhalten.
7  Oder man könnte sagen, daß der Himmelskörper der oberste ist. Zur Natur des Oberen aber gehört es, Einfluß auszuüben und Sein zu verleihen, und zur Natur des Niederen, Sein zu suchen; zur Natur des Oberen gehört es, daß es jedem Niederen gegenwärtig ist, und zwar durch sich als Ganzes und durch jeden seiner Teile dem Niederen als Ganzem und jedem seiner Teile. Und da es dies nicht zu gleicher Zeit kann, deshalb übt es seinen Einfluß auf das Niedere nach und nach aus. Was ist also sein Zielpunkt? Darauf ist zu sagen, daß es nichts für sich selbst erstrebt, wie auch das Auge nicht für sich selbst sieht, sondern für das Ganze, da es sein Sein um des Ganzen willen hat und seinem ganzen Sein nach diesem Ziel dient. Deshalb ist auch der Zielpunkt, dem der Himmel in seiner Bewegung zustrebt, das Sein des Weltalls oder die Erhaltung des Weltalls.
5. Quaestio

Sind bei dem Tode Christi am Kreuze
die Formen der Elemente in seinem Leibe erhalten geblieben?

Utrum in corpore Christi morientis in cruce remanserint formae elementorum


1  Es wird zunächst bewiesen, daß es sich so verhält. Denn werden die ersten (Bestandteile eines Dinges) zerstört, so kann nichts übrig bleiben. Nun treten hier (am Leibe Christi) bestimmte Qualitäten in die Erscheinung. Also bleiben (die ersten Bestandteile).
  Dagegen spricht: dann wären vier verschiedene Körper vorhanden.
2  Hier ist nun die erste Frage, ob in jedem zusammengesetzten Ding mehrere substantiale Formen sind. Ich erkläre dazu, daß in jedem zusammengesetzten Ding nur eine substantiale Form ist. Zweitens werde ich sagen, wie in dem Zusammengesetzten die Elemente bleiben. Drittens werde ich zeigen, daß in einem gestorbenen Lebewesen keine Form erhalten bleibt; und wenn sie erhalten bleibt, so benennt sie ihren Träger nicht; und wenn sie (ihn) benennt, so nur im Sinne eines Verlustes; und wenn sie in Christus bliebe, so darf sie nicht als angenommen bezeichnet werden.
  Im Hinblick auf diese Fragen zeige ich zuerst, daß ein anderes Verhalten bei dem Vergehen der Elemente festzustellen ist, ein anderes bei dem der zusammengesetzten Dinge; zweitens zeige ich, daß das Sein dem Ganzen zukommt und nicht dem Teile; drittens, daß jedem Ganzen ein einfaches Sein zukommt; viertens, daß jede Wirkung in ihrer Ursache ist und jedes Niedere in seinem Oberen, und daß es in keiner andern Weise und nirgendwo anders ist.
3  Zum ersten Punkt sage ich, daß in den einfachen Dingen die Luft vergeht und das Feuer entsteht. Die universale Natur, die wie ein Familienvater ist, erstrebt das Vergehen, weil sie anders das Entstehen nicht haben, noch für das Weltall sorgen könnte. Diese Natur aber erstrebt das Vergehen nicht an sich, sondern nur beifolgend. Alles Beifolgende läßt sich auf ein 'An sich' zurückführen; und es wird so zurückgeführt, weil es auf die gemeinsame Gattung zurückgeführt wird. Es wird aber auf eine bestimmte Art zurückgeführt durch das Abwerfen der Form der Luft. Dagegen wird es bezüglich des materialen Seins auf die Materie zurückgeführt.
  In den zusammengesetzten Dingen ist das Verhalten aber ganz anders. Denn wenn ein Zusammengesetztes entsteht und vergeht, so treten andere Formen an seine Stelle. Die Natur, die für das Weltall sorgt, erstrebt das Entstehen und Vergehen eines jeden, um dem Entstehen zu dienen. Denn in erster Linie erstrebt sie die Erhaltung des Weltalls, und (nur) um ihretwillen erstrebt sie einen Verlust (von Formen). Erst in zweiter Linie werden (Übergangs)formen erstrebt, nämlich beifolgend in Anbetracht jenes Verlustes. Und deshalb sind jene Übergangsformen weder in einer Gattung noch in einer Art, weil sie sich vermittelst des (vorausgegangenen) Verlustes (auf die ursprüngliche Form) zurückführen lassen. Deshalb stellt eine solche Form kein positives Sein dar, sondern bedeutet einen Verlust, und das erstrebt die Natur nicht. Der Formverlust, der durch den Tod eintritt, läßt sich also auf das Lebendige zurückführen.
4  Zweitens sage ich: das Sein ist Sache des Ganzen und nur des Ganzen. Und weil das Ganze eins ist, deshalb ist auch das Sein eins. Und weil der Teil als Teil immer ein Vieles ist, deshalb ist der Teil die Grundlage der Zahl, das Ganze aber ist fest gegründet in dem Einen und das Eine in dem Ganzen. Deshalb hat der Teil kein Sein, weil er ein Vieles ist, und alle (Teile) sind (nur) eins, weil das Sein eins ist. Der Teil also als Teil hat keinerlei Sein, sondern er besitzt nur Sein, weil er auf das Ganze als auf das (eigentliche) Sein hingeordnet ist. Deshalb ist der Teil, sofern er des Ganzen ermangelt, ein Nichtseiendes, aber insofern er auf das Ganze hinblickt, hat er Sein. Wie das Werden deshalb Sein hat, weil es auf das Sein hingeordnet ist, so ist der Teil der Weg zum Ganzen und zum Sein; auch das Akzidenz hat nur Sein vom Ganzen, was die Wesensbestimmtheit des Ersten ist. Und es gibt zehn erste Gattungen, weil alle das Sein von dem Ersten selbst empfangen. Denn jeder Teil empfängt das Sein vom Ganzen, im Ganzen und für das Ganze, weil 'alles durch ihn und in ihm'. (Kol. 1,16) und für ihn ist. Denn 'in ihm durch ihn ist alles' (Röm. 11,36).
5  Zum Dritten sage ich: dem Ganzen kommt das Eine und Einfachste zu, und das ist das Sein, weil es das erste ist; deshalb muß (das Sein) eins sein.
  Ferner: die Teile bringen das Sein nicht, sondern empfangen es. Deshalb ist nur ein Sein. Denn die Einheit gründet im Sein. Daher sagt Boethius: "alles strebt nach dem Sein." Die Zahl nämlich ist nichts, weil sie nicht eins ist. Denn da die Zahl ein Abfall vom Einen ist, so auch vom Sein. Auch die Zeit als Zahl ist deshalb nichts, weil sie nicht eins ist, sondern Zahl. Deshalb ist das Seiende und das Eine vertauschbar, weshalb Boethius sagt: "alles, was ist, ist deshalb, weil es eins ist an Zahl."
6  Zum Vierten sage ich: jede Wirkung ist in ihrer Ursache und in ihr allein. Denn Polyklet ist nicht Ursache des Hauses als Mensch - das ist hier nebensächlich -, auch nicht als Polyklet, noch als Baumeister; sondern deshalb, weil er tatsächlich das Haus baut, ist er die Ursache des Hauses und seines Werdens. Das Gebautwerden hört aber sofort auf, wenn das Bauen aufhört; denn durch das Bauen hat das Gebautwerden seinen Bestand. Und deshalb ist dieses in jenem, von jenem und durch jenes.
7  Und so ist in jedem Obern jedes Niedere als solches, und dies ist nur insoweit, als jenes ist. Deshalb muß es eine Ordnung in der Natur geben, die in nichts anderm besteht als in dem (Zueinander) von Oberem und Niederem. Ein Beispiel: das Wasser bewegt sich (durch Eigenbewegung) nach unten und unter dem Einfluß des Mondes nach oben, und diese Bewegung ist schneller und leichter. Ein Beispiel bietet auch die Sonne.
  Nunmehr sage ich zu dem ersten Artikel: in einem Zusammengesetzten gibt es nur eine substantiale Form, weil die Form das Sein verleiht und kein Akzidenz ist, und alles andere empfängt das Sein von der substantialen Form.
  Ferner: das Sein ist eines. Die substantiale Form aber verleiht das Sein. Also ist sie eine.
  Ferner: die Form ist eine substantiale. Also verleiht sie das Sein durch die Substanz. Also ist sie eine. Die Materie ist aber ohne Zusatz bloß.
  Ferner: die Kunst setzt eine Veränderung voraus usw., das Entstehen aber betrifft unmittelbar das Sein.
  Ferner: jede substantiale Form ist ganz im Ganzen und ganz in jedem Teil, weil sie jeder akzidentalen Form vorausgeht; von jener hat alles sein Sein.
  Ferner: Materie und Form sind zwei Prinzipien, sie haben aber ein Werden und ein Sein; insofern sie nämlich ein Sein machen, sind sie nicht zwei. Ein Beispiel: Vater und Sohn hauchen (den Heiligen Geist als ein Prinzip).
8  Zweitens: bezüglich der Elemente ist folgendes zu sagen: Avicenna lehrt im 1. Buch seiner Physik Kap. 10, daß sie in den substantialen Formen zurückbleiben. Der Kommentator aber sagt am Schluß der Schrift Vom Himmel und der Welt, daß die Formen der Elemente wegen ihrer nahen Verwandtschaft mit der Materie der Steigerung und Herabminderung unterliegen. Thomas aber lehrt, daß die Form des Zusammengesetzten eine eigene Dualität besitzt, die auf die Form vorbereitet. Diese selbst aber geht voraus und ist eine einzige Form, wie etwa die intellektive Form, als die vollkommenste, zugleich sensitiv ist; das gilt entsprechend auch sonst. Und weil sie ein Ganzes besagt, deshalb wird sie nicht geteilt und enthält das Ganze virtuell in sich und ist mehr geeint und innerlicher. So verhält es sich mit der Form des Zusammengesetzten.
9  Drittens: bei Christus muß man sagen, daß jene Form, zugegeben, sie sei wirklich vorhanden, ihn nicht benennt, weil sie vorübergehend, ja sogar nur beifolgend ist; und wenn sie ihn benennt, so nur im Sinne eines Verlustes, weil die bleiche Farbe nichts positiv setzt. Zugegeben auch, daß sie Sein hätte, so wird sie doch nicht angenommen; denn das zur Persönlichkeit gehörige Sein (Christi) blieb immer, und die Beschaffenheit kam (erst) nachher.

Anmerkungen Geyer
1 d. h. der Akt; die "erste" Wirklichkeit ist demgegenüber das Seelenvermögen [S. 38, Anm. 1].
2 hier soviel wie "lautere" Wirklichkeit (actus purus) [S. 40, Anm. 1].
3 Ergänze: trotz ihrer Gotteserkenntnis [S. 67, Anm. 1].
4 Wie Eckharts Ausführungen zeigen, nimmt er das Wort terminus (= Grenze) in drei Bedeutungen, die wir in der Übersetzung mit drei verschiedenen Worten wiedergeben müssen: terminus a quo = Ausgangspunkt; terminus in quo = Ansatzpunkt, Substrat; terminus in quem = Zielpunkt [S. 72, Anm. 1].
5 Das heißt nach dem Ursprung [S. 72, Anm. 2].

6. Quaestio
  Im Druck Grabmanns von 1927 (s. Edition) sind auf den S. 115-120 "Zweifelhafte Quaestionen Eckharts" angeführt, die nach Grabmann und dem Urteil seinerzeitiger namhafter Eckhartexperten Meister Eckhart abzusprechen wären. Diese Einschätzung hat sich erst in den letzten Jahren geändert, weshalb Loris Sturlese sie in den Lateinischen Werken Band 1,2 auf den S. 461-469 neu edierte (Ausgabe Dez. 2011 ) und in der 10.-13. Lieferung 2015 übersetzte (S. 717-726). Ausführlicher dazu unter 2015.

7. Quaestio


8. Quaestio


9. Quaestio

  Die Übersetzung und die Anmerkungen entsprechen dem Abdruck in: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Die lateinischen Werke, Kohlhammer Stuttgart 1./2. Lfg. 1936, S. 37-83. Die Texteinschübe und Verweise auf Bibelstellen Geyers in () sind etwas eingerückt. Die Nummerierung entspricht dem Abdruck. Seine Anmerkungen - im Gegensatz zum Original fortlaufend nummeriert - sind in (runde) Klammern gesetzt.

Edition
  Martin Grabmann, [Grabmann], S. 101-114 und 115-120
  P. Ephrem Longpré O.F.M., Questiones inédites de maître Eckart O.P. et de Gonzalve de Balboa O.F.M., in: Revue néoscolastique de philosophie 26, 1927, S. 69-85
  Bernhard Geyer (Ed.), Magistri Echardi Quaestiones et sermo Parisienses, in: Florilegium Patristicum Fasc. XXV, Bonnae 1932, S. 5-28
  Bernhard Geyer (Hg. und Übersetzer), Magistri Echardi Quaestiones Parisienses una cum quaestione magistri Consalvi, LW 5, Kohlhammer Stuttgart 1936, S. 37-83
  Loris Sturlese (Hg. und Übersetzer), Magistri Echardi Quaestiones Parisienses. Supplementum, LW 1,2, Kohlhammer, Stuttgart 2015, S. 461-469 (Ed.) und S. 717-726 (Üb.)
  Magistri Echardi Opera Latina. XIII. Quaestiones Parisienses, ed. Antonius Dondaine O.P., Lipsiae F. Meiner 1936
  Eine neue Edition des lateinischen Textes von Burkhard Mojsisch aus dem Jahr 2008 findet sich auf den Seiten der Bibliotheca Augustana von Prof. em. Ulrich Harsch (Augsburg).

Beschreibung
  Diese Quaestionen sind in zwei Handschriften überliefert (Q. 1-3 im Cod. 1071 der Stadtbibliothek von Avignon und Q. 4-5 im Cod. Vat. Lat. 1086 der Bibliotheca Vaticana - s. unter den Links zu den Handschriften für weitere Informationen).
  "Außer dem Vortrag zur Einführung in die Sentenzenbücher sind uns von der zweimaligen Pariser Lehrtätigkeit Eckharts als Magister (1302-1303 und 1312-1314 [1311-1313]) nur die Nachschriften einiger Disputationen und einer Predigt erhalten geblieben. Trotz ihres geringen Umfangs nehmen diese Quaestionen unter den lateinischen Schriften unseres Meisters eine hervorragende Stellung ein. Ohne sie würde uns ein wesentlicher und sehr kostbarer Teil des Eckhartschen Geisteswerkes fehlen, da viele der dort vorgetragenen Ideen und Beweise sich in den übrigen Schriften nicht oder wenigstens nicht in dieser besonderen Ausprägung finden. Auch aus den anderen scholastischen Quaestionen, in die sie in der Überlieferung eingebettet sind, heben sie sich nach Inhalt und Form heraus. Wer das Bündel scholastischer Quaestionen verschiedener Pariser Lehrer dieser Zeit durchblättert, wird bei den Quaestionen Eckharts unwillkürlich aufhorchen und durch die Originalität und Kühnheit der Ideen und Formulierungen überrascht und gefesselt werden." Geyer, Einleitung, S. 29.

  Was die (3.) Quaestio des Gonsalvus betrifft, so existiert eine Handschrift, in der die zitierten (s.o.) Gründe Eckharts nicht aufgeführt sind. Nach eingehender Analyse kommt Geyer dann zu folgendem Schluß:
  "Ich bin deshalb der Meinung, daß die Argumente Eckharts und ihre Widerlegung nicht zur ursprünglichen Disputation gehört haben, das heißt, daß Eckhart nicht in der Disputation diese Argumente vorgetragen hat, sondern daß dieser ganze Teil bei der literarischen Bearbeitung der Quaestio durch Gonsalvus, wie sie in A vorliegt, hinzugefügt worden ist. Wahrscheinlich hat dabei Gonsalvus eine schriftliche Fixierung dieser Argumente Eckharts vorgelegen, etwa das Reportatum einer Eckhartschen Quaestio über diesen Gegenstand, das uns nicht erhalten ist. Das würde die Bedeutung dieser rationes Equardi erhöhen, indem es sich dabei nicht um zufällig in einer Disputation vorgebrachte Argumente, sondern um die Wiedergabe einer eigenen Quaestio Eckharts handeln würde, wenn auch in verstümmelter Form." (S. 33)

  Die 4.-9. Quaestio sind leider nur als Reportationes, d.h. als Nachschriften erhalten, weshalb sie einiges von ihrem ursprünglichen Umfang eingebüßt haben. Eckharts Aussagen sind deshalb quasi nur noch in Stichworten erhalten und lassen - gerade im Bezug auf die ersten beiden Quaestionen - ihre einstige Reichhaltigkeit nur noch ahnen.
  Warum zunächst nur die 4. und 5. Quaestio in die LW aufgenommen wurden und die verbleibenden vier jetzt in LW 1,2 ediert wurden, ist ausführlich in LW 1,2, S. 455-460 erklärt.
  S. auch Werk - Quaestiones.

Datierung
  Die Festlegung der ersten drei Quaestionen auf das erste Pariser Magisterium Eckharts (1302/03) ergibt sich zum einen daraus, daß sein Name am Schluss angegeben ist und die Einbettung innerhalb der Handschrift in Quaestionen anderer Magister, die 1302-1303 mit ihm in Paris gelehrt haben (wie Arnaldus de Tolosa, Johannes de Polliaco und Gonsalvus Hispanus, der spätere Ordensgeneral der Franziskaner) und deren Namen ebenfalls teilweise angegeben werden.
  Die Nachschriften der letzten sechs Quaestionen befinden sich in einer Handschrift des Augustinereremiten Prosper von Regio Emilia, die eine Sammlung von über 500 Quaestionen aus den Jahren 1311-12 (Teil A, f. 101-175) und 1312-14 (Teil B, f. 176-325) enthält, an denen Prosper persönlich teilgenommen hat. Sie werden Eckhart zugewiesen durch den Namen M. Ayerdus (zur 4. Quaestio) und durch eine Notiz M. Aycardus (5.-9. Quaestio).