Sermo paschalis 1
a. 1294 Parisius habitus

fr. Eckhart, Lektor der Sentenzen,
Ostersonntag, den 18. April 1294
pascha
Text
Edition

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Beschreibung
Datierung


Pergamenthandschrift, Kremsmünster, zwischen 1294 und 1298,
Kremsmünster, Stift, Cod. 83, f. 35r.
Quelle: homo doctus - homo sanctus [Stadtmuseum, S. 34]

Als unser Osterlamm ist Christus geopfert worden.
Und so laßt uns ein Mahl halten.

(1 Kor. 5,7.8)

Ein Freudenmahl mußte gehalten werden,
denn dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden.

(Luk. 15,32)

  1 Dieses Prothema steht, wie man sehen kann, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Thema und der heutigen Festfeier. Cicero, den Augustin unter allen Rhetoren ganz besonders empfiehlt, schreibt ja sowohl in der alten wie in der neuen Rhetorik, daß es u.a. vier Dinge sind, die begierig von den Hörern aufgenommen werden, wenn nämlich das, was vorgetragen wird, die einzelnen betrifft, wenn es unglaublich ist, weil wunderbar, wenn es neu ist, weil ungewöhnlich, und wenn es gewaltig ist, weil übernatürlich. So werden auch diese vier Dinge in den hier an zweiter Stelle vorgetragenen Worten nahegelegt. Denn das betrifft die einzelnen, was heute die Kirche begeht: das geht aus den Worten: "dein Bruder", das ist Christus, hervor. Ferner ist es unglaublich, denn es ist höchst wunderbar, weil "Gott, der eine geistige" und unbegreifliche "Kugel ist, deren Mittelpunkt überall, deren Oberfläche nirgends ist", unter der Gestalt des Brotes zum Genuß vorgelegt wird. Daher "mußte ein Freudenmahl gehalten werden" (Luk. 15,32). Ferner ist es neu, weil nämlich das Leben stirbt. Darum heißt es: "er war tot". Und es ist gewaltig: "und er ist wieder lebendig geworden", weil der Tote wieder dem Leben geschenkt wurde, und zwar aus eigener Kraft, um ewig zu leben.
  2 Zum ersten: es geht um deine Angelegenheit. Deshalb heißt es: "er ist ja unser Bruder und unser Fleisch" (Gen. 37,27); und: "das ist nun Bein von meinem Bein (und Fleisch von meinem Fleisch" (Gen. 2,23).
  Und dies ist unglaublich, weil er unter der Gestalt des Brotes vorgelegt wird. Deshalb heißt es bei Jesaias (53,1) und im Brief an die Römer (10,16): "Herr, wer hat dem Hören (unserer Worte) Glauben geschenkt?", als wollte er sagen: es ist unglaublich. Es heißt aber: "dem Hören", vielleicht deshalb, weil "der Glaube aus dem Hören" (Röm. 10,17), oder vielleicht, weil im Sakrament des Altares der Verstand entleert wird, Gesicht, Geschmack und die anderen Sinne gefangengehalten werden und nur das Hören nicht gebunden uns die Wahrheit kündet. Darum kann er jenes Wort sagen: "ich bin allein entkommen, um es dir zu künden" (Hiob 1,15).
  Es ist auch neu, weil das Leben stirbt, das heißt Christus. Darum heißt es: "ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh. 14,6); und: "was gemacht ist, war in ihm Leben" (Joh. 1,3.4).
  Ferner ist es gewaltig, weil "er wieder lebendig geworden ist". Daß ein Toter wieder lebendig geworden ist, ist bisweilen schon vorgekommen, daß einer aber sich selbst auferweckt hat, um ewig zu leben, das ist etwas ganz Gewaltiges und Ungewöhnliches. Daher heißt es: "ich bin der Erste und der Letzte, und ich lebe und ich war tot und siehe, ich lebe in Ewigkeit" rief an (Offb. 1,17.18). Und Augustin schreibt im zweiten Brief an Volusian: "es war nicht notwendig, daß Gott eine neue Welt schuf, er schuf aber Neues in der Welt. Denn der Mensch, der aus der Jungfrau geboren vom Tod zum ewigen Leben im Himmel erstand, ist wohl ein mächtigeres Werk als die Welt".
  Und es ist nicht verwunderlich, wenn wir das, was dem Wortlaut nach von dem verschwenderischen und bösen Sohn gemeint ist, von Christus auslegen, da ja von Christus geschrieben steht: "er wurde zu den Übeltätern gerechnet" (Luk. 22,37). Daher heißt es auch bei Jesaias (53,6): "Gott hat unser aller Bosheit auf ihn gelegt".
  3 Um aber das, was wir an erster Stelle vorgetragen haben, noch angemessener auszulegen, wollen wir zuerst beten. Augustin nun lehrt im Buch der Selbstgespräche zu Anfang die Gebetsweise und sagt: "Gott, Schöpfer des Alls, verleih mir zuerst, daß ich dich recht bitte, und dann, daß du mich würdig machst, mich zu erhören, und dann, daß du mich erhörst"; denn gut beten heißt viel erlangen.
  "Als unser Opferlamm (ist Christus geopfert worden)".
  4 Wenn die Mutter ihr Kind zum Essen und der Arzt den Kranken zur Einnahme der Medizin anregen will, dann empfiehlt jeder das Seine, denn eine gute Meinung darüber nützt am ehesten und eine solche erste Vorstellung von etwas Gutem hilft manchmal mehr als ein Arzt mit seinen Instrumenten. Und so ist es vorgekommen, wie sie (die Ärzte) berichten, daß ein Huhn aufgrund der bloßen Vorstellung sich der äußeren Veranlagung nach in einen Hahn verwandelt hat. Der Apostel, der uns zum Genuß des Osterlammes anregen will, bringt daher zuerst dessen Erhabenheit vor mit den Worten: "als unser Osterlamm (ist Christus geopfert worden)". Zweitens ermahnt er uns in rechter Ordnung zum würdigen Empfang eines so großen Sakraments (mit den Worten): "und so laßt uns denn ein Mahl halten", (und zwar so), daß dieser Ausdruck "und so" adverbial aufgefaßt wird, das heißt: "laßt uns ein Mahl halten" in Übereinstimmung mit einem so großen Sakrament.
  5 Zuerst also empfiehlt er dieses Ostermahl, weil es sowohl den Leib wie die Seele neu belebt. Darum heißt es: "er wird hineingehen", das heißt: um die Seele neu zu beleben, "und wird herausgehen und Weide finden" (Joh. 10,9). Von der Erhabenheit dieses Ostermahls heißt es im Buch der Weisheit (16,20.21): "es hat alle Freude und die Süßigkeit jeden Geschmackes an sich" "und dient dem Wunsch eines jeden einzelnen". Darum sagt Augustin im 3. Kapitel der Sentenzen Prospers: "alle Vollkommenheit ist aus Christus und in Christus, worüber hinaus die Hoffnung nichts hat, worauf sie sich erstrecken könnte. Das Ziel der Gläubigen ist Christus, und wenn der Laufende mit all seiner Anspannung bis zu ihm gelangt ist, dann gibt es nichts, wohin er noch weiter eilen könnte, vielmehr ist er im Besitz dessen, in dem er verharren soll". Dies zum ersten Punkt.
  6 Nun zum zweiten Punkt: "und so laßt uns ein Mahl halten", d.h., so, wie es dem Sakrament entspricht.
  Um aber die Erhabenheit des Sakraments, seine Empfehlung und die Verfassung der würdig Empfangenen zu erlangen, wollen wir für den Moment drei entsprechende Aspekte betrachten, nämlich wem dieses Ostermahl bereitet wird, zweitens, wo (es bereitet wird), und drittens, was es bewirkt.
  7 Zum ersten muß man wissen, es wird den Armen bereitet und denen, die ein reines Gewissen haben und die die Welt verachten.
  Zum ersten heißt es im Psalm (67,11;21,27): "du, Gott, hast es in deiner Süßigkeit dem Armen bereitet"; und: "die Armen werden essen" - dazu die Glosse: "den Armen", d.h. den Verächtern der Welt und den Demütigen - "in deiner Süßigkeit" - dazu die Glosse: "nicht in der Süßigkeit der Welt, die bitter ist" -. Darum schreibt Augustin in einem Brief an Armentarius und Paulina: "Dort ist Mühsal, wo vieles gesucht und geliebt wird, um das zu erlangen und festzuhalten, reicht der Wille nicht aus; bei dir sein aber ist Leben, es zu wollen aber ist Gerechtigkeit. Siehe, wo Mühsal ist, da reicht der Wille nicht hin. Deshalb wurde vom Himmel her gesagt: 'auf Erden Frieden den Menschen eines guten Willens' (Luk. 2,14). Wo Friede, da ist Ruhe; wo Ruhe, da ist Ende des Strebens und kein Grund zur Mühsal".
  8 Man kann aber für den Moment einen doppelten Grund angeben, weshalb Gott "den Demütigen Gnade" gibt, wie es im Brief des Jakobus (4,6) und anderswo (1. Petr. 5,5; vgl. Spr. 3,34) heißt. Wenn Gott aber Gnade in Teilen gibt, um wieviel mehr in diesem Sakrament, in dem die Quelle der Gnade verborgen ist. Und in anderen Schriften wird mit großer Wahrscheinlichkeit behauptet: je tiefer und niedriger jedes Empfangene ist, um so empfänglicher ist es. Je tiefer eine Seele, die dieses Sakrament empfangen soll, durch die Demut am Boden liegt, um so empfänglicher ist sie für Gott. Darum sagt Augustin: "Gott ist ganz Auge, ist ganz Hand und ganz Fuß"; ganz Auge, weil er alles sieht, ganz Hand, weil er alles wirkt, ganz Fuß, weil er überall ist und nirgends einen Ort hat. Wenn ihn die gläubige Seele aufnehmen will, muß sie sich durch Demut darauf einrichten.
  9 Zweitens wird dieses Ostermahl auch den Verächtern der Welt bereitet, aus zwei Gründen: Erstens, weil nach Augustin jedes Metall durch Berührung mit einem weniger edlen Metall eine fremdartige Färbung annimmt und im Wert sinkt, wie z.B. das Gold durch Berührung mit Silber. Also wird Gott gewissermaßen Unrecht angetan, wenn ihn jemand empfängt, der die Welt liebt, weil er, soweit es an ihm liegt, ihn in seiner Vortrefflichkeit gewissermaßen herabsetzt.
  10 "Du, Gott, hast bereitet". So wird deutlich, von wem es bereitet wird, nämlich von Gott. Und das ist nicht verwunderlich, denn wir sehen ja auch, daß die Natur, die gänzlich verdorben, schwach und begrenzt ist, in kurzer Zeit etwas Großes und Lebendes hervorbringt aufgrund der Anziehungskraft der Feuchtigkeit. Weit eher ist es möglich, daß aus der göttlichen Macht in kurzer Zeit dieses Sakrament hervorgebracht wird, denn je stärker das Wirkende ist, um so kürzer ist das Wirken, wie es in anderen Schriften heißt. Daher sagt (der Psalmist) bezeichnenderweise: "du, Gott, hast bereitet".
  11 Drittens wird es denen bereitet, die ein reines Gewissen haben. Daher wird Moses gesagt, daß die Unreinen "im zweiten Monat" das Ostermahl feiern sollten (Num. 9,10f.). Und als David in der Not die Schaubrote genießen wollte, (wurde ihm gesagt): "nur wenn die Kinder rein sind" (1 Kön. 21,6.4). Und bei Matthäus (27,59) heißt es: "Joseph nahm den Leib des Herrn und wickelte ihn in reine Leinwand". Also wird es nur den Reinen bereitet. Dionysius spielt daher im 3. Kapitel 'Von der kirchlichen Hierachie' auf unser Thema: "als unser Osterlamm ist Christus geopfert worden" an: "die zur heiligsten Opferfeier schreiten, müssen sich bis auf die letzten Vorstellungsbilder der Seele reinigen und in möglichst treuer Angleichung zu ihr hinzutreten". Zum Zeichen dessen wusch und reinigte auch Christus die Füße der Jünger (vgl. Joh. 13,5), um damit darauf hinzuweisen, daß auch die geringsten Flecken zu entfernen seien.
  12 Wo es bereitet wird, wird bei Ezechiel (34,14) deutlich: "auf den hohen Bergen Israels", "dort sollen sie ruhen"; "an fruchtbaren Stätten", "auf sprossenden Auen" "soll ihre Weide sein" usw.
  13 Nirgendwo besser ... (Lücke im Text) ..., von wem (es bereitet wird), als wenn wir sehen, was er sagte, als er nach dieser Vorbereitung gefragt wurde: "wo, willst du, sollen wir das Ostermahl bereiten?" Bei Markus (14,12f.) heißt es, daß "er zwei seiner Jünger aussandte", bei Lukas (22,8-12), daß er Petrus und Johannes aussandte mit der Weisung: "geht hin und bereitet uns das Ostermahl zu, damit wir es essen können. Auf ihre Frage: 'wo sollen wir es bereiten?' antwortete er ihnen: gebt acht, sobald ihr in die Stadt hineinkommt, wird euch ein Mann begegnen, der einen Krug mit Wasser trägt; folgt dem in das Haus, in das er hineingeht, und sagt dem Eigentümer des Hauses: der Meister läßt dich fragen: wo ist der Speisesaal, worin ich mit meinen Jüngern das Ostermahl essen kann? Dann wird er euch ein geräumiges, mit Polstern ausgestattetes Obergemach zeigen. Dort bereitet das Mahl!" Petrus heißt soviel wie "der Erkennende". Die Selbsterkenntnis und die der eigenen Schwäche ist also eine der Bedingungen zur Vorbereitung. Darum heißt es: "Es prüfe sich aber der Mensch" (1. Kor. 11,28): Augustin sagt am Anfang des 4. Buches 'Über die Dreifaltigkeit': "das Wissen um die irdischen und himmlischen Dinge pflegen die Menschen hoch einzuschätzen; darin sind wahrlich die besser, die diesem Wissen die Kenntnis ihrer selbst vorziehen. Daher ist die Seele mehr gutzuheißen und zu loben, der ihre eigene Schwachheit bekannt ist, als die Seele, die sich darum nicht kümmert und die Bahnen der Gestirne erforscht, selbst wenn sie sie kennenlernen wird". Deshalb wollte Adam eine Menge Wissen erwerben und verlor es. Und Albert sagte oft: "Dies weiß ich, wie wir es eben wissen, denn wir wissen alle wenig". Zu tadeln sind daher alle die, die sich vermessen um ein solches Wissen kümmern und ihr Gewissen vernachlässigen. Augustin sagt daher im Büchlein 'Über die christliche Lehre' aufgrund der Überzeugung, daß viele mehr den Mantel als die Seele, mehr den Tod als das Leben lieben, denn die Bewährung kommt von der Seele. Er sagt daher: "du liebst einen guten Mantel und willst ihn, du liebst ein gutes Haus und willst es" usw. "Schließlich willst und wünschst du auch einen guten Tod. Wenn du darum nicht ein gutes Leben oder eine gute Seele liebst, willst du ihn nicht. Du fürchtest, nicht gut zu sterben, dann fürchte, nicht gut zu leben. Es kann einer nicht schlecht sterben, der gut gelebt hat. Und ich bekräftige das, und mit allem Freimut sage ich ganz sicher: es kann einer nicht schlecht sterben, der gut gelebt hat".
  14 Er sandte auch Johannes voraus, d.h. den, "in dem Gnade ist", denn aus der Erkenntnis der eigenen Schwäche erheben sich Demut und Gnade. Jeder aber, der stolz ist, ist kein Wissender. Darum heißt es in den Sprichwörtern des Ptolemäus: "wer unter den Weisen der Demütigere ist, der ist unter ihnen der Weisere". Denn "Demütigung wird in deiner Mitte sein" (Mich. 6,14). Wenn du dich innerlich erkennst, wirst du dich oft demütigen.
  Petrus und Johannes gingen also zusammen. Darum heißt es: "beide eilten zusammen, und der andere Jünger lief schneller als Petrus und kam zuerst an das Grab" (Joh. 20,4). Petrus ging also zuerst hin, aber Johannes lief voraus, denn die Gnade erhebt dorthin, wohin die Natur nicht gelangen kann.
  Petrus und Johannes bereiten also vor. Daher sagt Augustin im Buch 'Über die Gnade und den freien Willen': "Gott vollendet in uns durch sein Mitwirken, was er durch sein Wirken beginnt. Er beginnt in uns und wirkt, daß wir wollen, er wirkt mit den Wollenden mit und vollendet. Er wirkt, daß der Mensch will, er wirkt mit, daß er nicht vergebens will".
  15 Er sandte also die Zwei mit den Worten: "geht in die Stadt"; denn in dem Empfang dieses Sakramentes muß Vereinigung der Wünsche, die auf Gott gerichtet sind, herrschen. Daher heißt "Stadt (civitas)" soviel wie "Vereinigung der Bürger (civium unitas)", in der das Ostermahl bereitet wird. Dionysius erklärt daher an der gleichen Stelle wie oben, warum dieses Sakrament eine heilige Vereinigung oder Synaxis genannt wird: "eine jede heilige vervollkommnende Handlung sammelt unsere geteilten Leben zur einheitlichen Vergöttlichung und verleiht eine gottförmige Verknüpfung und Vereinigung der getrennten". Und wenn das jede heilige Handlung bewirkt, so bewirkt es weit mehr dieses Sakrament. Daher verleiht man mit Recht diesem Sakrament den Namen "Vereinigung".
  Der Name "Stadt" meint auch "Befestigung": "wer wird mich in die befestigte Stadt führen?" (Ps. 59,11). Denn dort fließt der Quell aller Gnaden.
  16 Weil dieses Ostermahl den Demütigen, den Verächtern der Welt und den Reinen bereitet wird, ist es nicht verwunderlich, wenn es von denen, die an der Fieberglut der Leidenschaft für irdischen Dingen leiden, nicht geschätzt wird, denn es ist etwas Großes. Deshalb heißt es: "ein geräumiges, mit Polstern ausgestattetes Obergemach; dort bereitet (das Ostermahl)". Daher sagt Augustin im 7. Buch der 'Bekenntnisse' von sich selbst: "ich konnte nicht einmal ahnen, welches Geheimnis dieses Wort in sich schließt: 'das Wort ist Fleisch geworden'", und ich trug bei mir nur die Erinnerung, angefüllt mit Irdischem. Danach fand er, "es sei nicht verwunderlich, daß kranken Augen das Licht verhaßt ist, das gesunden Augen liebenswert ist, und daß einem kranken Gaumen die Speise bitter ist, die dem gesunden Gaumen süß ist". Und anschließend heißt es: "ich fand mich weit entfernt von dir, als hörte ich deine Stimme aus der Höhe: ich bin eine Speise der Großen; wachse, dann wirst du mich essen. Du wirst mich nicht in dich verwandeln wie die Speise deines Fleisches; sondern du wirst in mich verwandelt werden". Daher besteht zwischen Körperlichem und Geistigem dieser Unterschied: das Körperliche enthält in sich einen Inhalt; nicht so bei dem Geistigen, im Gegenteil, die Seele im Körper enthält diesen. Und je reiner eine Speise ist, um so schneller und leichter wird sie in das Innere gezogen, ebenso wie der Mensch, je reiner er ist, (um so schneller und leichter) durch dieses Ostermahl Christus eingegliedert. Augustin sagt danach an derselben Stelle: "ich hörte, wie man im Herzen hört, so daß es da überhaupt nichts zu zweifeln gab, eher hätte ich daran gezweifelt zu leben, als daran, dies zu hören". Deshalb heißt es: "wer mein Fleisch ist und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm" (Joh. 6,57), und: "wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viele Frucht" (Joh. 15,5). Diese Frucht möge uns der Herr selbst schenken. Amen.

1 Die Übersetzung entspricht dem Abdruck in: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Die lateinischen Werke, LW 5, Kohlhammer Stuttgart 3. /4. Lfg. 1988, S. 136-148. Die Texteinschübe und Verweise auf Bibelstellen Sturleses in () sind etwas eingerückt. Die Ziffern vor den Absätzen entsprechen der dortigen Nummerierung.

Edition
  Loris Sturlese, Herausgeber und Übersetzer, Magistri Echardi sermo paschalis a. 1294 Parisius habitus, in: LW 5, S. 132-148.
  "An der Edition der Pariser Osterpredigt arbeitete bis zum Tage seines Todes P. Heribert Fischer. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, daß ich mir seine wichtigen Vorarbeiten und insbesondere seine Arbeitsübersetzung des Textes zunutze machen konnte." (Einleitung, S. 135)

Beschreibung
  Grundlage der Edition ist die Handschrift 'P' der Stiftsbibliothek Kremsmünster, eine der "zahllosen Predigtsammlungen für das Kirchenjahr, die zur Ausstattung jeder mittelalterlichen Klosterbibliothek gehörten (..) Sie enthält 223 zum größten Teil anonym überlieferte Predigten (..) Das 44., dem Osterfest gewidmete Stück trägt am Rand den Vermerk: fr. Ekhardus, lector Sententiarum."
  "Die Predigt ist ein sehr schönes Beispiel für die literarische Gattung der 'akademischen Predigt' (..) Man erkennt die bei feierlichen Anlässen übliche Disposition mit Prothema (n. 1-2), Gebet (n. 3) und Thema (n. 4 ff.) wieder; man vernimmt an mehreren Stellen den Klang des ursprünglichen color rhetoricus (n. 4 Ende, n. 6, n. 7 Beginn); man sieht die bereits professionelle Gewandtheit, mit welcher sich der Bakkalar in den biblischen und in den augustinischen Texten zu bewegen wußte." (Einleitung, S. 133/34) - vgl. Loris Sturlese, Meister Eckhart. Ein Portrait [Sturlese, Portrait]

Datierung
  "Den eingehenden Forschungen P. Kaeppelis, welcher als erster auf diese Predigt hinwies und der Kremsmünsterer Hs. eine analytische Studie widmete, verdanken wir nicht nur überzeugende Argumente zugunsten der Identität des fr. Ekhardus mit dem später, 1302, zum Meister avancierten Eckhart von Hochheim, sondern auch den definitiven Beweis dafür, daß die Sammlung aus Nachschriften von Predigten besteht, die zwischen Mai 1293 und Mai 1294 in verschiedenen Kirchen von Paris, vorwiegend aber bei den Dominikanern von St. Jacques, gehalten wurden." (Einleitung, S. 133)
  "Sa [Eckharts] présence dans le sermonnaire de Kremsmünster nous permet de dater le premier séjour de frère Eckhart à Paris et nous savons désormais que sa lecture des Sentences est à placer en 1293-94. La distance assez consíderable qui sépare cette date de sa maîtrise en théologie (1302) n'est pas un fait unique dans l'histoire de la carrière universitaire des maîtres de Paris. Eckhart prêche le jour de Pâques 1294; il se trouve donc à Paris au moins depuis septembre 1293." Th. Kaeppeli, Praedicator monoculus. Sermons parisiens de la fin du XIIIe siècle, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 27, S. Sabina Roma 1957, S. 120-167, hier: S. 160.
  Diese Sammlung "überliefert die erste lateinische Predigt Eckharts, vielleicht sogar sein erstes literarisches Produkt überhaupt, jedenfalls eines der seltenen Dokumente seiner akademischen Predigertätigkeit in Paris. Die Kremsmünsterer Sammlung enthält ferner Elemente, die uns erlauben, die Predigt auf Ostern des Jahres 1294 zu datieren." (Einleitung, S. 134).
  Siehe auch Acta n. 4.