Meister Eckharts Kernsätze seiner Lehre 1

von Freimut Löser
loeser
1. abegescheidenheit
2. ledic sîn selbes, einvaltiges guot
3. edelkeit der sêle
4. lûterkeit götlicher natûre
Inklusen


  Eckhart hat in einer Predigt die Kernsätze seiner Lehre zusammengefaßt. Kurt Ruh, einer der ersten überhaupt, der sich in der Germanistik der geistlichen Literatur des Mittelalters richtig zuwandte, hat diese Sätze Eckharts als 'geistliches Predigtprogramm' bezeichnet. Eckhart gilt bei vielen als 'schwierig' – und das hat (glücklicherweise) verhindert, daß er in der gegenwärtigen Mystik- und Esoterikwelle so populär ist wie beispielsweise Hildegard von Bingen. Aber Eckhart ist ganz einfach zu verstehen. Man muß nur gut zuhören:
  Wenn ich predige, dann pflege ich von vier Dingen zu sprechen. Erstens von Abgeschiedenheit und daß der Mensch frei und ledig sein muß – von sich selbst und von allen Dingen. Zweitens pflege ich davon zu sprechen, daß man wieder hineingebildet und zurückgeformt werden soll in das einzige und einfältige, wahrhaft eine Gut, das Gott ist. Zum dritten sage ich, daß man die große Edelkeit und den Adel bedenken muß, den Gott der Seele mitgeteilt hat, damit der Mensch mit diesem Adel wieder in einem Wunder zu Gott zurückgelangt. Viertens spreche ich von der Lauterkeit, Reinheit und Klarheit der göttlichen Natur – welche Klarheit und Reinheit die göttliche Natur besitzt, das ist unaussprechlich. Gott ist ein Wort, ein ungesprochenes Wort. [Predigt 53]

  Zum ersten spricht Eckhart also von Abgeschiedenheit. Was ist damit gemeint? Im Mittelalter gab es (und auch heute noch gibt es) viele Menschen, die glaubten (und glauben), das Heil sei nur in der Abkehr von der Welt zu finden. Für diese Menschen bedeutete damals "Abgeschiedenheit" den Rückzug von der Welt, das Leben in einer klösterlichen, weltabgewandten Gemeinschaft, oder – noch besser – das Eremitentum. Menschen zogen sich in die Einsamkeit der Wälder, in die Ödnis der Berge zurück oder sie ließen sich gar – als sogenannte Inklusen – einmauern (und nur durch ein kleines Loch in der Wand mit Nahrungsmitteln versorgen). In diesem freiwilligen Rückzug von der Welt, in der Besinnung nur auf Gott allein, in freiwilliger Selbstkasteiung sahen sie die einzige Möglichkeit, zu Gott zu finden. Das ist es nicht, was Eckhart meint und will. "Abgeschiedenheit" bedeutet für ihn nicht Einsiedlertum oder den Rückzug hinter Klostermauern. "Abgeschiedenheit" ist eine Haltung, keine Lebensform: Ich kann mitten in der Welt stehen, und die Welt doch nicht wichtig nehmen. Ich kann mitten im Trubel "abgeschieden" sein, dann nämlich, wenn ich ganz bei mir bin.
  Im Mittelalter stritt man sich darum, welche Lebensform die bessere sei. Die vita activa, das aktive Stehen in der Welt und das Annehmen der Herausforderungen, die die Welt in sich trug, oder die vita passiva, der Rückzug von der Welt, die selbstvergessene Versenkung in sich selbst und in Gott. Die beiden Beispielfiguren dafür waren immer schon Maria, die Schwester des Lazarus, und Martha: Maria, die selbstvergessen und ganz versunken zu den Füßen Christi sitzt und ganz ihm hingegeben ist, und Martha, die geschäftig in der Küche wirkelt. Hatte nicht Christus gesagt, Maria habe den besseren Teil erwählt? War also die vita passiva nicht besser als das Wirken in der Welt? Eckhart aber lobt Martha [s. Predigt 2]. Man muß in der Welt wirken (man kann Gott, sagt Eckhart, auf der Straße genauso finden, wie in der Kirche). Aber dieses Wirken in der Welt bedeutet gleichzeitig den Verzicht auf das eigene Selbst. "Abgeschiedenheit" meint vor allem eines: Freiheit von der eigenen Person. Wer sich von der Welt zurückzieht, wer in der Einsamkeit Gott sucht, der findet, meint Eckhart, dort vor allem nur eines: Sich selbst. Die Visionen, die er vielleicht hat, können Trugbilder sein, die ihm die eigene Psyche vorgaukelt. Das Wirken in der Welt kann nicht Selbstzweck sein: Die Liebe zum Nächsten, Mitleid und caritatives Wirken kann sich als wahre Tugendhaftigkeit äußern. Aber wahre Tugend kann man nicht haben, man muß sie immer neu erwerben. Aber wenn ich auch Tugenden erwerbe, wenn ich gerecht lebe, wenn ich auch noch so viele gute Werke tue, so muß ich immer wissen: Diese Werke sind nicht mein Verdienst. Gott selbst ist es, der sie in mir und durch mich wirkt. Ich bin nur Gottes Werkzeug. Und: Gott fragt nicht nach meinen einzelnen Tugenden, er fragt danach, was ich bin. Gerechtigkeit und Nächstenliebe, die guten Werke – alle diese Dinge schaffen keinen Zugang zu Gott; schon gar nicht, wenn ich glaube, daß ich damit einen Zugang zu Gott erwerben und rechtmäßig besitzen kann. Ein gutes Werk, das ich darum tue, um Gott zu gefallen, mich bei ihm "anzubiedern" oder um in den Himmel zu gelangen, ist wertlos. Weil ich dieses gute Werk zu einem Zweck tue und mein eigenes Streben damit höher stelle als Gott. Den Zugang zu Gott kann mir nur Gott eröffnen. Ich kann ihn deshalb in der Welt, wo er sich offenbart, ebenso finden, wie im Rückzug in die Einsamkeit. Die Grundvoraussetzung dazu, daß ich ihn finde, kann ich nur schaffen, indem ich mich ganz und gar von mir selbst (von meinem eigenen Ich, von meinem eigenen Streben) befreie. Erst wenn ich von meinem eigenen Ich völlig losgelöst bin, erst wenn ich, wie Eckhart sagt, ein leeres Gefäß bin, dann findet Gott in mir den Platz, den er braucht, um sich zu entfalten.
  "Abgeschiedenheit", wie Eckhart sie versteht, heißt deshalb Freiheit und Befreiung vom eigenen Ich, vom Egozentrismus, die Auflösung der Grenzen zwischen Ich und Umwelt, die Hingabe an Gott und an seine Schöpfung. Das ist es, was auch Marguerite Porète meinte, wenn sie von der vernichteten Seele spricht, oder was die Nonnen im Lied besingen, wenn sie sagen, Eckhart spreche vom Nichts. Im Vergleich zur Allmacht Gottes ist der Mensch ein reines Nichts. Das muss er verstehen, wenn er Gott verstehen will.
  Damit kommt ein anderer, für Eckhart sehr wichtiger Begriff ins Spiel: Armut. Die Diskussion um die freiwillige Armut Christi und seiner Jünger, der Streit um die Armut hat das Mittelalter bewegt und erregt wie kein zweiter. Im frühen 13. Jahrhundert hatte der heilige Franziskus, hatten seine Gefährten und die Brüder seines Ordens (und nach der heiligen Klara auch die Schwestern) allen vorgelebt, wie das gehen konnte: Auf allen Besitz, auf jedes Eigentum zu verzichten und den höchsten, den einzig wahren Reichtum dabei zu finden: Gott. Franziskus bedeutete für das Mittelalter mindestens zweierlei: er bedeutete den freiwilligen Verzicht des Reichen auf seinen Reichtum, die Hinwendung des Wohlhabenden zu den Armen. Er bedeutete auch, daß die Armen, die Entrechteten, aus der untersten Schicht der Bevölkerung einen neuen Weg zu Gott finden konnten: "Beati pauperes" hieß es im Evangelium; "Selig die Armen".
  Eckhart ist da in anderer Hinsicht vielleicht noch radikaler als Franziskus: Armut, wahre Armut, das heißt für ihn nicht nur den Verzicht auf den Reichtum dieser Welt. Armut heißt konsequent: Verzicht auf Eigentum. Dafür erfindet er das Wort: Eigenschaft. Ein Mensch ohne Eigenschaft, das ist in Eckharts Augen einer, der freiwillig auf alles Eigene verzichtet, nicht nur auf den eigenen Besitz und auf die Reichtümer dieser Welt. Ein Mensch ohne Eigenschaft, das ist einer, der auf sein eigenes Streben, sein eigenes Wollen, seinen eigenen Willen verzichtet. Ein Mensch, der soweit geht, daß er nur den Willen Gottes will. Eckhart fordert deshalb sogar, daß man im Gebet, im wahren Gebet auf jedes Bitten verzichten muß. Nicht: "Gib mir Gesundheit, gib mir dies oder jenes". Wer Gott, sagt Eckhart, um einen Schuh oder um eine Kuh bittet, der macht aus Gott einen Schuh oder eine Kuh. Weil er will, daß Gott ihm das gibt, was er will. Gott will aber nur um eines gebeten sein: Um Gott. Damit läuft für Eckhart jedes Gebet, jedes wahre Gebet, auf eine einzige Bitte hinaus: Nicht mein Wille geschehe, sondern Deiner. Oder wie es im Vaterunser heißt: "Dein Wille werde". Wenn man so bittet, sagt Eckhart, dann kann Gott gar nicht anders, er muss uns zuhören. Und so besitzt der wahrhaft Arme, der, der auf alles verzichtet, sogar und zuletzt auf sich selbst, so besitzt der wahre Bettler den höchsten Reichtum, nämlich Gott. Aber natürlich besitzt er Gott nicht, denn Gott läßt sich nicht besitzen, er wird nie anders erreicht als dass er sich selbst den Menschen schenkt. Wie aber erreicht man diese göttliche Gnade? Man muss auf sich selbst verzichten, um Gott zu finden.
  Und damit sind wir bei Eckharts zweitem Punkt: Zweitens, sagt er, geht es darum, wie man in das einzige und einfältige Gut zurückfindet, das allein Gott ist. Im Grund geht es jeder Form von Mystik (sei es in der christlichen, sei es in den Upanischaden, bei den islamischen Sufis, oder sei es im fernöstlichen Zen-Buddhismus) um das Verhältnis des Einen zum Vielen. Gott ist das wahrhaft Eine, wir sind aus ihm ausgeflossen, wir sind das Viele. Wie führt der Weg zurück? Mystik hat eigentlich immer Eines (das Eine) zum Ziel: Die unmittelbare Erfahrung des Göttlichen, die Vereinigung mit dem Grund und mit der Ursache alles Seienden. Ziel ist die Vereinigung. Mittel sind oft Askese (Selbsterniedrigung und Selbstkasteiung), Meditation (Versenkung) und Kontemplation (Mitfühlen mit Gott). Mystik wird also definiert als "cognitio Dei experimentalis", als unmittelbare Gotteserkenntnis durch die eigene Erfahrung. Man empfindet und erlebt Gott durch Visionen (indem man ihn schaut), und durch Auditionen (indem man Gottes Stimme hört). Eines ist auch klar: Eine solche Gotteserfahrung kann nicht festgehalten werden; sie ist nur in wenigen gnadenvollen Momenten möglich: Eckhart nennt das den "Durchbruch". Aber das ist nur wenigen gegeben. Es gab und gibt eine Mystik der Erfahrung und der Empfindung (man spricht von praktischer oder Erlebnismystik). Das hat Eckhart selbst, wie er sagt, nie erlebt und es blieb ihm fremd. Im Mittelalter gab es Formen der Frömmigkeit und der Mystik, die nach dieser unmittelbaren Gotteserfahrung strebten, und die uns heute befremden: Gebetsübungen, in denen man stundenlang und tagelang dieselben Worte wiederholte um sich selbst zu vergessen, ekstatische Verzückungen, in denen Nonnen in ihrer Vorstellung das Jesuskind säugten oder Christi Wunden befühlten; es gab blutige Selbstkasteiungen. Eckharts eigener Schüler, Heinrich Seuse, trug ein Nagelkreuz auf der Brust und schlug sich blutig, um die Passion Christi selbst nachzuerleben. Diese Form der Frömmigkeit lehnt Eckhart ab. Denn sie kann uns täuschen, und sie kann zu falscher Sicherheit, zu Selbstgerechtigkeit, dem Bewußtsein der Erwähltheit und zu Überheblichkeit führen.
  Daneben gibt es aber auch eine spekulative Mystik. Eine Mystik des Denkens, die sich Eckhart eröffnet hat, und die sich jedem erschließen kann. Wie immer man Mystik versteht, es geht immer um den Punkt, den Eckhart benennt: Wie ist die Rückkehr zu dem Einen möglich, aus dem wir alle hervorgegangen sind? Eckharts Antwort ist deutlich: Nicht auf dem Weg, den vor allem die Nonnen zu seiner Zeit zu beschreiten versuchten, nicht über Selbstkasteiungen, Visionen, Entrückung und Verzückung. Eckharts Weg führt über die Reflexion.
  Und damit sind wir schon bei dritten (und vorletzten) Punkt von Eckharts 'Predigtprogramm'. Was kann es bedeuten, wenn ein Prediger des Mittelalters, der doch gerade die Armut, den Selbstverzicht, die Aufgabe alles eigenen Wollens gefordert hat, so selbstsicher und überzeugt vom Adel der menschlichen Seele spricht, von ihrer Edelkeit, die ihr die Rückkehr zu Gott ermöglichen soll? Eckharts Begriff vom 'Adel der Seele' [in Predigt 101] nimmt bezug auf einen Streit, der das Mittelalter bis dahin entzweit hatte. Es gab zwei Positionen; und beide nahmen ihren Ausgangspunkt in der Heiligen Schrift. Das erste Wort Gottes "Ego sum qui sum" ("Ich bin, der ich bin") beschrieb ihn als das Sein – das erste Wort des Johannes-Evangelium ("In principium erat verbum" = "Am Anfang war das Wort") beschrieb ihn als das Wort. Sein Leben lang hat Eckhart um diese Positionen gerungen. War Gott das Sein, und – wie die Franziskaner im Mittelalter behaupteten – damit die Liebe oder war er das Wort, die Sprache und – wie sein dominikanischer Orden lehrte – also die Vernunft? Heute mag uns das seltsam vorkommen. Aber zur Zeit Eckharts tobte ein wahrhaft ernsthafter, ein entzweiender, ein heftiger Streit darum, ob Gott besser durch die Liebe oder besser durch die Vernunft zu erfassen sei. Eckhart fand eine einfache Antwort: Durch beides.
  Als Gott die Welt schuf, als er sich selbst vergoß, ausströmte, sich mitteilte, von Einem in Vieles verwandelte, da geschah es aus Liebe. Und als er den Menschen schuf, sich selbst zum Bild, ganz gleich, da teilte er ihm auch eines mit: Den Funken der Vernünftigkeit. Der Mensch ist kreatürlich, geschaffen, und die Liebesempfindung ist Teil dieser Geschaffenheit, denn sie ist Gefühl, Mensch und Tier gemein, aber der höchste Teil der menschlichen Seele, Eckhart nennt dies das Seelenfünklein, dieser Teil ragt in Gott hinein, ist unmittelbarer Teil Gottes, nicht geschaffen, sondern von Gott geboren als sein Sohn. Am nächsten steht in der Ordnung der Seele diesem Teil seines Wesens der Verstand, der ihn von allem anderen Geschaffenen unterscheidet. Man kann Gott also über die Mittel des Verstandes erfassen, man kann ihn erkennen; aber bei ihm bleiben, festhalten an ihm kann dieser Teil des menschlichen Geistes nicht; dazu braucht es die Liebe. Nur wer Gott erkennt und ihn liebt, der kann wahrhaft zu ihm gelangen und bei ihm bleiben. Wichtig dabei ist noch eines: Indem Gott sich selbst ausspricht, schafft er die Welt. Gott spricht sich aus und damit den Sohn (logos-Theologie). Gott spricht – und das Wort, das er spricht, ist etwas in ihm und eins mit ihm, aber auch etwas Neues, es ist sein Wort und doch etwas zweites. Der Sohn. Gott selbst gebirt seinen Sohn, indem er ihn spricht. Gott spricht Christus in die Welt hinein: "Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott". Das Eine ist Zwei geworden und doch Eines geblieben. Das zu verstehen, ist nicht einfach, sagt Eckhart. Aber wer es versteht, der habe seine Theologie verstanden. Christus wird Mensch, er wird nicht irgendein Mensch, sondern Mensch wie wir. Er nimmt die, so heißt es bei Eckhart, "allgemeine Menschennatur" an. Er wird Mensch wie wir, unser Bruder. Das aber heißt, konsequent zu Ende gedacht, daß wir alle Gottes Kinder sind, wie Christus. Eckhart sagt: "Gott gebirt sich selbst. Er gebirt sich in mich hinein. Wir alle sind Gottes Kinder, gleichgültig, ob wir Christen, Heiden oder Juden sind." Jeder Mensch, fährt Eckhart fort, ist Gottes Kind und als Gottes Kind hat er die Möglichkeit, mit dem Vater vereint zu sein. Im obersten Teil seiner Seele, im 'Seelenfünklein' ragt er immer in Gott hinein, ist er immer Bestandteil Gottes und hört nie auf, es zu sein. Insofern ist bei Eckhart jeder Mensch Gottessohn – wie Christus.
  Und damit sind wir beim vierten (und letzten) Punkt von Eckharts Programm: Der Klarheit und Reinheit der göttlichen Natur, die unaussprechlich sei und ungesprochen bleibe. Von der logos-Theologie und der Vorstellung von Gottes Sohn als Wort des ewigen Vaters war schon die Rede. Wir müssen uns jetzt fragen, wie sich Eckhart die Schöpfung, das Verhältnis des Schöpfers zu den Kreaturen, des Vaters zu seinem Sohn vorstellt. Mystik, haben wir gesagt, trägt immer den Wunsch in sich, zum Einen, zum Alleinigen zurückzukehren. Dem entsprechend bedeutet Schöpfung den Ausfluß, das Sich-Ergießen des Einen aus sich selbst hinaus ins Viele (man spricht von Emanation). Das klingt kompliziert und ist doch einfach: Es gibt Eines. Ein Einziges. Die Gottheit. Dieses Eine wird sich seiner selbst bewußt, indem es sich ausspricht. Es ist nicht nur. Es denkt. Es erkennt sich selbst. Und es denkt sich selbst. Es spricht sich aus. "Ego sum qui sum", sagt Gott. Aber indem er dies ausspricht, ist da sein Wort. Eins mit Gott und doch verschieden. Und damit hat Gott seinen Sohn aus sich selbst heraus hervorgebracht. Er strömt weiter. Gott strömt aus und schafft so die Welt und den Menschen. Der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen, er ist Gottes Spiegelbild. Stellen wir uns einen Spiegel vor und das Bild, das sich darin abzeichnet. So ist, sagt Eckhart, der Mensch Spiegelbild Gottes. Die Kreatur ist geschaffen: Der Spiegel. Aber ist das Spiegelbild Gottes geschaffen? Sind wir nicht – rein als Spiegelbild betrachtet – Gott gleich? Schauen wir nicht den Spiegel an, sondern betrachten uns nur als Spiegelbild, so sind wir in der Lage unsere Gottesebenbildlichkeit zu erkennen, mehr noch: Unsere Gottgleichheit. Und damit sind wir wieder beim Anfang: Dann, wenn der Mensch alles Kreatürliche, alles Geschaffene, alles Weltliche in sich ablegt (den Spiegel), erkennt er, daß er ganz nah bei Gott, in Gott, Gott selbst ist. So, wie wir aus Gott ausgeflossen sind, so können wir also in ihn zurückfließen. Diese Möglichkeit, in Gott zurückzukehren, besteht für jeden, überall, immer. Und zwar deswegen, weil Gott die Welt nicht zu irgendeinem Zeitpunkt geschaffen und vollendet hat, sondern weil er sie immer schafft. Der Mensch, das Geschöpf, die Kreatur, die Welt, all dies ist Nichts, weil es nur ein Spiegelbild ist, ein trüber Schatten des wahren Seins. Eine flüchtige Illusion. Es erhält sein Sein nur dadurch, daß Gott vor dem Spiegel steht und sein Bild in ihn wirft. Würde Gott sich auch nur einen Moment abkehren, wo wäre das Bild? Ein reines Nichts. Oder um es anders zu sagen: Gott hat die Welt, die Kreaturen, er hat den Menschen nicht irgendwann erschaffen, vollendet und dann losgelassen, er schafft sie jeden Augenblick neu. Er hält sie in der Hand. Die Welt, die Kreatur, der Mensch – all dies ist nichts ohne Gott. Nur durch ihn bekommt alles jeden Moment neu sein Sein. So erschafft Gott die Welt in jedem Augenblick und hat sie doch ewig erschaffen. Die Schwierigkeit besteht darin, daß die Wahrheit, die Reinheit und Lauterkeit Gottes (auf der anderen Seite des Spiegels) für das Spiegelbild ewig unerreichbar bleibt. Denn wir sind Gottes Bild (aber eben nur als Abbild), sein eigentliches Sein bleibt uns unerreichbar. Die menschliche Sprache ist nie in der Lage die Vollkommenheit Gottes zu "be-sprechen". Gott ist jenseits unserer Sprache. Alles, was wir von Gott sagen können, ist unzureichend, nicht ausreichend, nicht hinlänglich. Unsere Sprache ist unvollkommen vor der göttlichen Einfaltigkeit. Und deshalb ist Gott unaussprechbar. Man nennt das "theologia negativa". Alles, was man von Gott sagen kann und mir vorstellen kann, ist Teil unserer Sprache, ist Teil dieser Welt. Gott aber ist nicht von dieser Welt. Alles, was man damit über ihn sagen kann, trifft ihn nicht. Gott bleibt dunkel, unerkannt, ein Geheimnis. Ewig unaussprechlich. Und doch kreist menschliche Sprache und menschliches Denken um ihn. Im unaufhörlichen (nie zu Ende zu bringenden) Versuch, ihn zu benennen. Man kann ihn erkennen (wissen, daß es ihn gibt) mit dem Verstand, man kann ihn lieben und an ihn glauben. Mit den Mitteln der Sprache beschreiben kann man ihn nie. Und doch muß man gerade das immer wieder versuchen. Es gibt aber, so wußte Meister Eckhart, Momente im menschlichen Sein, in denen man Gott ganz nahe kommt, in denen man zu ihm "durchbricht", in denen man – dann, wenn man ganz tief bei sich selbst ist und sich deshalb selbst vergessen kann – plötzlich weiß, daß Gott im Menschen ist.
  Und damit haben Eckharts mittelhochdeutschen Worte abegescheidenheit, ledic sîn selbes, einvaltiges guot, edelkeit der sêle, lûterkeit götlicher natûre bis heute ihre Aktualität behalten. Dass seine Predigten auch in ganz anderen Zusammenhängen als "große Werke der Literatur" gelten können, das will "erlesen" werden... [es folgen Literaturhinweise].

Inklusen
  (Reklusen, Klausner), Männer und Frauen, die sich freiwillig in eine sich an Kirchen, Stadtmauern oder Brücken anlehnende Klause (reclusorium) einmauern ließen, um sich ganz dem religiösen Leben und der Union mit Gott (vita angelica) widmen zu können, manchmal nur für eine befristete Zeit, z.B. am Anfang eines geistlichen Lebens, meistens [aber] auf Lebenszeit. Das Inklusentum entstand als eine spezifische Art des frühchristlichen Eremitentums in Ägypten und Syrien. Es unterscheidet sich vom Einsiedler- und Anachoretentum insofern, als der Inkluse die Einsamkeit der Klause (solitudo) und die stille Meditation wählt, während der Einsiedler weltferne Einsamkeit (desertum) und Askese, eventuell innerhalb einer Eremitengemeinschaft, erstrebt.
  In der Ostkirche war das Inklusentum bis weit in die Neuzeit hinein eine beliebte Form der Selbstheiligung, in die Westkirche fand es im 4. Jahrhundert Eingang. Ließen sich im Frühmittelalter Männer und Frauen einmauern, so waren es im Spätmittelalter vorwiegend Frauen, die - zumindest in Nordwesteuropa - der religiösen Bewegung angehörten, zu der die Beg(h)inen und die »mulieres religiosae« der neuen Orden zählten. Da alle in den Quellen in(re)clusae oder conversae gen. werden, ist eine Unterscheidung schwierig. Die Kirche hat das Inklusentum anerkannt.
  Anwärter brauchten die Zustimmung der kirchlichen Obrigkeit und wurden mit kirchlichem Zeremoniell eingemauert. Dieses Ritual enthielt Elemente der Totenmesse. Normalerweise unterstand der Inkluse dem zuständigen Pfarrer. Wenn er Mitglied eines Ordens war, blieb er diesem unterstellt. Viele Frauen traten im Spätmittelalter mit ihrer Einmauerung einem dritten Orden bei. Die Kirche hat immer versucht, das Inklusentum in das Mönchsleben einzugliedern. Deshalb wurde schon auf frühmittelalterlichen Konzilien bestimmt, daß Interessenten ein dreijähriges Noviziat im Kloster verbringen sollten. In karolingischer Zeit schrieb der Mönch Grimlaic eine »Regula Solitariorum«, die wie die kanonischen Anordnungen nie allgemein anerkannt worden ist.
  Aus dem Hoch- und Spätmittelalter sind zahlreiche Briefe und Traktate von Äbten und Seelsorgern erhalten, die Lebensregeln vergleichbar sind. Betont wurde, daß Inklusen sich nur der Bußübung und dem Gebet widmen, demütig sein und Kontakte mit der Außenwelt meiden sollten. Volkserzählungen und Exempla (Caesarius von Heisterbach) wie auch wiederholte Ermahnungen zeigen jedoch, daß viele Inklusen diese Regel nicht beachteten. Eine große Anzahl der Inklusen wurde heilig gesprochen. A.B. Mulder-Bakker, [LdM V Sp. 426 f.] [23.5.06]

1 Der wiedergegebene Text entspricht dem Abdruck: Freimut Löser, Meister Eckharts Deutsche Predigten, in: Hans-Vilmar Geppert (Hg.), Große Werke der Literatur IX., francke Tübingen / Basel 2005, S. 35-45, hier: S. 39-45. Ich danke Professor Löser für die Übersendung des digitalen Textes.
  Der Vortrag wurde erstmals im Rahmen einer kirchlichen Fortbildung in Lösers damaliger eigener Kirchengemeinde im kleinen fränkischen Rottendorf 2003 und dann im Rahmen einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg 2004/2005 gehalten. Ich habe dem Auszug (der Anfang S. 35-39 ist hier ausgelassen) einen neuen Titel gegeben, da dieser mir passender erscheint als die Überschrift des gesamten Vortrags.