Text (mhdt. - nhdt.) Anmerkung |
Filiation Hss.-Chronologie |
Bearbeitung
Beschreibung Datierung |
hi lerit meister Eckart daz man obirwindin sal virleige riche, daz man unsis herrin Ihesu Christi riche obirwindin sal mit craft der minne. [Strauch, S. 4]
Zum mittelhochdeutschen Text |
Sant Paulus sprichet: die heiligen hânt überwunden diu rîche mit dem glouben.
Sankt Paulus spricht: 'Die Heiligen haben die Reiche mit dem Glauben überwunden' (Hebr. 11,32 f.).
Vier künicrîche hânt die heiligen überwunden, und diu suln wir ouch überwinden. Daz êrste rîche ist diu werlt; der werlt rîche sol man überwinden mit armuot des geistes. Daz ander rîche ist unsers vleisches; daz suln wir überwinden mit hunger und mit durste. Daz dritte rîche ist des tiuvels; daz suln wir überwinden mit jâmer und mit pîne. Daz vierde rîche ist unsers herren Jêsû Kristî; daz suln wir überwinden mit kraft der minne [1].
Vier Königreiche haben die Heiligen überwunden, und die sollen auch wir überwinden. Das erste Reich ist die Welt; der Welt Reich soll man überwinden mit Armut des Geistes. Das zweite Reich ist das unseres Fleisches; das sollen wir überwinden mit Hunger und mit Durst. Das dritte Reich ist das des Teufels; das sollen wir überwinden mit Jammer und mit Pein. Das vierte Reich ist das unseres Herrn Jesus Christus; das sollen wir überwinden mit der Kraft der Liebe [1].
Hæte der mensche alle die werlt, sô sol er doch sich dünken arm und sol alle zît ûzrecken die hant vür die tür unsers herren gotes und biten umbe daz almuosen der gnâde unsers herren, wan diu gnâde machet sie gotes kint. Dar umbe sprichet Dâvît: herre, alliu mîniu gerunge ist vor dir und nâch dir. Sant Paulus sprichet: alliu dinc sint mir als ein pfuol, umbe daz ich gewuocher unsern herren Jêsum Kristum. Ez ist unmügelich, daz deheiniu sêle âne sünde sî, gotes gnâde envalle in sie. Der gnâde werk ist, daz si die sêle snel machet und gevüege ze allen götlîchen werken, wan diu gnâde vliuzet ûz dem götlîchen brunnen und ist ein glîchnisse gotes und smacket als got und machet die sêle gote glîch. Swenne sich diu selbe gnâde und der smak wirfet in den willen, sô heizet ez ein minne; und swenne sich diu gnâde und der smak wirfet in die redelîche kraft, sô heizet ez ein lieht des glouben; und swenne sich diu selbe gnâde und smak wirfet in die zürnerîn, daz ist diu ûfkriegende kraft, sô heizet ez ein hoffenunge. Dar umbe heizent sie götlîche tugende, daz sie götlîchiu werk würkent in der sêle, als man prüeven mac bî der kaft der sunnen, daz si lebendigiu werk würket ûf dem ertrîche, wan si alliu dinc lebendic machet und entheltet an irm wesene. Vergienge daz lieht, sô vergiengen alliu dinc, als dô sie niht enwâren. Alsô ist ez in der sêle: swâ diu gnâde ist und diu minne, dem menschen sint lîhte ze tuonne alliu götlîchiu werk, und ist ein gewis zeichen, swelhem menschen swære sint ze tuonne götlîchiu werk, daz dâ kein gnâde inne ist. Dar umbe sprichet ein meister: ich enurteile die liute niht, die guotiu kleit tragent oder wol ezzent, ob sie die minne hânt. Ich enhân mich ouch niht grœzer, ob ich ein hart leben hân, dan ob ich prüeve, daz ich der minne mê hân. Ez ist ein grôz tôrheit, daz manic mensche vil vastet und betet und grôziu werk tuot und alle zît aleine ist, daz er niht enbezzert sîne site und ist ungeruowic und zornic (1). Er solte prüeven, dâ er allerkrenkest ane wære, dâ solte er sînen vlîz zuo kêren, wie er daz überwünde. Swenne er wol geordent ist an sînen siten, swaz er danne tuot, daz behaget gote.
Besäße der Mensch die ganze Welt, so sollte er sich doch arm dünken und sollte allzeit die Hand der Tür unseres Herrn und Gottes entgegenstrecken und um das Almosen der Gnade unseres Herrn bitten, denn die Gnade macht die Menschen zu Kindern. Darum spricht David: 'Herr, mein ganzes Verlangen ist vor dir und nach dir' (Ps. 37,10). Sankt Paulus spricht: 'Alle Dinge sind mir (soviel) wie ein Pfuhl, auf daß ich unsern Herrn Jesus Christus gewinne' (Phil. 3,8). Es ist unmöglich, daß irgendeine Seele ohne Sünde sei, ohne daß Gottes Gnade in sie falle. Der Gnade Werk ist, daß sie die Seele behende macht und gefügig für alle göttlichen Werke, denn die Gnade fließt aus dem göttlichen Born und ist ein Gleichnis Gottes und schmeckt wie Gott und macht die Seele Gott ähnlich. Wenn sich eben diese Gnade und dieser Geschmack in den Willen wirft, dann heißt dies Liebe; und wenn sich die Gnade und der Geschmack in die Verstandeskraft wirft, dann heißt dies ein Licht des Glaubens; und wenn sich die nämliche Gnade und der Geschmack in die "Zürnerin" (= irascibilis, Zornkraft), das ist die aufstrebende Kraft, wirft, dann heißt dies Hoffnung. Darum heißen sie göttliche Tugenden, weil sie göttliche Werke in der Seele wirken, so wie man an der Kraft der Sonne erkennen kann, daß sie belebende Werke auf der Erde wirkt, denn sie macht alle Dinge lebendig und erhält sie in ihrem Sein. Verginge dieses Licht, so vergingen alle Dinge (und würden so), wie da sie noch nicht waren. Ganz so ist es in der Seele: Wo die Gnade ist und die Liebe, da sind dem Menschen alle göttlichen Werke leicht zu tun, und es ist ein sicheres Zeichen, daß da, wo es einem Menschen schwer fällt, göttliche Werke zu tun, keine Gnade darin ist. Darum sagt ein Meister: Ich verurteile die Leute nicht, die gute Kleider tragen oder gut essen, dafern sie Liebe haben. Ich halte mich auch nicht für größer, wenn ich ein hartes Leben habe, als wenn ich feststelle, daß ich mehr Liebe habe. Es ist eine große Torheit, daß mancher Mensch viel fastet und betet und große Werke verrichtet und sich allzeit allein hält, wenn er nicht seinen Lebenswandel bessert und unruhig und zornig ist (1). Er sollte darauf achten, worin er am schwächsten wäre; darauf sollte er seinen Fleiß richten, wie er das überwände. Wenn er wohlgeordnet ist in seinem Wandel, was immer er dann tut, das ist Gott wohlgefällig.
Und alsô überwindet man diu rîche.
Und so 'überwindet' man die 'Reiche'.
Anmerkung Quint
1 Wie ich .. gesagt habe, bezieht sich der Rv. oben S. 139,2 [Pr. 32] wohl auf die vorliegende Textstelle [S. 155, Anm. 1].
Eigene
1 Über die Begriffe Welt, Fleisch, Teufel und Jesus / Gott spricht Eckhart auch in Sermo XXXIV,1: "Hierzu ist erstens zu bemerken, daß Gott Heiligkeit fordert, die Welt Eitelkeit, das Fleisch Lust, der Teufel Stolz oder kalten Hochmut" (n. 335, S. 293) und "Nach Bernhard ruft die Welt: ich lasse im Stich; das Fleisch: ich vergifte; der Teufel: ich betöre; Christus: ich erquicke" (n. 339, S. 295) [S. 151, Anm. 1].
1 Der mittelhochdeutsche Text und die Anmerkung Quints (in runden Klammern) entsprechen dem Abdruck in: "Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Die deutschen Werke 2, Kohlhammer Stuttgart 1971, S. 150-155" ergänzt um die Nachträge S. 926.
Der nhdt. Text entspricht der Übersetzung in DW 2, S. 664f. Die Zeilenangaben sind von mir hinzugefügt. Die Texteinschübe und Verweise auf Bibelstellen Quints in Klammern sind etwas (eingerückt).
Bearbeitung
Textausgabe: Strauch, Nr. 49, S. 110-111.
Edition: Quint, DW 2, S. 148-155.
Literatur: s. Predigten.
Filiation
"O und H2 stehen in dem bekannt engsten Verwandtschaftsverhältnis. Ihnen stehen deutlich Wo1 und N1 eng miteinander verbunden gegenüber. Der Text von N4, der sich auch im vorliegenden Falle 'interpolierend und exegesierend verhält' (..), verrät eindeutig, daß er mit Wo1N1 auf eine gemeinsame, schon fehlerhafte Vorlage zurückgeht (..). Die an den aufgeführten Stellen bereits verderbte gemeinsame Vorlage von Wo1N1N4 ist in Wo1N1 fraglos ursprünglicher erhalten als in N4, das, wie gesagt, an vielen Stellen deutliche Texterweiterungen enthält, die oft in bloßer Verdoppelung eines Ausdrucks durch einen variierenden andern bestehen (..). Das hindert nicht, daß N4 gelegentlich auf der Seite von OH2 steht und mit ihnen den ursprünglicheren Text bewahrt, (..). Die gemeinsame Vorlage von Wo1N1 ist in Wo1 besser erhalten als in N1, das, wie auch sonst durchgängig, Fehllesarten aufweist, wo Wo1 mit den übrigen Texten das Ursprüngliche bewahrt (..). - Was OH2 betrifft, so war auch der Prototyp dieser beiden Texte nicht frei von Fehlern (..)" [DW 1, S. 148].
Handschriften (chronologisch)
Hs. | Datum | Mundart | Herkunft | Textbestand |
Wo1 | Mitte 14. | mitteldt. | ? | vollständig |
O | (Mitte) 14. | md. mit rheinfränk. Einschlag | Mainz, Kartäuser | vollständig |
H2 | Mitte / 2. H. 14. | westmd.-rheinfränk. | Ort? Katharinenkloster ? | vollständig |
N1 | 2. H. 14. | bairisch | Nürnberg, Dominikanerinnen | vollständig |
Lo4 | 1430/40 | md., thür. | ? | vollständig |
N4 | 1440-1450 (1447) | nürnberg. | Nürnberg, Dominikanerinnen | vollständig |
Beschreibung
Die Predigt ist in den Paradisus-Hss. O und H2 sowie in 4 Hss. ausschließlich vollständig überliefert. Durch die Paradisus-Hss. ist die Predigt für Meister Eckhart bezeugt.
Datierung
"Die Predigt ist nicht nur durch Rückverweis und durch die angegebenen Textübereinstimmungen mit der voraufgehenden Predigt 32 verbunden, sondern auch in denselben Handschriften OH2 und Wo1 überliefert, u. zw. in Wo1 unmittelbar vor Pr. 32" (DW 2, S. 149). Ansonsten findet Quint kaum Parallelen zu anderen deutschen Predigten, je zwei zu den Sermones XXXIV,1 und LVI (auf den gleichen Schrifttext) und keine zu den lateinischen Werken.
Es treffen damit die gleichen Überlegungen wie zur Datierung der Pr. 32 zu, dass der Text vielleicht vor 1300 in Erfurt entstanden ist, was den Sermo XXXIV,1 aufgrund der "vier Reiche" ebenfalls in diese Zeit legen würde.