Expositio cantici canticorum Cap. 1,6 1

hohelied
Fragment
Edition
Verweise aus In. Gen. II n. 139 und n. 152
Anmerkungen
Beschreibung
Datierung

Du, den meine Seele liebt, zeige mir , 'wo ruhst du?', 'wo weidest du zur Mittagszeit?', damit ich nicht anfange umherzuschweifen.
  1 Die Braut sucht, wenn alles und alle sie verlassen haben, es vom Wort selbst zu erfahren, und sagt: zeige mir, das heißt, sage es mir innerlich, denn nach Augustin spricht die Wahrheit innerlich im Haus des Denkens.
  Zeige mir, denn nur die inneren Kräfte sind mehr aufnahmefähig.
  Zeige mir, denn äußere Worte nützen da nichts.
  Drittens: zeige mir, damit das, was in sich am meisten bekannt ist, nicht verdunkelt wird, wenn es in äußere Laute übertragen den Hörenden täuscht.

Den meine Seele liebt.

2 Die Braut nennt ihn nicht beim Namen, denn sie weiß, daß er alle Namen überschreitet.
  Zweitens: sie glaubt, wie alle Liebenden es tun, jeder kenne den Namen dessen, von dem sie spricht.
  Drittens: Liebe hat keinen Grund, Namen zu nennen.
  Viertens: ganz von Liebe erfüllt, versteht sie es nicht, daß man über die Liebe redet.
  Fünftens: sie glaubt nicht, daß er einen Namen hat, weil er über alles liebenswert ist.
  Sechstens: sie sagt nicht: 'der mich liebt'; denn es ist besser zu lieben als geliebt zu werden, und darin besteht die eigentliche Tat der Liebe, wie aus dem zweiten Teil des zweiten Teils (1) hervorgeht.
  Ferner: den meine Seele liebt; nicht der Leib auf leibliche Weise oder wegen des Leiblichen, sondern die Seele liebt, auf geistige Weise und wegen des Geistlichen.
  Das behandle nach bewährter Art.

Wo ruhst du?
  3 Er ruht im Schoß des Vaters durch die ewige Geburt, in der Mutter durch die Menschwerdung, im Geist des Engels durch die göttliche Erleuchtung, in den Geschöpfen durch die Erhaltung.
  Behandle das nach bewährter Art.

Wo weidest du?

4 [Active] 'Auf den Bergen Israels' etc. (2)

Wo weidest du?
  [Passive] 'Unter Lilien' (ist die Weide des Geliebten), wie es bekanntlich im Hohen Lied (2,16; 6,2) heißt.
  Zur Mittagszeit, damit ich nicht anfange umherzuschweifen.
  Anderes darüber findet sich in Augustins Buch Vom freien Willen: "Weh denen, die dich, das Licht verlassen und auf deinen Wegen umherirren".

Anmerkungen
1 der theologischen Summe, Frage 27, Artikel 1 des Thomas von Aquin
2 Die Worte in eckigen Klammern bleiben bei Fischer unübersetzt, befinden sich aber im lateinischen Text an dieser Stelle.

  Der Text Eckharts entspricht (inkl. Nummerierung) dem Abdruck in: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Die lateinischen Werke, Kohlhammer Stuttgart 1992, S. 637-639. Die Texteinschübe und Verweise auf Bibelstellen Fischers in () sind etwas eingerückt. [14.10.05]

Edition
  Expositionis Cantici Canticorum, nach dem Tod von Josef Koch herausgegeben und übersetzt von Heribert Fischer, LW 2, S. 636-639.

Beschreibung
  Dieses Fragment findet sich in der Handschrift C (aus der Bibliothek des Nikolaus von Kues, 1444) auf Blatt 170vb nach einem Zwischenraum von zwei Zeilen hinter dem letzten Sermo de sanctis. Das Stück ist zwar von demselben Kopisten geschrieben, dem wir die ganze Hs. C verdanken; man sieht aber deutlich, daß es erst später in den freien Raum der Spalte eingetragen worden ist. Aus diesem Fragment hat Johannes Trithemius (1462-1516, De scriptoribus ecclesiasticis, Basileae 1494) auf die Existenz einer Expositio in Cantica Canticorum geschlossen. Das Stück selbst sieht freilich mehr nach einem Predigtentwurf aus (wobei es fraglich ist, ob es echt ist); andererseits verweist Eckhart gelegentlich nicht undeutlich auf eine Auslegung von Cant. 7,10, die in dem uns bekannten Material nicht enthalten ist. [Koch, lat. Werke, S. XVIII]

  Bei den Verweisen, die Koch anführt, handelt es sich um die beiden folgenden (ich zitiere ein bißchen ausführlicher):

1. Exp. in Gen. II n. 139:
Der oberste Teil unserer Seele ist aber der Verstand. Daher sagt Maimonides im vorletzten Kapitel seines ganzen Werkes: "der Verstand, der über uns ausgegossen ist" - 'aufgeprägt ist uns das Licht deines Antlitzes, o Herr' (Ps. 4,7) - dieser Verstand, sage ich, ist es, "der uns mit dem Schöpfer verbindet". Und Gott, der Schöpfer, "blickt in ebendemselben Licht auf uns und ist immer bei uns, wie David sagt: 'in deinem Licht werden wir das Licht schauen'" (Ps. 35,10). Und Augustin sagt, daß die obere Vernunft immer auf die unveränderlichen Regeln über sich in Gott gerichtet ist, ihnen anhängt, mit ihnen verbunden ist und sie schaut nach dem Wort: 'ich habe meine Seele über mich hinaus ausströmen lassen' (Ps. 41,5 nach Augustins Text). Und im 10. Buch seiner Bekenntnisse Kapitel 26 sagt Augustin: "wo fand ich dich und lernte dich kennen, wenn nicht in dir über mir?" Diese Hinordnung aufeinander und der Blick, der zwischen Gott und dem obersten Seelenteil hin und her geht, ist (für die Seele) ganz natürlich, ist voller Wahrheit und voller Süße, denn er ist (ihr) ganz angemessen und gegründet in der Wurzel und Quelle alles Guten, nämlich in der Ordnung, nach dem Wort: 'deine Stimme erklinge in meinen Ohren, denn deine Stimme ist süß', und: 'meine Seele zerfloß, da mein Geliebter sprach' (Hohel. 2,14; 5,6); 'selig die Gottes Wort hören' (Luk. 11,28). Auf diesem Zwiegespräch des Höchsten in uns, das Gottes Bild ist, mit Gott und Gottes mit ihm beruht, wie es scheint, das ganze Hohelied und handelt von ihm. Denn dieses Gespräch wird zwischen dem Heiligen und dem Allerheiligsten, zwischen dem Heiligen und der Heiligkeit, zwischen dem Guten und der Gutheit, zwischen dem Gerechten und der Gerechtigkeit geführt, wie ich in der Auslegung jenes Buches gesagt habe. [LW 3, S. 606 f.]

2. Exp. in Gen. II n. 152:
'Mein Geliebter spricht mit mir'; und weiter unten: 'mein Geliebter ist mein, und ich bin sein'; 'ich gehöre zu meinem Geliebten, und mir wendet er sich zu' (Hohel. 2,10.16; 7,10). Ebenso verhält es sich mit allen andern Seelenvermögen, sowohl den sinnlichen als auch den geistigen. Alle Dinge sprechen um so süßer zu ihnen, je mehr sie im Innern (der Seele) sprechen und je erhabener (ihre Weise ist). So (sprechen sie) durch ihre Wahrheit zum Verstand, durch ihre Gutheit zum Willen. Das möge zum Verständnis der Worte, um die es sich hier handelt, und vieler anderer in beiden Testamenten der Heiligen Schrift genügen. Auf Grund dieser (Darlegungen) kann besonders das ganze Hohelied dem Wortsinn nach lichtvoll ausgelegt werden, wie ich ebenda bemerkt habe. [LW 3, S. 622 f.]

  Ernst Reffke, der sich sehr intensiv mit den Verweisen im lateinischen Werk Eckharts beschäftigte, merkt dazu an:
  "Eine Ausnahmestellung unter den nicht identifizierbaren Verweisen nehmen die auf die Auslegung des Hohenliedes ein, weil Eckhart hier ausdrücklich von einer Auslegung des ganzen Buches spricht. Erkennt man weiter, daß Eckhart an dieser Stelle überhaupt die Grundsätze einer Auslegung des Hohenliedes entwickelt, während er sonst nie auf einen Kommentar oder auch nur eine einzelne Auslegung zum Hohenlied verweist, so möchte man annehmen, daß sich an dieser Stelle die Keimzelle eines Kommentars zum Hohenlied befindet, von dessen Ausführung uns allerdings nichts bekannt geworden ist, denn das in seiner Echtheit umstrittene kleine Fragment im Cod. Cus. 21 f. 170vb wird man kaum als Zeugen anführen können. Schon die knappen in den Verweisen gegebenen Andeutungen über die Art der Auslegung dieses Textbuches der mystischen Theologie par excellence zeigen, daß der Meister in seiner Behandlung eigene Wege geht und das Hohelied nicht in der Weise der berühmten Sermones in Cantica Canticorum des Bernhard von Clairvaux und der sich an diesen bis zu den Mystikern des 17. Jahrhunderts anschließenden Tradition auslegt. Das Hohelied ist für Eckhart keine Allegorie des Verhältnisses der Seele oder der Kirche zu Christus, keine verhüllte Beschreibung der mystischen Technik, sondern das Geheimnis des Buches erschließt sich ihm durch eine Auslegung, die die Seelenmetaphysik des Meisters aus den Worten des Hohenliedes herauszuheben versteht. Um so mehr ist zu bedauern, daß dieser Kommentar entweder nicht ausgeführt oder verlorengegangen ist." [Reffke, S. 60]

Datierung
  In Anbetracht der Tatsache, daß die beiden einzigen Verweise nur in einem Buch (Gen. II) erscheinen und da quasi direkt hintereinander, scheint die Annahme Reffkes, daß Eckhart hier eigentlich erst die Idee zu einer Auslegung gekommen ist - was er dann in der bei ihm bekannten Art formulierte, als hätte er bereits geschrieben, was er noch zu schreiben beabsichtigte (jedenfalls scheint es heute common sense zu sein, daß die meisten Verweise eher Absichtserklärungen darstellten, als Bezüge zu tatsächlich fertiggestellten Büchern) -, berechtigt. Vielleicht hatte Eckhart dann mit einer Auslegung des Hohenliedes begonnen (das Fragment scheint das zu bestätigen) bzw. mit einer Art Inhaltsverzeichnis zur Auslegung, wobei er sich Notizen machte, worauf es ihm ankam: "Behandle das nach bewährter Art". Dabei muß es sich nicht um einen Predigtentwurf handeln, sondern kann allgemein als Entwurf verstanden werden, sofern man es nicht als Aufforderung an einen Schüler verstehen will. Da nun aber nichts weiter überliefert ist als die beiden Verweise und das Fragment, wäre es sehr unwahrscheinlich, wenn Eckhart tatsächlich eine Expositio in Cantici Canticorum geschrieben hätte - weshalb auch das Fragment besser mit Entwurf zu einer Auslegung betitelt wäre.
  Was nun die Datierung betrifft, so ist es wohl angebracht, das Fragment im direkten Zusammenhang mit den Verweisen und der Arbeit am Liber parabolarum Genesis zu betrachten, d.h. der Entwurf entstand währenddessen und blieb dann so, wie er heute bekannt ist. Da aber bisher nicht bekannt ist, wann der Liber parabolarum begonnen (die Chronologie schätzt ab 1313) und wann er beendet wurde, und in Anbetracht von Eckharts Arbeitsweise, die zu kommentierenden Bücher eben nicht vom ersten bis zum letzten Vers durchzuarbeiten, kann die Entstehung des vorliegenden Textes vorerst nur vage auf den Zeitraum von ca. 1313 bis 1327 eingegrenzt werden.